BGE 113 V 61
 
10. Auszug aus dem Urteil vom 6. Februar 1987 i.S. Alpina gegen B. und Versicherungsgericht des Kantons Zürich
 
Regeste
Art. 37 Abs. 1 UVG, Art. 9 Abs. 1 und Art. 48 UVV.
 
Sachverhalt
A.- B. war durch seine Arbeitgeberin obligatorisch gegen Unfall versichert, dies bei den Alpina-Versicherungen. Wegen beruflicher Schwierigkeiten im Zusammenhang mit einer von der Arbeitgeberin im September 1984 auf Ende März 1985 ausgesprochenen Kündigung geriet er in einen schweren Verzweiflungszustand, der nach verschiedenen suizidalen Handlungen am 26. Februar 1985 eine notfallmässige Hospitalisierung in der Psychiatrischen Klinik L. erforderlich machte. Am 5. März 1985 fand ein Gespräch zwischen dem Leiter des Psychologischen Dienstes der Klinik und der Ehefrau des Versicherten statt, wobei vereinbart wurde, dass B. in einem Vorraum des Besprechungszimmers auf seine Gattin warten würde. Er stieg jedoch nach einigen Minuten durch eine schmale Fensterluke in der neben dem Warteraum gelegenen Toilette auf das Vordach des zweiten Stockes, von wo er sich auf den Hof hinunterstürzte. Er zog sich dabei verschiedene Frakturen zu, die im Spital T. behandelt wurden. Nach Einholung von Auskünften beim Leiter des Psychologischen Dienstes an der Psychiatrischen Klinik L. und nach Beizug eines Gutachtens des Prof. Dr. med. K., Direktor der Psychiatrischen Poliklinik am Universitätsspital Z., gelangte die Alpina zur Auffassung, der Versicherte sei beim Sturz am 5. März 1985 nicht völlig urteilsunfähig gewesen, weshalb kein Unfall im Rechtssinne vorliege. Mit dieser Begründung lehnte die Alpina am 26. Juni 1985 verfügungsweise die Zusprechung der gesetzlichen Leistungen ab, woran sie mit Einspracheentscheid vom 15. August 1985 festhielt.
B.- Der Versicherte erhob hiegegen Beschwerde, wobei er u.a. ein Attest des Dr. med. G., Konsiliarius für Psychiatrie und Psychotherapie am Spital T., einreichte. Das Versicherungsgericht des Kantons Zürich bejahte das Vorliegen eines Unfalles im Rechtssinne, hiess die Beschwerde gut und verpflichtete die Alpina, dem Versicherten für die Folgen des Sturzes vom 5. März 1985 die gesetzlichen Leistungen zu erbringen (Entscheid vom 8. April 1986).
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Alpina die Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides.
Der Versicherte lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen, ebenso das Bundesamt für Sozialversicherung.
 
Aus den Erwägungen:
2. a) Die Zusprechung von Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung setzt grundsätzlich das Vorliegen eines Berufsunfalles, Nichtberufsunfalles oder einer Berufskrankheit voraus (Art. 6 Abs. 1 UVG). Als Unfall gilt die plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper (Art. 9 Abs. 1 UVV). Hat der Versicherte den Gesundheitsschaden oder den Tod absichtlich herbeigeführt, so besteht gemäss Art. 37 Abs. 1 UVG kein Anspruch auf Versicherungsleistungen, mit Ausnahme der Bestattungskosten. Wollte sich jedoch der Versicherte nachweislich das Leben nehmen oder sich selbst verstümmeln, so findet Art. 37 Abs. 1 UVG insbesondere dann keine Anwendung, wenn der Versicherte zur Zeit der Tat ohne Verschulden gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln (Art. 48 UVV).
b) (Nach der Rechtsprechung zu Art. 67 Abs. 1 KUVG gilt der Suizid als Unfall, wenn die zum Tode führende Handlung in einem von der betreffenden Person nicht verschuldeten Zustand völliger Unzurechnungsfähigkeit begangen worden ist; vgl. BGE 100 V 79 Erw. 1b.)
c) Der Unfallbegriff gemäss Art. 9 Abs. 1 UVV stimmt mit jenem der unter der Herrschaft des KUVG ergangenen Rechtsprechung materiell überein (MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 164 und S. 167 f.). Hingegen ist bei der unfallversicherungsrechtlichen Behandlung von Selbsttötung und Suizidversuch zu beachten, dass nach dem neuen Recht der Verordnungsgeber selber die Voraussetzungen umschrieben hat, unter denen diese Tatbestände ausnahmsweise als leistungsbegründende Unfälle gelten.
