BVerfGE 99, 268 - Kinderexistenzminimum II


BVerfGE 99, 268 (268):

Zum von Verfassungs wegen zu berücksichtigenden einkommensteuerlichen Kinderexistenzminimum für ein Kind in dem Veranlagungszeitraum 1985.
 
Beschluß
des Zweiten Senats vom 10. November 1998
-- 2 BvR 1220/93 --
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde 1. der Frau F..., 2. des Herrn F... -- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Diethard Fischer, Schwalbenweg 4, Rheinberg -- gegen\tab a) den Beschluß des Bundesfinanzhofs vom 7. Mai 1993 -- VI B 131/92 --, \tab \tab b) das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 7. Juli 1992 -- 9 K 251/87 E --, mittelbar gegen § 54 Abs. 1 EStG in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 1991.
Entscheidungsformel:
1. § 54 Absatz 1 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Artikel 1 des Gesetzes zur Förderung von Investitionen und Schaffung von Arbeitsplätzen im Beitrittsgebiet sowie zur Änderung steuerrechtlicher und anderer Vorschriften (Steueränderungs

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gesetz 1991) vom 24. Juni 1991 (Bundesgesetzbl. I Seite 1322) war in seiner Anwendung auf den Veranlagungszeitraum des Jahres 1985 mit Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes insoweit unvereinbar, als danach Eltern mit einem Kind nur einen Kinderfreibetrag von zusammen 2.432 Deutsche Mark beanspruchen konnten.
2. Das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 7. Juli 1992 - 9 K 251/87 E - und der Beschluß des Bundesfinanzhofs vom 7. Mai 1993 - VI B 131/92 - verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes insoweit, als ihnen nur ein Kinderfreibetrag in Höhe von zusammen 2.432 Deutsche Mark zugestanden worden ist. Der Beschluß des Bundesfinanzhofs vom 7. Mai 1993 - VI B 131/92 - wird aufgehoben. Die Sache wird an den Bundesfinanzhof zurückverwiesen. Im übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
3. Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen zur Hälfte zu erstatten.
 
Gründe:
 
A.
Streitig sind einzelne, als Werbungkosten geltend gemachte Aufwendungen sowie die verfassungsrechtlich gebotene Höhe des einkommensteuerlichen Kinderexistenzminimums im Veranlagungszeitraum 1985.
I.
1. Die Beschwerdeführer, Eheleute, wurden im Streitjahr 1985 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt; einkommensteuerlich wurde ein Kind berücksichtigt. Die Beschwerdeführer wenden sich gegen die durch die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts zum Kinderleistungsausgleich (BVerfGE 82, 60; 82, 198) veranlaßte, ihnen aber im Ergebnis nicht genügende Neuregelung des Kinderfreibetrages in § 54 EStG i.d.F. des Steueränderungsgesetzes 1991 (BGBl I S. 1322 ff.; vgl. Begründung zum Gesetzentwurf des Steueränderungsgesetzes 1991, BTDrucks 12/219, S. 20, 23 ff., 34). Außer

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dem streiten sie um die Anerkennung von Umzugskosten, Anschaffungskosten für einen Aktenkoffer und Kreditkartengebühren als Werbungskosten.
2. Das Finanzamt hat die geltend gemachten Werbungskosten nicht berücksichtigt und nur den im Gesetz vorgesehenen Kinderfreibetrag in Höhe von 2.432 DM anerkannt. Die dagegen erhobene Klage wies das Finanzgericht zurück. Es bestünden keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Neuregelung des § 32 Abs. 8 EStG durch § 54 EStG i.d.F. des Steueränderungsgesetzes 1991.
Die gegen die Entscheidung des Finanzgerichts erhobene Nichtzulassungsbeschwerde wies der Bundesfinanzhof zurück.
II.
Die Beschwerdeführer wenden sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen die finanzgerichtlichen Entscheidungen und rügen die Verletzung ihrer Grundrechte insbesondere aus Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 GG.
Die Neuregelung der Kinderfreibeträge gemäß § 54 Abs. 1 i.d.F. des Steueränderungsgesetzes 1991 sei noch immer in verfassungswidriger Weise zu niedrig. Das Bundesverfassungsgericht habe für das Jahr 1982 in seiner Entscheidung vom 29. Mai 1990 (BVerfGE 82, 60) festgestellt, daß das Existenzminimum eines Kindes mindestens 390 DM pro Monat betrage. Hochgerechnet auf das Streitjahr 1985 seien daher mindestens 430 DM pro Monat und somit 5.160 DM pro Jahr als Existenzminimum eines Kindes zugrunde zu legen.
 
