BGE 53 II 221 - Dachkennel Liegenschaft Alpnachdorf
 


BGE 53 II 221 (221):

40. Urteil der II. Zivilabteilung
vom 30. Juni 1927 i.S. Muff gegen Hess.
 
Regeste
Die Negative Eigentumsklage ist unverjährbar (Erw. 2).
Sind bei Bauten die vom kantonalen Rechte festgesetzten Abstände nicht beobachtet worden, so muss der Klage des Verletzten auf Beseitigung grundsätzlich stattgegeben werden (ZGB Art. 641 Abs. 2, 679, 685 Abs. 2, 686), es sei denn dass die Voraussetzungen des Art. 674 Abs. 3 zutreffen (Erw. 4). Beurteilung dieser Frage (Erw. 3).
 
Sachverhalt
 
A.
Im Jahre 1923 baute der Beklagte auf seiner Liegenschaft in Alpnachdorf ein Haus. Nach Beginn der Arbeiten erhielt er vom Landweibelamt folgende auf Antrag des Klägers erlassene "Amtliche Anzeige" d. d. 18. April 1923:
    "Herr Spenglermeister Jos. Muff, Alpnachdorf, lässt Ihnen hiemit... unter Hinweis auf Art. 138 EG zum ZGB amtlich mitteilen, dass Sie nicht berechtigt sind, Ihr projektiertes Haus näher an die nachbarliche Grenze zu bauen als zwei Meter Abstandsgrenze zwischen der Grenze und dem Dachkennel Ihres projektierten Hauses. Eine Abstandsgrenze von zwei Metern, berechnet von der Mauer Ihres projektierten Hauses bis zur nachbarlichen Grenze, würde nicht zulässig sein..."
Der angeführte Art. 138 des EG zum ZGB für den Kanton Unterwalden ob dem Wald lautet in seinem hier massgebenden Teile: "Der Abstand eines Gebäudes von der nachbarlichen Grenze darf ohne Einwilligung des Nachbarn... in Dörfern nicht weniger als zwei Meter betragen."
Am 20. April 1923 liess der Beklagte u.a. antworten: "Herr Hess hat die Abstandsgrenze richtig eingehalten. Er wird in der angefangenen Weise weiter bauen. Gegen eine eventuelle Klage wird er diesen Standpunkt vor allen Instanzen zu begründen und zu wahren wissen.

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Ihre Auslegung des Art. 138 EG zum ZGB ist willkürlich und unrichtig." In zwei weiteren Zuschriften hielt der Kläger an seinem Standpunkt fest, bis ihm der Beklagte am 25. Mai 1923 mitteilen liess, dass "die von ihm gewünschte Abstandsgrenze tatsächlich innegehalten wird. Dies nicht, weil hierzu ein rechtlicher Grund vorliegt..., sondern weil der neue Plan des Herrn Hess diese Abstandsgrenze gestattet." In Wahrheit beträgt der Abstand zwischen dem Mauersockel des Hauses des Beklagten und der Grenze der Liegenschaft des Klägers vorn an der Strasse 2,65 und hinten 2,35 Meter, zwischen dem Dachvorsprung einschliesslich Dachkennel des Hauses und der Grenze jedoch je 88 cm weniger. Die Spenglerarbeiten am Hause des Beklagten hat der Kläger selbst ausgeführt, nachdem er jenem mitgeteilt hatte: "Ich habe den Auftrag unbeschadet meiner behaupteten Anspruche aus den Bestimmungen des Einführungsgesetzes betreffend der Abstandsgrenze zwischen Nachbargrundstücken übernommen und wahre mir ausdrücklich alle daherigen Rechte."
 
B.
Mit der vorliegenden, im Frühjahr 1925 angestrengten Klage verlangt der Kläger Verurteilung des Beklagten, mit seinem Neubau gegenüber dem Grundstück des Klägers die gesetzliche Abstandsgrenze zu wahren oder wegen Missachtung dieser Abstandsgrenze eine Entschädigung von 6500 Fr. zu bezahlen.
 
C.
Durch Urteil vom 24. Januar 1927 hat das Obergericht des Kantons Unterwalden ob dem Wald erkannt: "Der Beklagte hat entweder innert sechs Monaten von Zustellung dieses Urteils an den beanstandeten Dachvorschuss auf die Abstandsgrenze zurück zu verkürzen oder an den Kläger eine Entschädigung von 700 Fr., zu verzinsen vom 20. März 1925 (Datum des Friedensrichtervorstandes) an, zu entrichten."
 
