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Informationen zum Dokument  BGE 100 Ib 383  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Erwägungen:
1. Nach Art. 97 Abs. 1 OG beurteilt das Bundesgericht letztinstan ...
2. Der Beschwerdeführer macht geltend, dass die Beschlagnahm ...
3. Art. 36 Abs. 4 ZG, der die Rechtsgrundlage für den angefo ...
4. a) Das Bundesgericht hat in seinem Urteil vom 3. März 197 ...
5. Zum Entscheid in der Sache berufen, fallen für die Bundes ...
6. Im vorliegenden Fall beabsichtigt der Beschwerdeführer, 5 ...
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68. Urteil vom 8. November 1974 i.S. Wiesner gegen Eidg. Justiz- und Polizeidepartement
 
 
Regeste
 
Art. 36 Abs. 4 ZG, Art. 55 ZV: Beschlagnahme von Veröffentlichungen und Gegenständen unsittlicher Natur, die bei der Zollrevision entdeckt werden.  
- Begriff der "Veröffentlichungen und Gegenstände unsittlicher Natur" und Abgrenzung zum Begriff der "unzüchtigen Veröffentlichungen" im Sinne von Art. 204 StGB.  
- Massnahmen, welche die Bundesanwaltschaft bei zollrechtlich beschlagnahmten Veröffentlichungen und Gegenständen unsittlicher Natur im Einzelfall treffen kann; Grundsätze der Gesetz- und Verhältnismässigkeit sowie der verfassungskonformen Auslegung.  
 
Sachverhalt
 
BGE 100 Ib, 383 (383)Die Schweizerische Zollverwaltung beschlagnahmte am 3. September 1971 in Kreuzlingen-Emmishofen vorläufig und gestützt auf Art. 36 Abs. 4 des Bundesgesetzes über das Zollwesen BGE 100 Ib, 383 (384)vom 1. Oktober 1925 (ZG) eine an die Verlagsauslieferung Robert Fasler in Zürich adressierte Sendung von fünfhundert Exemplaren des chinesischen Romans "Dschu-Lin Yä-schi" (nachfolgend DLYS), der in deutscher Übersetzung im Verlag "Die Waage" Zürich erschienen und in Hamburg von der Offizin Paul Hartung gedruckt worden war. Von der vorläufigen Beschlagnahme gab die Eidg. Oberzolldirektion der Bundesanwaltschaft Kenntnis. Nach einem langwierigen Untersuchungsverfahren verfügte die Bundesanwaltschaft am 3. Oktober 1972 die definitive Beschlagnahme und entzog einer allfälligen Beschwerde gegen ihre Verfügung die aufschiebende Wirkung. Der betroffene Verleger beschwerte sich über die Beschlagnahme beim Eidg. Justiz- und Polizeidepartement (EJPD). Dieses wies die Beschwerde am 16. Mai 1973 ab, weil es den Roman DLYS als unsittlich im Sinne von Art. 36 Abs. 4 ZG qualifizierte.
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Gegen diesen Entscheid richtet sich die vorliegende Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Der Beschwerdeführer beantragt, der Entscheid des Departements sei aufzuheben und der Roman DLYS freizugeben; eventuell sei die Freigabe mit Auflagen zu versehen, die weniger weit gehen als die Beschlagnahme des Romans.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde in dem Sinne gut, dass es den angefochtenen Entscheid aufhebt und die Sache zur Neuentscheidung an die Bundesanwaltschaft zurückweist.
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Erwägungen:
 
1. Nach Art. 97 Abs. 1 OG beurteilt das Bundesgericht letztinstanzlich Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Verfügungen im Sinne von Art. 5 VwG. Als solche gelten Anordnungen der Behörden im Einzelfall, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen und u.a. Begründung, Änderung oder Aufhebung von Rechten und Pflichten zum Gegenstand haben. Der angefochtene Entscheid des EJPD stellt eine Verfügung im Sinne dieser Bestimmung dar. Er stützt sich auf die eidgenössische Zollgesetzgebung und stammt von einem Departement des Bundesrates (Art. 98 lit. b OG). Wiewohl die Parteien das Problem der Zuständigkeit des Bundesgerichtes nicht aufwerfen, die Frage der Zulässigkeit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde somit unbestritten ist, muss von Amtes BGE 100 Ib, 383 (385)wegen geprüft werden, ob einer der in den Art. 99 bis 102 aufgezählten Unzulässigkeitstatbestände zutrifft. In Betracht fällt namentlich Art. 100 lit. f OG. Diese Bestimmung schliesst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde aus, wenn es sich bei der angefochtenen Massnahme um eine Verfügung auf dem Gebiete der Strafverfolgung handelt. Die Frage wurde in einem früheren Urteil (2. März 1973, in BGE 99 Ib 66 nicht publizierte Erwägung 1) ohne nähere Begründung verneint.