Dies hat der Bundesrat im erwähnten Art. 48 UVV getan, welcher - entgegen seinem Wortlaut - nicht das Anwendungsgebiet des Art. 37 Abs. 1 UVG einschränkt, sondern - von seinem materiellen Gehalt her - den allgemeinen Unfallbegriff gemäss Art. 9 Abs. 1 UVV ergänzt. Dazu war der Bundesrat befugt. Zu berücksichtigen ist, dass diese Bestimmung im Rahmen einer Selbsttötung oder eines Suizidversuches auf die gänzliche Unfähigkeit des Versicherten abstellt, vernunftgemäss zu handeln. Damit geht der Verordnungsgeber eindeutig von der fehlenden Urteilsfähigkeit im Sinne des Art. 16 ZGB und nicht von der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit (Art. 10 f. StGB) aus, worauf Prof. Dr. med. K. mit zutreffenden Gründen hingewiesen hat (KIND, Suizid oder Unfall? Psychiatrische und versicherungsrechtliche Probleme, in: SZS 1986, S. 136 unten f.). Unter diesem Gesichtspunkt kann die zum KUVG ergangene Rechtsprechung, welche überwiegend die fehlende Zurechnungsfähigkeit für massgeblich erklärte (BGE 100 V 79 Erw. 1b mit Hinweisen; in den Rechtsprechungsbeilagen zu den SUVA-Jahresberichten auszugsweise wiedergegebene Urteile B. vom 7. August 1985 [1985 Nr. 3], L. vom 20. März 1984 [1984 Nr. 7] und C. vom 10. August 1982 [1982 Nr. 3]), nicht weitergeführt werden. Wo es um zwar schuldhaftes, strafrechtlich aber unerhebliches Verhalten des Versicherten geht, stellt das Sozialversicherungsrecht auch ausserhalb des Bereichs von Selbsttötung und Suizidversuch nicht auf die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit, sondern auf die Urteilsfähigkeit ab, wobei diese in bezug auf die in Frage stehende konkrete Handlung und unter Würdigung der bei ihrer Vornahme herrschenden objektiven und subjektiven Verhältnisse zu prüfen ist (BGE 112 V 100 Erw. 2a in fine mit Hinweis; RKUV 1985 Nr. K 609 S. 3). Bei der Prüfung der Urteilsfähigkeit ist sodann die Frage, ob die Tat ohne Wissen und Willen erfolgt sei, nicht entscheidend; denn eine Absicht, und sei es auch nur in Form eines völlig unreflektierten, dumpfen Willensimpulses, ist stets festzustellen, sonst liegt keine Selbsttötung bzw. kein Suizidversuch vor (KIND, a.a.O., S. 136). Massgeblich ist einzig, ob im entscheidenden Moment jenes Minimum an Besinnungsfähigkeit zur kritischen, bewussten Steuerung der endothymen (d.h. vor allem der triebhaften innerseelischen) Abläufe vorhanden war (KIND, a.a.O., S. 138 unten f.). Damit eine Leistungspflicht des Unfallversicherers entsteht, muss mit andern Worten eine Geisteskrankheit, Geistesschwäche usw. nachgewiesen sein, welche im Zeitpunkt der Tat, unter Berücksichtigung der herrschenden objektiven und subjektiven Umstände sowie in bezug auf die in Frage stehende Handlung, die Fähigkeit gänzlich aufgehoben hat, vernunftgemäss zu handeln. Ob eine solche Urteilsfähigkeit nach dem Wortlaut des Art. 48 UVV die Anwendung von Art. 37 Abs. 1 UVG nur dann ausschliesst, wenn sie ohne Verschulden des Versicherten besteht, was MAURER als kaum gesetzeskonform bezeichnet (a.a.O., S. 197), braucht hier nicht entschieden zu werden, weil diese einschränkende Voraussetzung vorliegend keine Rolle spielt.