B.
Soweit sich die Beschwerdeführer gegen § 54 Abs. 1 EStG i.d.F. des Steueränderungsgesetzes 1991 und insoweit gegen die darauf beruhenden finanzgerichtlichen Entscheidungen wenden, ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet. § 54 Abs. 1 EStG i.d.F. des Steueränderungsgesetzes 1991 war in seiner Anwendung auf den Veranlagungszeitraum 1985 in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang mit Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar. Im übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht

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zur Entscheidung angenommen (§ 93a Abs. 2, § 93b Satz 2, § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
I.
Für die verfassungsrechtliche Beurteilung des § 54 Abs. 1 EStG gelten die im Beschluß vom 10. November 1998 im Verfahren 2 BvL 42/93 dargelegten Maßstäbe entsprechend. Nach den dort getroffenen Klarstellungen bildet das sozialhilferechtlich definierte Existenzminimum die Grenze für das einkommensteuerliche Existenzminimum, die über-, aber nicht unterschritten werden darf. Der Wohnbedarf ist nach dem Mehrbedarf, nicht nach der Pro-Kopf-Methode zu ermitteln. Das damit quantifizierte steuerliche Existenzminimum ist für alle Steuerpflichtigen - unabhängig von ihrem individuellen Grenzsteuersatz - in voller Höhe von der Einkommensteuer freizustellen.
Nach diesen Maßstäben ist der Familienleistungsausgleich für ein Kind im Veranlagungszeitraum 1985 verfassungswidrig. Der existenznotwendige Mindestbedarf für ein Kind im Veranlagungszeitraum 1985 beträgt danach 3.924 DM. Dieser Mindestbedarf errechnet sich aus dem Sozialhilferegelsatz für Kinder in Höhe von 235 DM, einmaligen Leistungen in Höhe von 35 DM, einem Mietmehrbedarf in Höhe von 46 DM und Heizkosten in Höhe von 11 DM für jedes Kind pro Monat. Daraus ergibt sich ein Monatsbedarf von 327 DM, ein Jahresbedarf von 3.924 DM. Das Einkommensteuergesetz berücksichtigt den Bedarf des Kindes der Beschwerdeführer jedoch - unter Zugrundelegung ihres individuellen Grenzsteuersatzes - nur in Höhe von 3.682 DM und bleibt damit um 242 DM hinter der von Verfassungs wegen erforderlichen Mindestberücksichtigung zurück.
Die Abweichungen des gesetzlich berücksichtigten vom verfassungsrechtlich gebotenen Mindestbedarf gibt nachstehende Tabelle zusammenfassend wieder:


    BVerfGE 99, 268 (272):

    Veranlagungszeitraum 1985 1 Kind
    gesetzliche Berücksichtigung bei Grenzsteuersatz: Bedarf, Differenz
    30 % 4.432: 3.924, + 508
    40 % 3.932: 3.924, + 8
    44 % 3.795: 3.924, - 129
    48 % 3.682: 3.924, - 242
    50 % 3.632: 3.924, - 292
    56 % 3.503: 3.924, - 421
II.
Das Verfahren war an den Bundesfinanzhof zurückzuverweisen. In dem Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung der Revision der Beschwerdeführer ist zwar mit dieser Entscheidung die von ihnen ursprünglich geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung entfallen; der Zugang zur Revision ist aber auch ihnen aufgrund der nun vorliegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eröffnet, weil die angegriffene Entscheidung des Finanzgerichts von dieser Entscheidung abweicht (nachträgliche Divergenz, vgl. § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO).
Der Bundesfinanzhof wird zu prüfen haben, ob er die Einkommensteuer der Beschwerdeführer auch ohne gesetzliche Änderung des § 54 Abs. 1 EStG in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 1991 entsprechend dem Grundgedanken der §§ 163, 227 AO in der Höhe erlassen kann, die sich ergäbe, wenn das von Verfassungs wegen zu berücksichtigende Kindesexistenzminimum in Form eines Kinderfreibetrages um 242 DM erhöht wäre.
Das Bundesverfassungsgericht hat eine Verfassungspflicht zum Billigkeitserlaß festgestellt, wenn die Anwendung eines nicht zu beanstandenden Gesetzes in Einzelfällen zu einem "ungewollten Überhang" führen würde (vgl. z.B. BVerfGE 48, 102 [116]). In ähnlicher Weise könnte der Bundesfinanzhof sich zu der Prüfung ver

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anlaßt sehen, im Ausgangsverfahren und in allen bei ihm anhängigen Parallelverfahren eine verfassungsrechtlich veranlaßte Herabsetzung der Steuerschuld zu prüfen, die auch ohne Durchführung eines getrennten Billigkeitsverfahrens den dort das Revisionsverfahren führenden Eltern ihr verfassungsrechtlich gebotenes Kindesexistenzminimum gewährt und damit eine gesetzliche Neuregelung mit Wirkung für zurückliegende Veranlagungsjahre in wenigen Fällen erübrigt. Anderenfalls wäre der Gesetzgeber verpflichtet, in den noch nicht bestandskräftig gewordenen Fällen die Benachteiligung der betroffenen Steuerpflichtigen zu beheben. In jedem Fall steht es ihm frei, die verfassungsrechtlich gebotene Änderung durch eine Anhebung des einkommensteuerlichen Kinderfreibetrages, durch eine Anhebung des Kindergeldes oder durch eine anderweitige Ausgleichsregelung vorzunehmen (vgl. BVerfGE 82, 60 [97]; 82, 198 [208]).
 
C.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Limbach, Kirchhof, Winter, Sommer, Jentsch, Hassemer, Broß, Osterloh