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Die von der Bundesanwaltschaft gestützt auf die Bestimmungen der eidgenössischen Zollgesetzgebung (Art. 36 Abs. 4 ZG und Art. 55 Abs. 2 Verordnung zum Zollgesetz vom 10. Juli 1926; ZV) angeordnete und vom EJPD bestätigte "endgültige Beschlagnahme" ist keine Massnahme, die unmittelbar der Strafverfolgung dient. Wie die Beschlagnahme aufgrund des BRB betreffend staatsgefährliches Propagandamaterial vom 29. Dezember 1948 oder ähnlich der Beschlagnahme durch die Postverwaltung gemäss Art. 25 Abs. 1 lit. b PVG, hat die Verfügung der Bundesanwaltschaft über die definitive Beschlagnahme von Gegenständen oder Veröffentlichungen, die sich bei der Zollkontrolle als unsittlicher Natur erweisen und deshalb vorsorglich und unter Meldung an die Bundesanwaltschaft zurückbehalten worden sind, administrativen Charakter. Es handelt sich um eine selbständige Massnahme des Verwaltungsrechts, die - wie die nachfolgenden Erwägungen erhellen - ohne Rücksicht auf eine allfällige Strafverfolgung angeordnet wird.
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Der Unzulässigkeitsgrund des Art. 100 lit. f OG trifft demnach auf die hier angefochtene Massnahme nicht zu, weshalb auf die Beschwerde einzutreten ist. Wie weit die einzelnen Rügen zu hören sind, ist nicht hier, sondern im Rahmen der Sachprüfung zu entscheiden.
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BGE 100 Ib, 383 (386)Diese letzte Rüge ist - weil offensichtlich unbegründet - vorab zu beurteilen. Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren können die Parteien eine Aktenergänzung vornehmen. Der Beschwerdeführer hätte es in der Hand gehabt, vor Ausarbeitung der Replik Einsicht in diese Aktenstücke zu verlangen, die überdies für das vorliegende Verfahren ohne Bedeutung sind. Anderseits handelt es sich bei den "anonymen Gutachtern" gar nicht um Gutachter im Sinne des geltenden Verwaltungsprozessrechtes, sondern lediglich um Meinungsäusserungen zu einer Rechtsfrage, die der Richter selbst entscheiden muss. Diese Meinungsäusserungen sagen dem Richter nicht mehr, als wie anonym gebliebene Personen über ein bestimmtes Problem denken oder eine Publikation werten.
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Damit stellen sich grundsätzlich zwei Fragen, die auf dem Wege der Auslegung zu beantworten sind: Einerseits ist klarzustellen, was unter dem Begriff der Veröffentlichungen und Gegenstände "unsittlicher Natur" zu verstehen ist; anderseits ist zu entscheiden, was mit den ob ihrer "unsittlichen Natur" vorsorglich beschlagnahmten Gegenständen zu geschehen hat. Bei der Beantwortung dieser beiden Fragen ist Art. 36 Abs. 4 ZG in erster Linie aus sich selbst, d.h. nach seinem Wortlaut, Sinn und Zweck sowie nach den ihm zugrunde liegenden Wertungen auszulegen; die Entstehungsgeschichte der Norm kann dabei ein wertvolles Hilfsmittel sein, den Sinn der Norm zu erkennen und damit falsche Auslegungen zu vermeiden (BGE 100 II 57 mit Hinweisen).
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4. a) Das Bundesgericht hat in seinem Urteil vom 3. März 1973 (BGE 99 Ib 67) hervorgehoben, dass es sich beim Begriff "unsittlicher Natur" um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt. Das Vorliegen dieses unbestimmten Rechtsbegriffes räumt aber der Verwaltung bei der Auslegung des Art. 36 Abs. 4 ZG keinen Beurteilungsspielraum ein, der die Kognition des Richters einschränken würde. Der Richter ist nämlich - ebenso wie die Verwaltung - in der Lage, den BGE 100 Ib, 383 (387)Begriff des Unsittlichen mit hinreichend bestimmtem Rechtsgehalt zu füllen und ihm den dem Willen des Gesetzgebers entsprechenden Sinn zu geben. Er ist daher in der Beurteilung der Rechtsfrage, ob ein Gegenstand oder eine Veröffentlichung unsittlicher Natur im Sinne von Art. 36 Abs. 4 ZG zu werten ist, frei (BGE 99 Ib 67).