D.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger die Berufung an das Bundesgericht eingelegt mit folgenden Anträgen:
"1. Es sei in Gutheissung der Hauptforderung unseres

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Klagebegehrens der Beklagte gerichtlich zu verhalten, mit seinem widerrechtlichen Neubau gegenüber dem klägerischen Grundstück die gesetzliche Abstandsgrenze zu wahren...
2. Eventuell sei der Beklagte wegen Missachtung der gesetzlichen Abstandsgrenze in eine Entschädigung von 6500 Fr. dem Kläger gegenüber zu verfälIen unter Anrufung richterlichen Ermessens."
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
Erwägung 2
2. Auf Bauten, die den vom kantonalen Rechte festgesetzten Abständen, wie überhaupt den Vorschriften des Nachbarrechtes zuwiderlaufen, finden gemäss Art. 685 Abs. 2 ZGB die Bestimmungen betreffend überragende Bauten Anwendung, mutatis mutandis also insbesondere der Art. 674 Abs. 3 ZGB: "Ist ein Überbau unberechtigt, und erhebt der Verletzte, trotzdem dies für ihn erkennbar geworden ist, nicht rechtzeitig Einspruch, so kann, wenn es die Umstände rechtfertigen, dem Überbauenden, der sich in gutem Glauben befindet, gegen angemessene Entschädigung das dingliche Recht auf den Überbau (oder das Eigentum am

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Boden) zugewiesen werden." Vorliegend behauptet der Kläger, rechtzeitig Einspruch erhoben zu haben, spricht er infolgedessen dem Beklagten den guten Glauben ab und folgert er hieraus zunächst, es könne dem Beklagten nicht, auch nicht gegen angemessene Entschädigung, das (dingliche) Recht (Dienstbarkeit) zuerkannt werden, den unter Verletzung des gesetzlichen Bauabstandes errichteten Dachvorsprung beizubehalten, sondern er (Kläger) sei befugt, die ungerechtfertigte Einwirkung auf seine Liegenschaft durch das Näherbauen seitens des Beklagten abzuwehren. Solche auf Abwehr der Überschreitung des Eigentumsrechtes seitens des Nachbars abzielenden Ansprüche (negative Eigentumsklage, actio negatoria) fliessen aus dem Eigentumsrecht und erneuern sich daher während der Dauer des Eigentums jederzeit, solange die ungerechtfertigte Einwirkung andauert. Daher ist -- gleichwie die Eigentumsklage (rei vidicatio) selbst (BGE 48 II S. 44 ff. Erw. 2c) -- auch die Klage auf Beseitigung der Störung nicht, wie der Beklagte meint, der (einjährigen) Verjährung unterworfen, sondern nur allfällig die Klage auf Ersatz des aus solcher Störung erwachsenen Schadens. Nur insofern wird die Negatorienklage durch Zeitablauf ausgeschlossen, als nach den eben angeführten Vorschriften durch Verspätung der Einsprache seitens des Verletzten dem Zuwiderhandelnden ein Anspruch auf Aufhebung der nachbarrechtlichen Eigentumsbeschränkung erwachsen kann.
 
Erwägung 3
3. Allein dem Kläger ist zuzugeben, dass die Voraussetzungen für die Zuweisung des dinglichen Rechtes auf Näherbauen nicht zutreffen. Sobald der Kläger aus der Grundmaueranlage ersehen konnte, dass der Dachvorsprung voraussichtlich näher als zwei Meter an seine Liegenschaft heranreichen werde, hat er dem Beklagten seinen Einspruch gegen diese Bauweise amtlich mitteilen lassen, und in späteren Zuschriften hat er seinen Einspruch erneuert. Hieraus konnte der Beklagte zur

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Genüge ersehen, dass der Kläger die geplante Bauweise als Verletzung der kantonalen Bauabstandsvorschriften betrachte und nicht zu dulden gewillt sei. Weitere Anforderungen können an den Einspruch nicht gestellt werden. Übrigens erklärte der Beklagte durch sein Schreiben vom 25. Mai 1923 unverkennbar, sich dem Einspruch unterziehen zu wollen. Dieser fiel auch nicht etwa dadurch dahin, dass der Kläger selbst an dem nachbarrechtswidrigen Dachvorsprung mitarbeitete; denn er übernahm die Arbeiten nicht ohne ausdrückliche Erneuerung seines Einspruches, wohl in der Voraussicht der Beklagte werde ihn durch eine Geldentschädigung abfinden, und dieser übertrug sie ihm gleichwohl.
Infolge des rechtzeitigen Einspruches befand sich der Beklagte natürlich auch nicht mehr in gutem Glauben über seine Berechtigung, das Dach seines Hauses näher als auf zwei Meter gegen die Grenze der Liegenschaft des Klägers vorspringen lassen zu dürfen. Wenn er im Vertrauen auf die Richtigkeit seiner eigenen Meinung über die Tragweite des Art. 138 des EG zu ZGB unbekümmert um den Einspruch des Klägers in der geplanten Weise weiterbaute, so setzte er sich der Gefahr aus, in einem fortgeschrittenen Stadium oder selbst erst nach der Beendigung der Baute mit dem Dachvorsprung zurückweichen zu müssen im Falle, dass die Gerichte, auf deren Entscheid sich der Kläger immer und immer wieder berief, diese Vorschrift im Sinne des Klägers auslegen werden. Unter solchen Umständen kann nicht von einem unverschuldeten Irrtum darüber gesprochen werden, dass die vom Kläger behauptete nachbarrechtliche Eigentumsbeschränkung nicht bestehe.
 
