BGer 9C_765/2016
 
BGer 9C_765/2016 vom 27.01.2017
9C_765/2016 {T 0/2}
 
Urteil vom 27. Januar 2017
 
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichterin Glanzmann, Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.
 
Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,
gegen
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 7. November 2016.
 
Sachverhalt:
A. Mit Verfügung vom 23. Dezember 2013 sprach die IV-Stelle des Kantons St. Gallen A.________ mit Wirkung ab 1. Mai 2008 aufgrund eines ermittelten Invaliditätsgrades von 45 % eine Viertelsrente der Invalidenversicherung zu.
B. Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 7. November 2016 teilweise gut. Es hob die Verfügung vom 23. Dezember 2013 auf und sprach A.________ mit Wirkung ab 1. Mai 2008 eine halbe Invalidenrente zu (ermittelter Invaliditätsgrad: 54 %). Zur Festsetzung der Rentenbeträge wies es die Sache an die IV-Stelle zurück.
C. Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und ihre Verfügung zu bestätigen. Der Beschwerde sei insoweit die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, als der Versicherten ab 1. Mai 2008 mehr als eine Viertelsrente zugesprochen wurde.
 
Erwägungen:
1. Das kantonale Gericht hat die Sache unter Aufhebung der Verfügung vom 23. Dezember 2013 zur Berechnung der halben Rente an die IV-Stelle zurückgewiesen. Formell handelt es sich demnach um einen Rückweisungsentscheid. Dient die Rückweisung - wie hier - nur noch der Umsetzung des oberinstanzlich Angeordneten und verbleibt der unteren Instanz somit kein Entscheidungsspielraum mehr, handelt es sich materiell nicht, wie bei Rückweisungsentscheiden sonst grundsätzlich der Fall, um einen Zwischenentscheid, der bloss unter den Voraussetzungen der Art. 92 oder 93 BGG beim Bundesgericht anfechtbar wäre, sondern um einen Endentscheid im Sinne von Art. 90 BGG (BGE 135 V 141 E. 1.1 S. 143). Auf die Beschwerde ist daher einzutreten (Art. 90 BGG).
2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
3. Streitig und zu prüfen ist aufgrund der Vorbringen der beschwerdeführenden IV-Stelle allein, ob die Vorinstanz im Rahmen der Invaliditätsbemessung mittels Einkommensvergleichs beim Invalideneinkommen zu Recht einen Abzug vom Tabellenlohn vorgenommen hat.
 
4.
4.1. Wird das Invalideneinkommen auf der Grundlage von statistischen Durchschnittswerten ermittelt, ist der entsprechende Ausgangswert (Tabellenlohn) allenfalls zu kürzen. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass persönliche und berufliche Merkmale wie Art und Ausmass der Behinderung, Lebensalter, Dienstjahre, Nationalität oder Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad Auswirkungen auf die Lohnhöhe haben können. Der Abzug soll nicht automatisch, sondern nur dann erfolgen, wenn im Einzelfall Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die versicherte Person wegen eines oder mehrerer dieser Merkmale ihre gesundheitlich bedingte (Rest-) Arbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur mit unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg verwerten kann (BGE 126 V 75 E. 5b/aa S. 79 f.). Er ist unter Würdigung der Umstände im Einzelfall nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen und darf 25 % nicht übersteigen (BGE 134 V 322 E. 5.2 S. 327 f.; 126 V 75 E. 5b/bb S. 80).
4.2. Die Frage, ob ein Abzug vom Tabellenlohn vorzunehmen ist, stellt eine vom Bundesgericht frei zu prüfende Rechtsfrage dar (BGE 137 V 71 E. 5.1 S. 72).
 