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b) Die Bestimmung des Art. 36 Abs. 4 ZG war im Entwurf des Bundesrates vom 4. Januar 1924 noch nicht enthalten (vgl. BBl 1924 I 69 ff.). Das Thema der Beschlagnahme unsittlicher Veröffentlichungen taucht erstmals auf in der nationalrätlichen Kommission. Damals war das internationale Übereinkommen vom 12. September 1923 zur Bekämpfung der Verbreitung und des Vertriebes von unzüchtigen Veröffentlichungen in frischer Erinnerung und das Bundesgesetz vom 30. September 1925 betreffend die Bestrafung des Frauen- und Kinderhandels sowie des Vertriebes von unzüchtigen Veröffentlichungen in Vorbereitung. Das EJPD wünschte - im Blick auf diese Regelungen - im Zollgesetz eine Handhabe zur Verhinderung der Einfuhr solcher Dinge über die Grenze. Der Nationalrat stimmte auf Antrag seiner Kommission der heutigen Fassung des Art. 36 Abs. 4 ZG zu (StenBull NR 1925 S. 75 f.). Im Ständerat wollte die vorberatende Kommission den Begriff der "unsittlichen" Veröffentlichungen ersetzen durch "unzüchtige" Veröffentlichungen. Sie suchte die Übereinstimmung zum Text des internationalen Abkommens und des in Vorbereitung befindlichen Strafgesetzes und wollte den allgemeinen Begriff "unsittlich" vermeiden. Der Rat wog ausdrücklich die beiden Formulierungen gegeneinander ab und bekannte sich mehrheitlich zum Begriff "unsittlich", den er als etwas weiter als den Begriff "unzüchtig" verstand. Er tat dies, um - wie sich ein Votant ausdrückte - "soweit möglich ist, diesen Dingen schärfer auf die Eisen gehen zu können". Der Ständerat stimmte deshalb der vom Nationalrat gewählten, heute geltenden Fassung zu (StenBull StR 1925 S. 225 f.). In der Folge bemühten sich die zuständigen Behörden des Bundes um die Festlegung einer Praxis. Insbesondere tat dies das EJPD bei der Behandlung von Beschwerden gegen Beschlagnahmeverfügungen der Bundesanwaltschaft gemäss Art. 36 Abs. 4 ZG, wobei letzte Instanz bis zum 1. Oktober 1969 der Bundesrat war. Als unsittlich im Sinne dieser Bestimmungen erachteten die Bundesbehörden jene Druckschriften, die das Schamgefühl BGE 100 Ib, 383 (388)in geschlechtlicher Beziehung verletzen und bei denen die Absicht des Herausgebers auf die geschäftliche Ausbeutung des Sexualinteresses erkennbar ist (so die Definition im Geschäftsbericht des Bundesrates von 1954 S. 231). Diese Begriffsbestimmung gleicht jener der damaligen Rechtsprechung zu Art. 204 StGB. Hier wie dort wird das Schamgefühl des normal empfindenden Bürgers in geschlechtlichen Dingen zum Ausgangspunkt genommen. Im Unterschied zur Anwendung des Art. 204 StGB wird jedoch bei der zollrechtlichen Beschlagnahme nicht vorausgesetzt, dass das Schamgefühl "in nicht leicht zu nehmender Weise" verletzt wird. Jede Verletzung, wenn sie als solche bei der Zollrevision klar zu erkennen ist, erfüllt den gesetzlichen Tatbestand und muss zur vorläufigen Beschlagnahme durch die Organe der Zollverwaltung unter Anzeige an die Bundesanwaltschaft führen.
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Diese durchaus sinnvolle Unterscheidung entspricht nicht nur dem unterschiedlichen Wortlaut, sondern auch den verschiedenen Zweckbestimmungen der beiden Vorschriften: Will Art. 204 StGB den Schutz der Öffentlichkeit auf repressivem Weg erreichen, so dient Art. 36 Abs. 4 ZG der Prävention. In der Erkenntnis, dass Gegenstände und Veröffentlichungen unsittlicher Natur, haben sie die Zollgrenze passiert, in ihrem Lauf nur schwer zu kontrollieren sind, soll die Einfuhr an der Grenze vorläufig, d.h. provisorisch unterbunden werden.
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Seinem historischen Werdegang, seinem präventiven Zweck und seinem Gehalte nach nähert sich der Begriff der Unsittlichkeit nach Art. 36 Abs. 4 ZG demjenigen von Art. 212 StGB. Auch dieser Begriff geht, dem Jugendschutzgedanken entsprechend, weiter als derjenige des Unzüchtigen nach Art. 204 StGB (vgl. hierzu Urteil des Kassationshofes vom 28. Mai 1971 i.S. Marti in BGE 97 IV 99 nicht publizierte Erwägung 3a). Das Bundesgericht ist daher in seinem Urteil vom 2. März 1973 zum Ergebnis gelangt, dass als unsittlich im Sinne von Art. 36 Abs. 4 ZG Veröffentlichungen und Gegenstände zu betrachten sind, die das Sittlichkeits- und Schamgefühl des normal empfindenden Erwachsenen verletzen und geeignet sind, die unreife Jugend durch Überreizung oder Irreleitung des Geschlechtsgefühls in ihrer sittlichen Entwicklung zu gefährden (BGE 99 Ib 67 f.).
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c) Dieser Begriff ist - entsprechend der aufgezeigten BGE 100 Ib, 383 (389)Zwecksetzung der Norm - sehr weit gefasst. Er muss es aber auch sein, denn er ist Richtlinie für die Zollbeamten, nach welcher diese bei der Revision zu entscheiden haben, ob eine Veröffentlichung oder ein Gegenstand zu beschlagnahmen ist oder nicht. Diese zollrechtliche Beschlagnahme hat aber von Gesetzes wegen bloss vorläufigen, d.h. provisorischen Charakter, auch dann, wenn die Bundesanwaltschaft einzig gestützt auf Verordnungsrecht (Art. 55 ZV) entscheidet, die zollrechtliche Beschlagnahme sei aufrechtzuerhalten. Sache der Bundesanwaltschaft und der ihr übergeordneten Rechtsmittelinstanzen ist es, nachträglich und endgültig darüber zu befinden, was mit den beschlagnahmten Gegenständen oder Veröffentlichungen zu geschehen hat. Dies ist denn auch der Sinn der gesetzlichen Anzeigepflicht der Zollverwaltung an die Bundesanwaltschaft. Allerdings schweigt sich das Gesetz darüber aus, welche Massnahmen die Bundesanwaltschaft ergreifen darf und ergreifen muss. Art. 36 Abs. 4 ZG weist hier eine Lücke auf; denn auf eine vorsorgliche und provisorische Massnahme - die zollrechtliche Beschlagnahme - muss notwendigerweise eine Verfügung folgen, die darüber befindet, was mit den beschlagnahmten Sachen zu geschehen hat. Der Betroffene hat einen Rechtsanspruch darauf, dass in der Sache ein endgültiger Entscheid ergeht.
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5. Zum Entscheid in der Sache berufen, fallen für die Bundesanwaltschaft verschiedene Massnahmen in Betracht: Sie kann die beschlagnahmten Gegenstände oder Veröffentlichungen freigeben ohne oder mit Auflagen und Bedingungen, u.a. unter der Auflage an den Importeur, die Wiederkäufer darauf aufmerksam zu machen, dass im Handel Art. 212 StGB zu beachten ist. Sie kann die Einfuhr verweigern und den Importeur veranlassen, dass die Sendung an den Absender im Ausland zurückerstattet wird mit Verbot der Wiedereinfuhr. Sie kann die Sache an den zuständigen Strafrichter überweisen mittels Strafanzeige wegen Einfuhr unzüchtiger Veröffentlichungen verbunden mit dem Begehren um Einziehung durch den Strafrichter gemäss Art. 204 StGB. Sie kann Klage beim zuständigen Strafrichter auf Einziehung ohne Bestrafung einer bestimmten Person erheben. Schliesslich fragt es sich, ob und unter welchen Bedingungen sie selbst Gegenstände oder Veröffentlichungen einziehen und vernichten kann.
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BGE 100 Ib, 383 (390)Richtlinien für die Wahl der im Einzelfall zu treffenden Massnahme lassen sich dem Gesetz, namentlich Art. 36 Abs. 4 ZG nicht entnehmen. Die Wahl ist daher nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Gesetzmässigkeit und der Verhältnismässigkeit von Verwaltungsmassnahmen zu treffen.
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a) Die weitest gehende Massnahme der Einziehung und Vernichtung der Gegenstände und Veröffentlichungen durch die Bundesanwaltschaft erscheint nur zulässig, wenn sie sich auf eine gesetzliche Grundlage stützen lässt und gemessen am verfolgten Zweck verhältnismässig ist. Die Bundesanwaltschaft anerkennt, dass die schweizerische Rechtssprache im allgemeinen zwischen "Beschlagnahme" und "Einziehung" unterscheidet. Das EJPD versucht aber darzutun, dass Art. 36 Abs. 4 ZG über seinen Wortlaut hinaus zur Einziehung und allfälligen Vernichtung von Gegenständen und Veröffentlichungen unsittlicher Natur ermächtigt. Es stützt seine Auffassung auf den Werdegang der Bestimmung. Die Entstehungsgeschichte zeigt, dass vorgängig des Erlasses des Zollgesetzes sich das Problem der Einziehung unsittlicher Veröffentlichungen im Postrecht gestellt hatte. Der Bundesgesetzgeber räumte der Postverwaltung dabei die sehr weitgehende Kompetenz ein, Sendungen unsittlicher Natur zu beschlagnahmen und zu vernichten (Art. 25 PVG). Mit der Einführung des Art. 36 Abs. 4 ZG wollte nun das EJPD für das Zollrecht eine entsprechende Ordnung schaffen wie im Postverkehrsgesetz, mit dem Unterschied, dass der Entscheid über die "Beschlagnahme" nicht bei den Zollbehörden belassen, sondern in die Hände der Bundesanwaltschaft gelegt würde. Zweck der Bestimmung sollte es sein, aufgrund allgemeiner polizeilicher Bestimmungen alle unzüchtigen Veröffentlichungen an der Grenze aufzuhalten. Im Parlament war man sich aber offenbar bewusst, dass damit der Bundesanwaltschaft eine sehr gewichtige Kompetenz eingeräumt würde. Stimmen wurden laut, dass sich die Beschlagnahme nur auf Sendungen beziehen sollte, die ohne Zweifel für die Verbreitung und den Handel bestimmt sind. Dies entsprach dem damals in Vorbereitung stehenden und vorne bereits erwähnten Bundesgesetz betreffend die Bestrafung des Frauen- und Kinderhandels sowie der Verbreitung und des Vertriebes von unzüchtigen Veröffentlichungen (Art. 4 Abs. 1), das wie das StGB in Art. 204 die Einfuhr unzüchtiger Veröffentlichungen nur für strafbar erklärt, BGE 100 Ib, 383 (391)sofern die Einfuhr zum Zwecke des Handels, der Verbreitung oder der öffentlichen Ausstellung dient. Dieser Werdegang des Art. 36 Abs. 4 ZG legt den Schluss nahe, dass hinsichtlich der Massnahmen, welche die Bundesanwaltschaft im Anschluss an die provisorische zollrechtliche Beschlagnahme zu verfügen hat, der Bundesanwaltschaft über den Wortlaut des Gesetzes hinaus die Kompetenz zuerkannt werden darf, Gegenstände oder Veröffentlichungen unsittlicher Natur allenfalls einzuziehen und zu vernichten. Dieses Konfiskationsrecht der Bundesanwaltschaft muss sich aber auf Gegenstände oder Veröffentlichungen beschränken, deren Einfuhr objektiv gesehen nach Art. 204 StGB strafbar ist.
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Doch lassen sich auch Fälle denken, in denen die Einfuhr objektiv nach Art. 204 StGB strafbar wäre, bei welchen aber das Gebot der Verhältnismässigkeit von Verwaltungsmassnahmen es als angezeigt erscheinen lässt, auf die Einziehung solcher Waren, die ja die Zollgrenze noch nicht passiert haben, zu verzichten und den Importeur lediglich anzuhalten, die Sendung an den Absender im Ausland zurückgehen zu lassen. Damit wird dem Zweck des Art. 36 Abs. 4 ZG jedenfalls genüge getan: Es wird verhindert, dass die Sendung die schweizerische Zollgrenze überschreitet.
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Die Bundesanwaltschaft ist bisher - wie sie selbst ausführt - weiter gegangen. Sie hat ein Einziehungs- und Vernichtungsrecht auch bei eingeführten Gegenständen und Veröffentlichungen bejaht, deren Einfuhr nach Art. 204 StGB nicht strafbar ist. Sie erachtet, dass sie Art. 36 Abs. 4 ZG auch zur Einziehung von Veröffentlichungen ermächtige, die zwar unzüchtig, aber nicht für den Handel, die Verbreitung und die öffentliche Ausstellung bestimmt sind, sowie für Veröffentlichungen, die nicht unzüchtig im Sinne des Vergehenstatbestandes von Art. 204 StGB aber unsittlich im Sinne des Übertretungstatbestandes von Art. 212 StGB sind. Eine derartige Ausweitung der verwaltungsrechtlichen Konfiskationsbefugnis findet jedoch weder im Wortlaut noch in der Entstehungsgeschichte des Art. 36 Abs. 4 ZG eine ausreichende Stütze. Diese Norm kann nicht dahingehend ausgelegt werden, dass dem Bund eine verwaltungsrechtliche Zensur- und Einziehungsbefugnis eingeräumt ist für Schriften, deren Einfuhr nicht strafbar ist.
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Die Bundesanwaltschaft wendet freilich ein, es werde Umgehungen BGE 100 Ib, 383 (392)Tür und Tor geöffnet, wenn ihre Einziehungsbefugnis sich auf Gegenstände und Veröffentlichungen beschränke, die nachgewiesenermassen zum Zwecke der Verbreitung oder des Handels oder der Ausstellung eingeführt würden. Die Sendungen würden einfach an verschiedene Private adressiert, um der Kontrolle zu entgehen. Diesem Einwand ist in dem Sinne Rechnung zu tragen, dass aus Art. 36 Abs. 4 ZG durchaus neben dem Recht zur Einziehung auch ein Recht zur beweissichernden Beschlagnahme abgeleitet werden kann. Die Zollbehörden sind - wie dargelegt worden ist - durchaus befugt, in jedem Falle, in dem sie auf eine unsittliche Veröffentlichung stossen, die Sendung vorläufig zu beschlagnahmen; die Bundesanwaltschaft kann diese Beschlagnahme im Sinne einer beweissichernden Massnahme bestätigen (Art. 55 ZV), wenn sie glaubt, Anhaltspunkte zu besitzen, dass die Sendung zusammen mit andern den Straftatbestand des Art. 204 StGB erfüllt. Ist damit zu rechnen, dass die Einfuhren über die Grenzen verschiedener Kantone erfolgen, so kann die Bundesanwaltschaft auch Ermittlungen nach Art. 259 BStP anordnen.
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b) Es fragt sich, welche Massnahme angemessen ist, wenn eine Veröffentlichung oder ein Gegenstand zwar nicht unzüchtig im Sinne von Art. 204 StGB ist, jedoch unsittlich im Sinne von Art. 212 StGB, d.h. eine Veröffentlichung zwar eingeführt, jedoch an Jugendliche unter 18 Jahren weder angeboten noch verkauft oder ausgeliehen sowie in Auslagen oder Schaufenstern, die von der Strasse aus sichtbar sind, nicht ausgestellt werden dürfen. Im Hinblick auf die erhebliche Bedeutung von Art. 212 StGB ergibt sich aus der Anwendung des Art. 36 Abs. 4 ZG nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit, dass die Bundesanwaltschaft die umstrittene Veröffentlichung zwar nicht einziehen und vernichten kann, sondern unter Auflagen an den Importeur freizugeben hat. Dem Importeur wird im Sinne einer Präventivmassnahme die Anweisung erteilt, es seien die Detaillisten darauf aufmerksam zu machen, dass die Veröffentlichung unter Art. 212 StGB fällt. Eine derartige Freigabe unter der Auflage, dass jedes einzelne Exemplar auf der Verpackung einen entsprechenden Hinweis tragen muss, der von den Buchhändlern und Kioskinhabern nicht zu übersehen ist, wird dem Sinn und Zweck des Art. 36 Abs. 4 ZG gerecht.
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BGE 100 Ib, 383 (393)c) Es sind auch Fälle denkbar, da eine gänzliche Freigabe ohne jedwelche Auflage angezeigt ist.
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Diese Möglichkeiten entsprechen der Verfahrensordnung des Art. 36 Abs. 4 ZG, wonach die Zollorgane bloss vorsorglich die Veröffentlichungen und Gegenstände, die ihnen unsittlicher Natur erscheinen, mit Beschlag belegen sollen und es der Bundesanwaltschaft übertragen ist, zu entscheiden, ob und allenfalls welche weiteren Massnahmen ergriffen werden müssen. Da der Begriff "unsittlicher Natur" - wie bereits erwähnt - weitgefasst ist, hängt es vom Masstab des einzelnen Zollbeamten ab, ob und wie weit er eine Sendung vorsorglich beschlagnahmen will. Sein Entscheid sollte in der Regel eher streng ausfallen, was sinnvoll ist, weil er nur vorsorglich verfügt. Aufgabe der Bundesanwaltschaft ist es alsdann, eine einheitliche Praxis durchzusetzen.
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6. Im vorliegenden Fall beabsichtigt der Beschwerdeführer, 500 Exemplare des umstrittenen Romans DLYS einzuführen, unbestrittenermassen zum Zwecke des Handels. Der Sinn des angefochtenen Entscheids geht dahin, nicht nur die vorläufige Beschlagnahme der Sendung zu bestätigen, sondern die ganze Sendung einzuziehen. Unter Berücksichtigung der eben dargelegten Grundsätze sind daher im folgenden die Rügen betreffend die Beschlagnahme und Einziehung der beanstandeten Sendung zu beurteilen. Dabei ist vorab zu prüfen, ob das umstrittene Buch wegen seiner Natur überhaupt Anlass zu einer vorsorglichen Beschlagnahme durch die Organe des Zolls Anlass geben konnte (nachfolgend lit. a); ist diese Frage zu bejahen, fragt sich in zweiter Linie, ob der Roman DLYS eindeutig als unzüchtig im Sinne von Art. 204 StGB zu qualifizieren ist und deshalb die Sendung eingezogen und gegebenfalls vernichtet werden darf (nachfolgend lit. b). Muss die zweite Frage verneint werden, ist schliesslich noch das Problem zu lösen, ob der Roman vorbehaltlos freigegeben werden kann, oder welche Auflagen allenfalls geboten sind (nachfolgend lit. c).
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a) Der Roman DLYS wird vom Herausgeber als ein "historischer Roman aus der Ming-Zeit (1580-1644 n. Chr.) mit erstaunlich taoistischen Liebespraktiken" bezeichnet. Das Buch enthält - so der Herausgeber - "die erstaunliche Lebensgeschichte des wunderschönen und liebeslustigen Mädchens BGE 100 Ib, 383 (394)Su-nngo". "Streng geschichtliche Überlieferung und taoistische Deutung durch den Erzähler verflechten sich zu einer Legende, die aus einer grossen und männerverführenden Schönheit, einer Schicksalsschwester der griechischen Helena, eine Art erotischen Vampirs macht. Durch bewusst erlernte Liebeskunst gelingt es dieser femme fatale, ihren männlichen Partnern so viel ihrer göttlichen Lebens- und Zeugungskraft, so viel ihres Yin zu entziehen, dass sie selbst davon die Unsterblichkeit und die Entrückung in den Himmel gewinnt, gerade als wieder einmal irdische Gerechtigkeit ihr zucht- und sittenloses Tun bestrafen wollte. Der Roman der Dame Djia ist also zugleich ein historischer Bericht aus grauer Vorzeit, eine erotische Geschichte mit vielen vergnüglichen Szenen, eine Art Kriminalroman und ein moralisch-religiöser Traktat über Sinn und Ziel der menschlichen Liebessehnsucht und -erfüllung." Im Buch werden 12 erotische Holzschnitte aus der Ming-Zeit wiedergegeben, die einem 1951 in Tokio erschienen Werk "Erotic colour prints of the Ming Period" entnommen sind. Der Herausgeber ist sich offenbar bewusst, dass sich das Buch nicht zur Ausgabe an jedermann eignet. Eingangs führt er nämlich die Bemerkung an, dass wer das Werk öffentlich ausstelle und wer es Jugendlichen unter 18 Jahren vorzeige, übergebe, anbiete, verkaufe oder ausleihe, strafrechtliche Ahndung zu gewärtigen habe.
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Bei einer summarischen Prüfung, wie sie die Zollorgane bei der Zollrevision vorzunehmen haben, präsentiert sich das Buch DLYS als erotisch-historisch märchenhafter Roman, dessen Hauptthema auf die Beschreibung der Liebeserlebnisse einer schönen Heldin - Dschu-lin Yä-schi - gerichtet ist. Die Szenen sind eingebettet in die Welt der altchinesischen Kultur und schildern Geschlechtsakte, die sich in voller Hemmungslosigkeit abspielen. In dieser Sicht kann kein Zweifel darüber bestehen, dass der Roman als "unsittlicher Natur" im Sinne von Art. 36 Abs. 4 ZG zu qualifizieren ist. Dies wird durch den Hinweis des Herausgebers zu Beginn des Buches selbst bestätigt. Als solcher bot der Roman bei der Zollrevision Anlass zu einer provisorischen Beschlagnahme. Die vorsorgliche Beschlagnahme ist somit nicht zu beanstanden.