3. a) Im vorliegenden Fall hat die Psychiatrische Klinik L. im Anschluss an die notfallmässige Einweisung des Beschwerdegegners am 26. Februar 1985 folgende Diagnose gestellt: schwere Depression, Berufsproblematik, Suizidalität, Verfolgungsgedanken. Im Administrativgutachten vom 14. Mai 1985 ergänzte Prof. Dr. med. K., dass der Beschwerdegegner in L. an einer paranoiden depressiven Psychose gelitten habe, die auf dem Untergrund einer depressiv-zwanghaften Persönlichkeit entstanden sei; es bestehe kein Zweifel, dass der Versicherte in jenen Tagen von einem unkorrigierbaren Wahndenken beherrscht gewesen sei, weil er glaubte, für hohe finanzielle Verluste und eine Misswirtschaft seiner Arbeitgeberfirma verantwortlich gemacht zu werden. Als er am 5. März 1985 mit seiner Ehefrau zum Büro des behandelnden Psychologen gegangen sei, habe er vor dem Haus ein Auto mit einer Zürcher Nummer gesehen. Zu dem nun folgenden Geschehen nahm Prof. Dr. med. K. folgendermassen Stellung:
"Nun kam ihm nach seinen Angaben plötzlich der
Gedanke, jetzt stehe die entscheidende Verhandlung mit seiner Frau über
sein Schicksal bevor und man würde ihn ins Gefängnis bringen. Dieser
Gedanke habe ihn in blinder Panik beherrscht, so dass er nur noch den
Suizid als Ausweg gesehen habe. In dieser Verfassung habe er sich aus dem
Warteraum in die anschliessende Toilette gestürzt und von dort durch das
enge Fenster in die Tiefe. Der Explorand gibt jetzt ohne weiteres zu, dass
er sich das Leben nehmen wollte. Das Motiv zu dieser Suizidhandlung war
aufgrund der Zusammenhänge eindeutig in den depressiven Wahnideen
begründet...
Alle mir zugegangenen Informationen weisen darauf hin, dass der
Explorand im Zeitpunkt der Suizidhandlung diese kritische Steuerung seines
Handelns nicht mehr besessen hat. Nur so lässt sich erklären, dass er sich
aus dem engen Toilettenfenster zwängte, gewissermassen auf blinder Flucht
in den Tod, vermutlich weil er glaubte, vor der Haustür warte bereits das
Auto, um ihn abzuholen. Es sei ihm also ein anderer Ausweg versperrt.
Diese letztere Interpretation ist zwar eine Vermutung, weil der Explorand
keine klare Erinnerung an seine inneren Erlebnisse vor dem
Sturz in die Tiefe hat. Er weiss nur, dass er in blinder Panik war, im Tod
den einzigen Ausweg sah, um dem Schicksal der Verurteilung oder Versenkung
zu entgehen. Dass es sich um einen schwer wahnhaften, psychotischen
Zustand gehandelt hat, wird auch durch den Umstand bewiesen, dass er nach
dem Sturz noch während längerer Zeit angehalten hat. Erst durch eine
Behandlung mit hohen Dosen eines Psychopharmakons beruhigte sich der
Explorand im Spital T. und bekam Abstand von seinem Wahndenken. Im Sinne
des ZGB muss der Explorand m. E. für seine Suizidhandlung als völlig
urteilsunfähig bezeichnet werden."
b) Auf diese schlüssigen und einleuchtenden fachärztlichen Darlegungen ist abzustellen. Die Beschwerdeführerin bringt nichts vor, was an der Stellungnahme des Prof. Dr. med. K. erhebliche Zweifel wecken könnte. Insbesondere bestehen keine Anhaltspunkte für eine Voreingenommenheit des Administrativexperten. Dass sich, wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend gemacht wird, der Zustand des Beschwerdegegners in den Tagen nach der Klinikeinweisung gebessert haben soll und dass eine Selbsttötung oder ein Suizidversuch nicht erwartet wurde, ändert nichts daran, dass der seelisch kranke Versicherte durch die Umstände am 5. März 1985 in panische Angst geriet und jegliche vernünftige Einsicht über die tatsächliche Lage verlor. Schliesslich deckt sich die Stellungnahme des Prof. Dr. med. K. mit den übrigen, in den Akten befindlichen Unterlagen, insbesondere mit dem Attest des Dr. med. G. vom 12. November 1985, welcher den Beschwerdegegner nach dem Unfall als psychiatrischer Konsiliarius im Spital T. betreute und aus eigenen Untersuchungen ein schweres depressives Zustandsbild mit paranoiden Zügen diagnostizierte, das den Versicherten zwangsläufig zum Suizidversuch trieb. Bei dieser Aktenlage hat das kantonale Gericht zu Recht die Urteilsfähigkeit verneint, weshalb die Voraussetzungen des Art. 48 UVV erfüllt sind mit der Folge, dass die Beschwerdeführerin die gesetzlichen Leistungen zuzusprechen hat.