BGE 119 II 127 - Vermögensschaden bei Werkuntergang
 
27. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung
vom 18. März 1993
i.S. G. gegen W. AG
(Berufung)
 
Regeste
Regress der Bauunternehmerin gegen die mit ihr nicht vertraglich verbundene Ingenieurfirma.
Fehlende Widerrechtlichkeit nach Art. 41 OR bei reiner Vermögensschädigung ohne Verletzung einer Verhaltensnorm, die nach ihrem Zweck vor solchen Schädigungen schützen soll (E. 3). Sinngemässe Anwendung von Art. 51 OR zugunsten der Bauunternehmerin, die für den aus dem Werkuntergang entstandenen Vermögensschaden bisher allein aufgekommen war, obgleich dafür auch die Bauingenieurfirma (infolge Schlechterfüllung des Ingenieurvertrags) und die Bauherrin (aufgrund von Art. 101 OR) einzustehen hatten (E. 4).
 


BGE 119 II 127 (128):

Sachverhalt
A.
Für den Einbau eines Zwischengeschosses in einem bestehenden Gebäude ihres Verteilbetriebs in Neuendorf schloss die M. einerseits mit der W. AG einen Werkvertrag nach SIA-Norm 118 und anderseits mit der Bauingenieurfirma G. einen Ingenieurvertrag nach SIA-Norm 103. Während die W. AG (Unternehmerin) die Betonelemente herzustellen und zu montieren hatte, oblagen der G. Projektierung und Bauleitung.
Anlässlich der Montage der Betonelemente stürzte am 17. März 1988 das zu erstellende Zwischengeschoss ein. Dabei kamen weder Personen noch Eigentum der Unternehmerin zu Schaden. Hingegen war für sie die Neuerstellung des vor der Abnahme untergegangenen Werkes mit beträchtlichen, nicht durch eine zusätzliche Vergütung abgegoltenen Mehrkosten verbunden, für welche die Unternehmerin die Ingenieurfirma verantwortlich machte.
Die M. (Bauherrin) weigerte sich, ihre allfälligen Ansprüche aus mangelhafter Erfüllung des Ingenieurvertrags an die Unternehmerin abzutreten.
B.
Am 10. Juli 1989 klagte die Unternehmerin beim Handelsgericht des Kantons Bern gegen die Ingenieurfirma auf Ersatz des auf Fr. 225'647.50 bezifferten Mehraufwandes. Aufgrund einer Expertise kam das Handelsgericht zum Schluss, dass beide Parteien zum Teil elementare Regeln der Baukunde verletzt und dadurch den Einsturz mitverursacht hätten. Den auf Fr. 210'496.65 festgesetzten Schaden lastete es zu 70% der Beklagten an und sprach der Klägerin, die mit der Beklagten nicht in Vertragsbeziehungen stand, gestützt auf Art. 41 ff. OR i.V.m. Art. 229 StGB Fr. 147'347.65 nebst Zins zu. Gegen das handelsgerichtliche Urteil vom 19. August 1992 führt die Beklagte erfolglos Berufung beim Bundesgericht.
 
Auszug aus den Erwägungen:
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 3
3.- Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung und herrschender Lehre liegt der Haftungsnorm des Art. 41 OR die objektive Widerrechtlichkeitstheorie zugrunde. Danach ist eine Schadenszufügung widerrechtlich, wenn sie gegen eine allgemeine gesetzliche Pflicht verstösst, indem entweder ein absolutes Recht des Geschädigten beeinträchtigt (Erfolgsunrecht) oder eine reine Vermögensschädigung durch Verstoss gegen eine einschlägige Schutznorm bewirkt wird (Verhaltensunrecht). Die im objektiven Normverstoss begründete Widerrechtlichkeit entfällt daher, wenn eine Schädigung reiner

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Vermögensrechte stattgefunden hat, dabei jedoch keine Verhaltensnorm verletzt worden ist, die nach ihrem Zweck vor derartigen Schädigungen schützen soll (BGE 116 Ib 373 E. 4b mit Hinweisen auf Lehre und Rechtsprechung).
Aufgrund der verbindlichen Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz (Art. 63 Abs. 2 OG) hat auch das Bundesgericht davon auszugehen, dass der Klägerin zufolge des Einsturzes des in Konstruktion befindlichen Zwischengeschosses weder Personenschaden noch Schaden an ihrem Eigentum (z.B. an Werkzeugen und Maschinen) entstanden ist. Eigentum am unvollendeten Bauwerk konnte die Klägerin wegen des Akzessionsprinzips nicht gehabt haben (Art. 667 Abs. 2 ZGB). Zwar hatte sie daran unselbständigen, d.h. vom Besitz der Bauherrin abgeleiteten Besitz (Art. 920 Abs. 2 ZGB). An den Besitz als tatsächliches Herrschaftsverhältnis (Art. 919 Abs. 1 ZGB; BGE 85 II 280) knüpft das Gesetz aber nur in besonderen Fällen Rechtswirkungen. Die Möglichkeit, aus Besitzesverletzungen Schadenersatzansprüche abzuleiten, ist auf die besitzesrechtlichen Spezialregelungen der Art. 927 Abs. 3 ZGB (Besitzesentziehung durch verbotene Eigenmacht) und 928 Abs. 2 ZGB (Besitzesstörung durch verbotene Eigenmacht) beschränkt, wo das Gesetz ausdrücklich Schadenersatz vorsieht (OFTINGER, Schweizerisches Haftpflichtrecht, 4 A., Bd. I, S. 130 und Fn. 14; BREHM, N. 35 zu Art. 41 OR STARK, N. 26 f. zu Art. 927 ZGB).
Ist der Klägerin mangels Verletzung absoluter Rechte reiner Vermögensschaden entstanden (BREHM, N. 85 zu Art. 41 OR), stellt sich die Frage nach der allenfalls verletzten Schutznorm. Das Handelsgericht erblickt sie in Art. 229 StGB. Dabei übersieht es, dass diese Vorschrift wie auch diejenige von Art. 227 StGB nur das absolute Recht auf körperliche Integrität schützen (BGE 117 II 270 E. 3). Bezwecken die genannten Normen jedoch allein diesen Schutz und nicht den Schutz vor Vermögensschäden, so konnte die Zufügung eines solchen Schadens kein Normverstoss gewesen sein, der die von Art. 41 OR vorausgesetzte Widerrechtlichkeit begründet hätte (BRUNO GABRIEL, Die Widerrechtlichkeit in Art. 41 Abs. 1 OR, Diss. Freiburg 1987, S. 74 Rz. 255 und S. 200 Rz. 688; vgl. BGE 104 II 99 Nr. 17 zu Art. 222 StGB). Die Widerrechtlichkeit darf entgegen der Auffassung der Klägerin auch nicht dadurch begründet werden, dass im Widerspruch zur positivrechtlichen Haftungsordnung als Ersatz für die mangelnde Schutznorm der sogenannte Gefahrensatz herangezogen wird (BREHM, N. 49 und 51 zu Art. 41 OR).


BGE 119 II 127 (130):

Damit entfällt Art. 41 OR als Anspruchsgrundlage für den eingeklagten Ersatz des Schadens, den die Klägerin als Folge der Neuerstellung des vor der Abnahme untergegangenen Werkes erlitt. Das führt aber nicht zur Klageabweisung, wenn sich die Ersatzforderung der nicht vertraglich mit der Beklagten verbundenen Klägerin auf einen anderen Rechtsgrund abstützen lässt.
 