5.
5.1. Die Vorinstanz führte zur Begründung des von ihr gewährten Abzuges von 15 % vom Tabellenlohn an, das Spektrum der zumutbaren Tätigkeiten werde durch die leidensbedingten Anforderungen erheblich eingeschränkt; es sei ein erhöhtes Absenzrisiko ausgewiesen. Ein ökonomisch denkender potentieller Arbeitgeber werde bei der Bemessung des Lohnes, den er der Versicherten ausrichten würde, dem Umstand Rechnung tragen, dass mit einem überdurchschnittlichen Mass an Krankheitsabsenzen oder kurzzeitigen Arbeitsunterbrüchen zu rechnen sei, so dass die Arbeitsleistung der Versicherten unter derjenigen einer gesunden Mitarbeiterin mit demselben Beschäftigungsgrad liegen könne. Bereits die Gefahr einer solcherart unterdurchschnittlichen Arbeitsleistung müsste bei einer rein ökonomischen Vorgehensweise als zusätzlicher Lohnaufwand qualifiziert und durch die Ausrichtung eines entsprechend unterdurchschnittlichen Lohnes kompensiert werden. Unterbleibe ein entsprechender Abzug, wäre ein Teil des Gehalts der Versicherten als Soziallohn zu qualifizieren. Die Berücksichtigung eines Soziallohnanteils würde aber den Einkommensvergleich zu Lasten der Versicherten in rechtswidriger Weise verzerren.
5.2. Die IV-Stelle wendet ein, aus dem von der Vorinstanz als beweiskräftig erachteten psychiatrischen Gutachten des Dr. med. B.________, Facharzt Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 28. Dezember 2011 ergäben sich keine Anhaltspunkte für ein erhöhtes Krankheitsrisiko. Die verminderte psychische Belastbarkeit sei bereits im Rahmen der Arbeitsfähigkeit berücksichtigt und stelle praxisgemäss keinen Faktor dar, der einen Abzug rechtfertige.
5.3. Den Vorbringen der IV-Stelle ist vollumfänglich beizupflichten. Dr. med. B.________ erwähnte in seinem Gutachten vom 28. Dezember 2011 mit keinem Wort die Gefahr vermehrter krankheitsbedingter Absenzen und auch implizit lässt sich aus seinen Ausführungen kein erhöhtes Krankheitsrisiko herauslesen, so dass die entsprechende vorinstanzliche Feststellung jeglicher Grundlage entbehrt. Das kantonale Gericht geht offensichtlich noch immer davon aus, dass psychisch beeinträchtigte Versicherte generell ein hohes Risiko von vermehrten gesundheitlichen Absenzen hätten und dass diesem Umstand mit einem Abzug von 15 % Rechnung zu tragen sei. Die Vorinstanz wurde indessen in der Vergangenheit wiederholt - SVR 2010 IV Nr. 28 S. 87, 9C_708/2009 E. 2.3.2; Urteile 9C_437/2015 vom 30. November 2015 E. 2.4, 9C_380/2015 vom 17. November 2015 E. 3.2.1, 9C_677/2012 vom 3. Juli 2013 E. 2.2, 9C_11/2012 vom 28. Februar 2012 E. 2.2.4, 8C_283/2011 vom 26. Mai 2011 E. 4 in fine und 8C_144/2010 vom 4. August 2010 E. 5.3 - darauf hingewiesen, dass diese Rechtsauffassung unzutreffend ist. Vorab ist statistisch nicht belegt, dass Erwerbstätige mit aus gesundheitlichen Gründen eingeschränkter Arbeitsfähigkeit längere krankheitsbedingte Absenzen aufweisen als uneingeschränkt Arbeitsfähige und dass es deshalb zu Lohneinbussen kommt. Sodann wird der verminderten psychischen Belastbarkeit bereits im Rahmen der Arbeitsfähigkeitsschätzung Rechnung getragen. Ein allfälliges Risiko von vermehrten Absenzen aus gesundheitlichen Gründen gilt deshalb praxisgemäss nicht als eigenständiges Abzugskriterium.
5.4. Ohne Berücksichtigung des von der IV-Stelle nach dem Gesagten zu Recht beanstandeten Abzuges vom Tabellenlohn resultiert gemäss dem angefochtenen Entscheid ein Invalideneinkommen von Fr. 31'076.-. Wird dieses dem unbestritten gebliebenen Valideneinkommen von Fr. 57'850.- gegenübergestellt, resultiert ein Invaliditätsgrad von 46 %, welcher Anspruch auf die von der IV-Stelle zugesprochene Viertelsrente verleiht (Art. 28 Abs. 2 IVG).
6. Die Beschwerde ist offensichtlich begründet, weshalb sie im vereinfachten Verfahren nach Art. 109 BGG mit summarischer Begründung erledigt wird. Angesichts der klaren Rechtslage kann von einem weitergehenden Schriftenwechsel abgesehen werden (Art. 102 BGG).
7. Mit dem Entscheid in der Sache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegenstandslos.
8. Auf die Erhebung von Gerichtskosten wird umständehalber verzichtet (Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BGG).
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 7. November 2016 wird aufgehoben und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom  23. Dezember 2013 bestätigt.
2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hat die Gerichtskosten und die Parteientschädigung für das vorangegangene Verfahren neu festzusetzen.
4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 27. Januar 2017
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Pfiffner
Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann