BGE 145 IV 320
 
37. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Oberjugendanwaltschaft des Kantons Zürich gegen X. (Beschwerde in Strafsachen)
 
6B_509/2018 vom 2. Juli 2019
 
Regeste
Art. 19b Abs. 1 und 2 BetmG; Vorbereitungshandlungen im Zusammenhang mit einer geringfügigen Menge Cannabis.
 
Sachverhalt


BGE 145 IV 320 (320):

A. Anlässlich einer polizeilichen Kontrolle am 8. Januar 2017 in Winterthur trug X., geboren am 20. Januar 2001, 1,4 Gramm Marihuana auf sich, das für den Eigenkonsum bestimmt war.
B. Die Jugendanwaltschaft Winterthur sprach X. mit Strafbefehl vom 23. Januar 2017 der Übertretung im Sinne von Art. 19a Ziff. 1 i.V.m. Art. 19 Abs. 1 lit. d BetmG schuldig und sprach einen Verweis aus.
Mit Urteil vom 29. Juni 2017 sprach das Bezirksgericht Winterthur X. der Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz im Sinne von Art. 19a Ziff. 1 i.V.m. Art. 19 Abs. 1 lit. d BetmG frei.
Auf Berufung der Oberjugendanwaltschaft des Kantons Zürich bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich den Freispruch am 5. April 2018.
C. Die Oberjugendanwaltschaft führt Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache sei an dieses zurückzuweisen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
 


BGE 145 IV 320 (321):

Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 1
Auch unter Berücksichtigung des im BetmG zentralen Jugendschutzes sei für den vorliegenden Fall letztlich entscheidend, dass im Gesetz die Strafbarkeit des Besitzes von Cannabis zum Eigenkonsum für Jugendliche nicht vorgesehen sei.
 
Erwägung 1.4
Wer nur eine geringfügige Menge eines Betäubungsmittels für den eigenen Konsum vorbereitet oder zur Ermöglichung des gleichzeitigen und gemeinsamen Konsums einer Person von mehr als 18 Jahren unentgeltlich abgibt, ist nach Art. 19b Abs. 1 BetmG nicht strafbar. Gemeint sind damit jene Beschaffungshandlungen, die ausschliesslich dem eigenen Gebrauch dienen, insbesondere der Erwerb und der Besitz mit dem Ziel, das Betäubungsmittel zu konsumieren (vgl. Urteil

BGE 145 IV 320 (322):

6B_630/2016 vom 25. Januar 2017 E. 2.3; PETER ALBRECHT, Die Strafbestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes [Art. 19-28 l BetmG], 3. Aufl. 2016, N. 3 zu Art. 19b BetmG; zum Begriff der "geringfügigen Menge" vgl. BGE 124 IV 184 2a und 2b). Für das Betäubungsmittel des Wirkungstyps Cannabis gelten gemäss Art. 19b Abs. 2 BetmG 10 Gramm als geringfügige Menge.
Gemäss Art. 28b Abs. 1 BetmG können Widerhandlungen nach Art. 19a Ziff. 1 BetmG, begangen durch den Konsum von Betäubungsmitteln des Wirkungstyps Cannabis, in einem vereinfachten Verfahren mit Ordnungsbussen geahndet werden. Das Ordnungsbussenverfahren ist ausgeschlossen bei Widerhandlungen von Jugendlichen (Art. 28c lit. c BetmG).
1.4.2 Der Grundsatz der Legalität ist in Art. 1 StGB und Art. 7 EMRK verankert. Dieser ist verletzt, wenn jemand wegen einer Handlung, die im Gesetz nicht als strafbar bezeichnet ist, strafrechtlich verfolgt wird, oder wenn eine Handlung, deretwegen jemand strafrechtlich verfolgt wird, zwar in einem Gesetz mit Strafe bedroht ist, dieses Gesetz selber aber nicht als rechtsbeständig angesehen werden kann, oder schliesslich, wenn das Gericht eine Handlung unter eine Strafnorm subsumiert, die darunter auch bei weitestgehender Auslegung nach allgemeinen strafrechtlichen Grundsätzen nicht subsumiert werden kann (BGE 144 I 242 E. 3.1.2; BGE 139 I 72 E. 8.2.1; BGE 138 IV 13 E. 4.1; je mit Hinweisen). Der Begriff der Strafe im Sinne von Art. 7 Ziff. 1 EMRK ist autonom auszulegen. Er knüpft an eine strafrechtliche Verurteilung an. Er erfasst alle Verurteilungen, welche im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK gestützt auf eine gegen eine Person erhobene strafrechtliche Anklage erfolgen. Von Bedeutung sind ihre Qualifikation im internen Recht, das Verfahren, in dem sie verhängt und vollstreckt wird, sowie namentlich ihre Eingriffsschwere. Als Teilgehalt des Legalitätsprinzips verlangt das Bestimmtheitsgebot ("nulla poena sine lege certa") eine hinreichend genaue Umschreibung der Straftatbestände. Das Gesetz muss so präzise formuliert sein, dass der Bürger sein Verhalten danach richten und die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen kann (BGE 144 I 242 E. 3.1.2; BGE 138 IV 13 E. 4.1 S. 20).
Das Gesetz ist in erster Linie aus sich selbst heraus auszulegen, d.h., nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode.