Erwägung 4
4. Kann aber der Beklagte aus Art. 674 Abs. 3 ZGB nichts für sich herleiten, so lässt sich der Gutheissung des in den Vordergrund gestellten Klagantrages nicht ausweichen, sondern erweist sich dieser als begründet gestützt sowohl auf Art. 641 Abs. 2 als Art. 679 ZGB, wonach auf Beseitigung der Schädigung und

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auf Schadenersatz klagen kann, wer dadurch geschädigt wird, dass ein Grundeigentümer sein Eigentumsrecht überschreitet. Dabei ist nicht von Belang, dass der Kläger Beseitigung der Störung und Entschädigung nur alternativ verlangt hat; denn unverkennbar wollte er sich von Anfang an mit der Entschädigung nur begnügen, sofern er die Beseitigung der Störung nicht durchzusetzen vermöge, oder allenfalls doch nur bei Zusprechung und Zahlung der vollen eingeklagten Entschädigungssumme. Ebensowenig kann der Beklagte unter dem Gesichtspunkte von der Beseitigung der Störung entbunden werden, dass durch die Verkürzung seines Dachvorsprunges das Dorfbild verunstaltet würde. Nur durch einschlägige öffentlichrechtliche Vorschriften könnte das private Recht des Klägers, innerhalb des Abstandes von zwei Metern von seiner Grenze keinerlei Bauwerk dulden zu müssen, geopfert werden, dagegen nicht zum Zwecke der Aufrechterhaltung einer widerrechtlich errichteten Baute. Rechtsirrtümlich ist auch der weitere Urteilsgrund der Vorinstanz: Es ist kein schutzwürdiges Interesse des Klägers vorhanden, dass diese Verkleinerung des Dachvorschusses unter allen Umständen durchgeführt werde, sondern seinen Interessen wird durch eine an die Stelle der Zurücksetzung des Dachvorsprunges tretende Entschädigung ebenfalls Genüge getan. Abgesehen von der -- bereits abgelehnten -- Anwendung des Art. 674 Abs. 3 ZGB kann die Verurteilung zu einer Geldentschädigung anstatt zur Beseitigung einer den nachbarrechtlichen Abstand nicht wahrenden Baute überhaupt auf keine Rechtsvorschrift gestützt werden. Und wenn der Kläger durch den Näherbau in seinen vermögensrechtlichen Interessen erheblich verletzt wird, wie auch die Vorinstanz anerkennt, indem sie die Wiedergutmachung auf mehrere Hundert Franken bewertete, so ist nicht einzusehen, warum dieses Interesse nicht auch genügen sollte, um die Verurteilung zur Beseitigung der Störung zu rechtfertigen, sobald diese grundsätzlich

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mit Fug verlangt werden kann. In der Tat werden der Liegenschaft des Klägers durch den zu weit ausladenden Dachvorsprung einerseits Luft und Licht bis zu einem gewissen Masse entzogen, anderseits Niederschläge in vermehrtem Masse zugeführt, was bei allfälliger Änderung der Benützungsweise in der Zukunft nachteiliger sein kann, als es bei der gegenwärtigen Benützungsweise der Fall ist, und unter diesem Gesichtspunkte auch schon die präsente Wertverminderung erhöht. Darauf kommt nichts an, ob der Kläger den gleichen Nachteil ebenfalls erleiden würde, wenn der Beklagte zwar in genügendem Abstande, jedoch höher gebaut hätte. Endlich lässt sich nicht etwa sagen, das Interesse des Klägers auf Beseitigung der Störung stehe in keinem Verhältnisse zu den dadurch erheischten Aufwendungen; denn zu etwas weiterem als zur Verkürzung des Dachvorsprunges ist ja der Beklagte nach dem in Erw. 1 Ausgeführten nicht verpflichtet. Somit kann dahingestellt bleiben, ob in Übereinstimmung mit der Vorinstanz die Beseitigung der Störung verweigert werden könnte, wenn sie sich nur durch das Zurückversetzen der ganzen Hausmauer hätte erzielen lassen.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird teilweise dahin begründet erklärt, dass das Urteil des Obergerichts des Kantons Unterwalden ob dem Wald vom 24. Januar 1927 aufgehoben und der Beklagte verurteilt wird, den Dachvorsprung auf den gesetzlichen Abstand von zwei Metern von der Grenze gegen die Liegenschaft des Klägers hin zu verkürzen.