Erwägung 4
4.- Geht ein Werk infolge der vom Besteller vorgeschriebenen Art der Ausführung vor der Abnahme unter, so kann der Unternehmer, der den Besteller auf die Gefahr rechtzeitig aufmerksam gemacht hat, nach Art. 376 Abs. 3 OR trotzdem Vergütung für die bereits geleistete Arbeit und bei Verschulden des Bestellers ausserdem Schadenersatz verlangen. Eine entsprechende Ordnung enthält Art. 188 der SIA-Norm 118, welche die Bauherrin und die Klägerin zum Bestandteil ihres Werkvertrags erhoben haben. Abs. 5 von Art. 188 regelt ausserdem den Fall des Unternehmers, der durch eine Sorgfaltspflichtverletzung den Untergang des Werkes mitverursacht hat und seinen Vergütungsanspruch gegenüber dem ebenfalls verantwortlichen Besteller zwar nicht verliert, jedoch eine seinem Verschulden entsprechende Reduktion hinnehmen muss.
a) Nach den vorinstanzlichen Feststellungen traf sowohl die als Unternehmerin tätige Klägerin wie auch die von der Bauherrin mit den Ingenieurarbeiten beauftragte Beklagte eine erhebliche Verantwortung am Einsturz des zu erstellenden Zwischengeschosses. In Übereinstimmung mit der Vorinstanz ist davon auszugehen, dass die Klägerin gegenüber der Bauherrin aufgrund des Werkvertrags und die Beklagte aus dem Ingenieurvertrag haftete. Im Verhältnis zur Unternehmerin war indessen die Ingenieurfirma Hilfsperson der Bauherrin, die für das Verhalten dieser Hilfsperson einzustehen hatte (Art. 101 OR; GAUCH, Der Werkvertrag, 3. A., S. 363 Rz. 1361, S. 520 Rz. 2025 und S. 522 Rz. 2033). Aufgrund von Art. 188 Abs. 5 SIA-Norm 118 hätte daher die Klägerin für das untergegangene Bauwerk insoweit Vergütung beanspruchen können, als der Untergang nicht auf die Schlechterfüllung des Werkvertrags, sondern auf die Mangelhaftigkeit der von der Bauherrin zu vertretenden Ingenieurarbeiten der Beklagten zurückzuführen war (GAUCH, Kommentar zur SIA-Norm 118, Art. 157-190, N. 33 zu Art. 188 SIA-Norm 118; JO KOLLER, der "Untergang des Werkes" nach Art. 376 OR, Diss. Freiburg 1983, S. 126 f.; zur Rechtslage bei Anwendung von Art. 376 Abs. 3 OR vgl. GAUCH, Der Werkvertrag, S. 238 Rz. 837 a.E.). Dabei wäre die Bauherrin vom Einwand der fehlenden Abmahnung durch die Unternehmerin ausgeschlossen gewesen, da sie sich auch die

BGE 119 II 127 (131):

Fachkunde der Beklagten hätte zurechnen lassen müssen (BGE 116 II 309 E. 2cc).
Statt sich auf die von der Bauherrin zu vertretende Schlechterfüllung des Ingenieurvertrags zu berufen und eine Vergütung für das untergegangene Werk zu fordern, erstellte die Klägerin das Werk neu und trug die gesamten Mehrkosten selbst. Bisher vollumfänglich für den Schaden aufgekommen ist die Klägerin jedoch auch gegenüber der Beklagten. Zu prüfen bleibt, ob die Klägerin daraus Ansprüche ableiten kann.
b) Für den durch die Schlechterfüllung des Werk- bzw. Ingenieurvertrags verursachten Schaden hafteten die Parteien der Bauherrin gegenüber zwar nicht als echte, jedoch als unechte Solidarschuldner (BGE 115 II 45 E. 1b; 93 II 322 E. 2e). Die Regeln der Solidarität werden in diesem Fall sinngemäss angewandt (GAUCH, Der Werkvertrag, S. 520 Rz. 2027). Dazu gehört die Bestimmung, dass derjenige Solidarschuldner, der gegenüber dem Gläubiger mehr geleistet hat, als er im internen Verhältnis unter den Solidarschuldnern hätte leisten müssen, nach richterlichem Ermessen zum Regress gegen die Mitverpflichteten zugelassen wird (Art. 51 Abs. 1 i.V.m. Art. 50 Abs. 2 OR; GAUCH, Der Werkvertrag, S. 521 ff. Rz. 2030 ff.). Dadurch wird vermieden, dass der Solidarschuldner, der den Gläubiger befriedigt hat, endgültig mit einem höheren Schaden belastet wird, als seinem Haftungsanteil entspricht (BREHM, N. 45 zu Art. 51 OR).
Vorliegend hat die Klägerin die durch den Einsturz verursachten Mehrkosten bisher allein getragen und ist damit für einen höheren Schadensanteil aufgekommen, als sie im Verhältnis zur Beklagten hätte übernehmen müssen. In entsprechender Anwendung von Art. 51 OR steht ihr für den Mehrbetrag ein Regressanspruch gegen die Beklagte zu. Da dieser zwingende Anspruch dem Einfluss des Gläubigers entzogen ist (BGE 115 II 25 E. 2a), besteht er unabhängig davon, dass sich die Bauherrin geweigert hat, ihre Forderungen gegen die Beklagte an die Klägerin abzutreten.