BGE 145 IV 320 (323):

Die Gesetzesauslegung hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die Norm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis. Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen. Die Gesetzesmaterialien sind zwar nicht unmittelbar entscheidend, dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen. Bei der Auslegung neuerer Bestimmungen kommt den Materialien eine besondere Stellung zu, weil veränderte Umstände oder ein gewandeltes Rechtsverständnis eine andere Lösung weniger nahelegen (BGE 144 I 242 E. 3.1.2; BGE 142 IV 401 E. 3.3 S. 404, BGE 142 IV 1 E. 2.4.1; je mit Hinweisen).
1.5 Nach der Praxis des Bundesgerichtes fällt der Konsum von geringfügigen Drogenmengen unter Art. 19a Ziff. 2 BetmG, der blosse Besitz von geringfügigen Drogenmengen zu Konsumzwecken hingegen unter Art. 19b BetmG (BGE 124 IV 184 E. 2-3; BGE 108 IV 196 E. 1c; Urteile 1A.109/2003 vom 3. Juni 2003 E. 4.1; 6S.731/1993 vom 15. März 1994 E. 2c). Das Bundesgericht hat festgehalten, dass der blosse Besitz von geringfügigen Drogenmengen zu Konsumzwecken, ohne dass ein Konsum feststellbar wäre, unter Art. 19b BetmG fällt und straflos ist (BGE 108 IV 196 E. 1c; Urteile 6B_1273/2016 vom 6. September 2017 E. 1.6; 6P.34/1999 vom 20. April 1999 E. 3e; vgl. auch GUSTAV HUG-BEELI, BETÄUBUNGSMITTELGESETZ [BETMG], KOMMENTAR [...], 2016, N. 65 zu Art. 19b BetmG). Die Frage, ob dies auch für den Besitz durch Jugendliche gilt, wurde vor Bundesgericht bislang nicht aufgeworfen. Die Lehre äussert sich soweit ersichtlich nicht dazu.
1.6 Die Beschwerdeführerin verweist auf die Gesetzessystematik und die Entstehungsgeschichte von Art. 19b Abs. 2 BetmG, eingeführt mit der Revision im Jahre 2012. Massgebender Ausgangspunkt ist indes die in Art. 19b Abs. 1 BetmG seit 1975 vorgesehene Strafbefreiung der Vorbereitungshandlungen zum Eigenkonsum, wenn diese nur geringfügige Mengen eines Betäubungsmittels betreffen. Die Unterscheidung zwischen dem strafbaren Konsum nach Art. 19a Abs. 1 BetmG und den straffreien Vorbereitungshandlungen nach Art. 19b BetmG wurde 1975 mit der Änderung des BetmG eingeführt (AS 1975 1220; BBl 1973 I 1348). Während zuvor der Konsum von