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b) Für die Bundesanwaltschaft stellt sich im Hinblick auf die Einziehung und die allfällige Vernichtung der Sendung die Frage, ob der Roman DLYS unzüchtig im Sinne von Art. 204 BGE 100 Ib, 383 (395)StGB ist. Bei der Beantwortung dieser Frage haben sich die Verwaltungsbehörden an den von der Strafrechtspflege erarbeiteten Kriterien zu orientieren.
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Als unzüchtig im Sinne von Art. 204 StGB gilt nach der Strafrechtsprechung ein Gegenstand, wenn er in nicht leicht zu nehmender Weise gegen das Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlichen Dingen verstösst, so dass sich die Bestrafung des Vergehens mit Gefängnis oder Busse rechtfertigt. Darunter fällt in erster Linie die sog. eigentliche Pornographie. In Fällen, die nicht zur eigentlichen Pornographie zu zählen sind, ist Art. 204 StGB mit Zurückhaltung und erst anzuwenden, wenn die Darstellung geschlechtlicher Vorgänge eindeutig den von der überwiegenden Mehrheit des Volkes getragenen sittlichen Vorstellungen zuwiderläuft und somit als Störung oder Belästigung der sozialen Ordnung angesehen werden muss (BGE 96 IV 68 E. 3; vgl. auch BGE 99 IV 59 f.). Gehen auch die Verwaltungsbehörden von diesen strafrechtlichen Kriterien aus bei der Bestimmung der aufgrund von Art. 36 Abs. 4 ZG zu verfügenden Massnahme, so wird damit dem Gebot der verfassungskonformen Auslegung, wie sie vom Beschwerdeführer gefordert wird, entsprochen. Es muss in der Tat verlangt werden, dass bei Bestimmungen, die ein Freiheitsrecht einschränken und mit auslegungsbedürftigen Begriffen arbeiten, diejenige Auslegung gewählt wird, die mit der Verfassung in Einklang steht. Das bedeutet, dass die gesetzliche Einschränkung der Pressefreiheit nicht weiter gehen kann, als es der Schutz eines von der Verfassung gewährleisteten Polizeigutes gebietet. Diese Polizeigüter, die oft unter dem Begriff "öffentliche Ordnung" zusammengefasst werden, sind im Falle des Art. 204 StGB einerseits die "öffentliche Sittlichkeit" im Sinne des übergreifenden Marginales zu den Artikeln 203 und 204 StGB, anderseits der Jugendschutz im Sinne von Art. 204 Ziff. 2 StGB. Was unter den Begriff der "öffentlichen Sittlichkeit" im einzelnen fällt, ist umstritten. Doch umfasst dieses Polizeigut auf jeden Fall das allgemeine Interesse daran, dass keine pornographischen Publikationen im eigentlichen Sinne eingeführt und in den Handel gebracht werden. Anderseits kann das nach Art. 204 Ziff. 1 StGB schützenswerte Rechtsgut der "öffentlichen Sittlichkeit" nur darin bestehen, das Sitten- oder Schamgefühl breiter Bevölkerungskreise davor zu schützen, dass Veröffentlichungen auf den Markt BGE 100 Ib, 383 (396)kommen, die bei einem normal empfindenden Betrachter oder Leser Abscheu oder Widerwillen erzeugen. Der Grad der Anstössigkeit muss derart sein, dass sich nach einer allgemeinen Rechtsüberzeugung eine Bestrafung rechtfertigt. Dann ist aber auch die Einziehung nicht nur statthaft, sondern geboten.
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Im Lichte dieser Überlegungen und anhand des zugänglichen Vergleichsmaterials beurteilt, wäre der unzüchtige Charakter des Romans DLYS angesichts der Häufung von Darstellungen eines hemmungslosen Sexualverkehrs eher zu bejahen, wenn ein zeitgenössischer Autor den umstrittenen Roman verfasst hätte. Denn es lässt sich nicht bestreiten, dass die bis in alle Einzelheiten gehende Darstellung von Sexualorgien und die Schreibweise an sich in einer nicht leicht zu nehmenden Art gegen das Sittlichkeitsempfinden in geschlechtlichen Dingen verstossen. Auch müssten einzelne Holzschnitt-Reproduktionen, wenn sie öffentlich ausgestellt oder an Jugendliche vorgezeigt würden, als unzüchtig bezeichnet werden. Doch ist dies noch nicht entscheidend. Wie erwähnt, ist darauf abzustellen, ob der Gesamteindruck des Romans bei einem normal urteilenden und empfindenden Leser Abscheu und Widerwillen verursacht, m. a. W., ob das Buch zur eigentlichen Pornographie zu zählen ist oder - im Sinne von BGE 96 IV 70 f. - zu den sog. "andern Fällen", bei denen hinsichtlich der Qualifikation als unzüchtige Veröffentlichungen Zurückhaltung geboten ist.