BGE 145 IV 320 (324):

Betäubungsmitteln nicht unter Strafe gestellt war, wurde der Konsument über den Umweg unerlaubter Vorbereitungshandlungen gleichwohl bestraft. Mit der Revision von 1975 stellte der Gesetzgeber den Konsum grundsätzlich unter Strafe. In einem gewissen Rahmen sollte der Konsum jedoch weiterhin straffrei bleiben. Um dies zu ermöglichen, hat der Gesetzgeber in Art. 19b BetmG die Strafbefreiung der Vorbereitungshandlungen betreffend einer geringfügigen Menge zum Eigenkonsum eingeführt (BGE 108 IV 196 E. 1a; Botschaft vom 9. Mai 1973 betreffend die Änderung des Bundesgesetzes betreffend Betäubungsmittel vom 9. April 1951, BBl 1973 I 1348 ff., 1368; STEPHAN SCHLEGEL, Nr. 4 Bezirksgericht Zürich, Urteil vom 10. September 2015, forumpoenale 1/2017 S. 13 ff., 17).
Im Zeitpunkt der Gesetzesänderung im Jahre 1975 war der Cannabiskonsum von Jugendlichen ein bekanntes Problem (vgl. HUG-BEELI, a.a.O., N. 65 zu Allgemeiner Teil: § 4 Gesetzgebung). Weder dem Gesetzestext noch den Materialien lässt sich indes entnehmen, dass der Gesetzgeber die Straflosigkeit der Vorbereitungshandlungen auf Erwachsene beschränken wollte.
 
Erwägung 1.7
1.7.2 Mit Art. 19b Abs. 2 BetmG wurde der Begriff der "geringfügigen Menge" in Bezug auf Betäubungsmittel des Wirkungstyps Cannabis konkretisiert. Wie die Beschwerdeführerin darlegt, wurde diese Bestimmung im Rahmen der Einführung des Ordnungsbussenverfahrens mit der Revision des BetmG im Jahre 2012 erlassen. Mit der Einführung des Ordnungsbussenverfahrens sollte der Polizei ermöglicht werden, einen Fall von Cannabiskonsum eines Erwachsenen in einem vereinfachten Verfahren mit einer Ordnungsbusse von

BGE 145 IV 320 (325):

Fr. 100.- ahnden zu können, vorausgesetzt, der Cannabiskonsument trägt nicht mehr als 10 Gramm Cannabis bei sich (Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 2. September 2011 Ziff. 2.2.1, BBl 2011 8195 ff., 8201; HANS MAURER, in: StGB, JStG Kommentar, Donatsch und andere [Hrsg.], 20. Aufl. 2018, N. 5 zu Art. 19b BetmG; ausführlich zur Revision vom 28. September 2012 HUG-BEELI, a.a.O., N. 101-111 zu Allgemeiner Teil: § 4 Gesetzgebung).
Entsprechend nehmen die von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Materialien stets Bezug auf die Strafbarkeit des Besitzes von Betäubungsmitteln in Kombination mit dem Konsum. So wird beispielsweise im Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates festgehalten, die Polizei solle den Cannabiskonsum von Erwachsenen künftig mit einer Ordnungsbusse ahnden können, vorausgesetzt der Täter trage nicht mehr als 10 Gramm Cannabis bei sich (Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 2. September 2011, BBl 2011 8195 ff., 8196).
Art. 19b BetmG bezieht sich hingegen auf Vorbereitungshandlungen, die im Hinblick auf einen möglichen, aber nicht ausgeführten Eigenkonsum des Betäubungsmittels erfolgen und straflos sind (oben, E. 1.5). Das Ordnungsbussenverfahren kommt insofern in Bezug auf Art. 19b BetmG nicht zur Anwendung (HUG-BEELI, a.a.O., N. 66 zu Art. 19b BetmG; MAURER, a.a.O., N. 7 zu Art. 19b und N.1 zu Art. 28b BetmG).
Vor diesem Hintergrund mag es, wie in der Lehre aufgezeigt (HUG- BEELI, a.a.O., N. 103-105 zu Allgemeiner Teil: § 4 Gesetzgebung), durchaus erstaunen, dass der Gesetzgeber die für das Ordnungsbussenverfahren vorgesehene Grenze von 10 Gramm Cannabis in Art. 19b BetmG eingeordnet hat. Nicht daraus ableiten lässt sich