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Unter diesem Gesichtspunkt darf angenommen werden, dass dieser vor Jahrhunderten in China geschriebene Roman anders auf den Leser wirkt, als ein heute geschriebenes Buch. Bei einem Grossteil der Bevölkerung, auch bei Lesern, die für sich persönlich eine starke Gebundenheit der geschlechtlichen Beziehungen bejahen, dürfte nach allgemeiner Lebenserfahrung das Buch weder Abscheu noch Widerwillen erregen. Viele Leser, die das Buch gegebenenfalls in die Hände bekommen, werden es anfänglich interessant, vielleicht sogar amüsant finden, nach einer teilweisen Lektüre sich aber auf die Dauer doch eher langweilen. Schwere anstössige Perversitäten, wie sie zum Teil im Buche "Jou Pu Than" (siehe hierzu BGE 87 IV 73) dargestellt und ausführlich geschildert werden, finden sich im Roman DLYS nicht.
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Zwar rechnet der Herausgeber des Werkes offenbar damit, dass das Buch nicht so sehr aufgrund seines angeblich wissenschaftlichen BGE 100 Ib, 383 (397)Wertes, sondern gerade im Hinblick auf seinen pikant erotischen Charakter zu einem Erfolg auf dem Büchermarkt wird. Das Buch wird denn auch vom Grossteil der Leser nicht so sehr aus wissenschaftlichem, sondern eher aus sexuell-erotischem Interesse gekauft und gelesen werden. Doch ist ausschlaggebend, dass diese ganze Erotik - wie erwähnt - in eine fremde, vergangene, mythologisch-märchenhaft anmutende, den Leser gegebenenfalls faszinierende Kultur eingebettet ist. Mag fachliteralisch gesehen der wissenschaftliche Wert des Buches zweifelhaft und der Urtext bei der Übersetzung verschiedentlich ergänzt oder inhaltlich abgeändert worden sein, so liest sich der Roman doch in der hier vorliegenden Übersetzung gut. Breite Bevölkerungskreise unseres Landes könnten heute nicht mehr einsehen, dass ein solch loser Roman durch staatliche Zensurmassnahme verwaltungsrechtlichen Charakters den erwachsenen Lesern vorenthalten wird.
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In dieser Sicht unterscheidet sich der umstrittene Roman aus der Ming-Zeit als Ganzes betrachtet deutlich von den vielen platten und geilen Erzeugnissen der Pornographie unserer Zeit. Er ist, verglichen mit dem, was heute auf dem Bücher- und Zeitschriftenmarkt frei erhältlich ist, zu der Kategorie von Veröffentlichungen zu zählen, die zwar keineswegs eine wertvolle Bereicherung des Angebotes darstellen, die jedoch nicht als unzüchtig im Sinne des strengen Begriffes von Art. 204 Ziff. 1 StGB zu betrachten sind. Das hat zur Folge, dass die von der Bundesanwaltschaft definitiv verfügte "Beschlagnahme", die Einziehung, im Lichte des verfassungsrechtlichen Verhältnismässigkeitsprinzips bundesrechtswidrig ist und daher aufgehoben werden muss.
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c) Unter diesen Umständen ist zu prüfen, ob - wie dies der Beschwerdeführer begehrt - der Roman vorbehaltlos, d.h. ohne jedwelche Auflage freigegeben werden darf, oder ob allenfalls eine weniger einschneidende Massnahme als die Einziehung notwendig ist. Letzteres ist namentlich der Fall, wenn das Buch als "unsittlich" im Sinne von Art. 212 StGB zu werten wäre; dann darf das Buch zwar eingeführt und verkauft werden, doch nur unter den durch den Jugendschutz gebotenen Bedingungen.
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Wie bereits festgestellt wurde, ist der Roman DLYS geeignet, die sittliche oder gesundheitliche Entwicklung von Kindern BGE 100 Ib, 383 (398)oder Jugendlichen durch Überreizung und Irreleitung des Geschlechtsgefühls zu gefährden. Dies wird vom Herausgeber im Vorwort selbst anerkannt. Die These des Beschwerdeführers, wonach niemand an einer derartigen Publikation Schaden nehmen könne, erscheint deshalb nicht nur unzutreffend, sie ist widersprüchlich.
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Fraglich ist, ob der auf der ersten Seite des umstrittenen Werkes angebrachte Hinweis des Verlegers auf den jugendgefährdenden Inhalt des Buches genügen kann, um die Buchhändler und Kioskinhaber darauf aufmerksam zu machen, dass das Buch als unsittlich im Sinne von Art. 212 StGB zu qualifizieren ist und dass die entsprechenden Vorsichtsmassnahmen zu beachten sind. Im Rahmen des heutigen Buchhandels kann nämlich kaum erwartet werden, dass der einzelne Detaillist von sich aus ein derartiges Buch öffnet und so auf den Hinweis des Verlegers stösst. Es ist daher Aufgabe der Bundesanwaltschaft, im Sinne des eben Erläuterten zu prüfen, mit welcher Auflage die Freigabe des Buches zu verbinden ist, damit Aussicht auf eine Respektierung von Art. 212 StGB beim Weiterverkauf besteht. Mit einer blossen Mitteilung an den Importeur, dass das Buch unter die Jugendschutznorm des Art. 212 StGB fällt, ist wenig Gewähr dafür geboten, dass Buchhändler und Kioskinhaber die nach Art. 212 StGB verlangten Vorsichtsmassnahmen treffen.
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Die Sache wird daher an die Bundesanwaltschaft zurückgewiesen, damit sie über die Frage entscheide, unter welchen Auflagen der Roman DLYS freigegeben werden kann.
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