BGE 145 IV 320 (326):

entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin jedoch, dass deswegen mit Art. 19b Abs. 2 BetmG entgegen dem klaren Wortlaut von Art. 19b Abs. 1 BetmG die Strafbarkeit von Jugendlichen betreffend Vorbereitungshandlungen einer geringfügigen Menge Cannabis hätte eingeführt werden sollen.
Die Einführung des Ordnungsbussenverfahrens sollte keine Auswirkungen auf den Jugendschutz haben. Dies wird durch die von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Voten im Gesetzgebungsprozess bestätigt. So wurde mehrfach betont, dass sich bei Jugendlichen bezüglich der Strafbarkeit von Cannabisdelikten nichts ändern werde (Voten Fehr, AB 2012 N 268 f.; Moret und Cassis, AB 2012 N 286; Schwaller, AB 2012 S 408 und 412; Fehr, AB 2012 N 1375). Entsprechend wurde das Ordnungsbussenverfahren für Widerhandlungen von Jugendlichen ausdrücklich ausgeschlossen (Art. 28c lit. c BetmG). Der Cannabiskonsum von Jugendlichen wird demnach zur Gewährleistung des Jugendschutzes nicht mit einer Busse von Fr. 100.- im Ordnungsbussenverfahren geahndet, sondern es kommen die nach JStG (SR 311.1) vorgesehenen Schutzmassnahmen und Strafen (Art. 12 ff. JStG) zur Anwendung. Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates hat festgehalten, dass auf diese Weise der Jugendschutz sowohl über Art. 3c BetmG als auch über Art. 19a BetmG in Anwendung des Jugendstrafgesetzes gewährleistet sei (Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 2. September 2011 Ziff. 3.2.3, BBl 2011 8195 ff., 8209).
Im Übrigen ist entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin die Meldebefugnis nach Art. 3c Abs. 1 BetmG von der Straflosigkeit nach Art. 19b BetmG nicht tangiert. Die Meldung nach Art. 3c Abs. 1 BetmG knüpft nicht an eine strafrechtliche Verurteilung an.
1.8 Sofern die Beschwerdeführerin kritisiert, es sei nicht nachvollziehbar, dass die Jugendlichen auf der einen Seite gleich privilegiert

BGE 145 IV 320 (327):

wie Erwachsene behandelt werden sollen, auf der anderen Seite aber von der raschen Erledigung einer Übertretung durch ein vereinfachtes Verfahren ausgeschlossen werden müssten, ist ihr nicht zu folgen.
Mit dem Ordnungsbussenverfahren wird die Strafe für den Konsum von Cannabis im Gegensatz zum ordentlichen Verfahren durch ein Polizeiorgan ohne Berücksichtigung des Vorlebens und der persönlichen Verhältnisse des Täters verhängt (HUG-BEELI, a.a.O., N. 108 zu Allgemeiner Teil: § 4 Gesetzgebung). Dies wird den nach Jugendstrafgesetz vorgesehenen besonderen Schutzmassnahmen und Strafen (Art. 12 ff. JStG) nicht gerecht. Macht sich ein Jugendlicher des Cannabiskonsums strafbar, ist je nach Umständen und persönlicher Situation eine andere Folge als eine Ordnungsbusse von Fr. 100.-, unter anderem unter Einbezug der Eltern, angezeigt.