BGE 122 IV 173
 
25. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 3. Mai 1996 i.S. P. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden (Nichtigkeitsbeschwerde)
 
Regeste
Art. 90 Ziff. 2 und Art. 32 Abs. 1 SVG, Art. 4a Abs. 1 lit. c VRV; grobe Verkehrsregelverletzung, Überschreiten der Höchstgeschwindigkeit auf einer nicht richtungsgetrennten Autostrasse.
 
Sachverhalt
A.- Am 7. Februar 1995 um 14.29 Uhr überschritt P. mit seinem Personenwagen "Saab 9000 Aero" auf der Autostrasse N13 in Pignia, Richtung Nord, die signalisierte Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um 31 km/h (nach Abzug der Sicherheitsmarge von 6 km/h).
Die nicht richtungsgetrennte, in beiden Fahrtrichtungen je zweispurige Autostrasse weist bei der Messstelle eine leichte Linksbiegung auf und ist übersichtlich. Die beiden Fahrstreifen der Nordspur sind insgesamt 6,1 Meter breit. Im Zeitpunkt der Geschwindigkeitsmessung war die Strasse trocken, die Sicht gut und das Verkehrsaufkommen gering. Konkret gefährdet wurde niemand.
B.- Mit Strafmandat vom 23. März 1995 verurteilte der Kreispräsident Schams P. wegen grober Verletzung von Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG (SR 741.01) zu Fr. 5'000.-- Busse. Auf Einsprache von P. hin bestätigte der Kreisgerichtsausschuss Schams am 21. Juni 1995 den Schuldspruch der groben Verletzung von Verkehrsregeln, reduzierte aber die Busse auf Fr. 4'000.--.
C.- Eine von P. dagegen erhobene Berufung wies der Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden am 27. September 1995 ab.
D.- P. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag das Urteil des Kantonsgerichtsausschusses aufzuheben; er sei der einfachen Verletzung von Verkehrsregeln gemäss Art. 90 Ziff. 1 SVG schuldig zu sprechen und dafür mit einer angemessenen Busse zu bestrafen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
 
Aus den Erwägungen:
bb) Gemäss Art. 90 Ziff. 1 SVG wird mit Haft oder mit Busse bestraft, wer Verkehrsregeln dieses Gesetzes oder der Vollziehungsvorschriften des Bundesrates verletzt. Nach Art. 90 Ziff. 2 SVG wird mit Gefängnis oder mit Busse bestraft, wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt.
Gemäss Art. 16 Abs. 2 SVG kann der Führer- oder Lernfahrausweis entzogen werden, wenn der Führer Verkehrsregeln verletzt und dadurch den Verkehr gefährdet oder andere belästigt hat (Satz 1). In leichten Fällen kann eine Verwarnung ausgesprochen werden (Satz 2). Der Führer- oder Lernfahrausweis muss entzogen werden, wenn der Führer den Verkehr in schwerer Weise gefährdet hat (Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG).
b) aa) Art. 90 Ziff. 2 SVG ist nach der Rechtsprechung objektiv erfüllt, wenn der Täter eine wichtige Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise missachtet und die Verkehrssicherheit abstrakt oder konkret gefährdet hat. Subjektiv erfordert der Tatbestand, dass dem Täter aufgrund eines rücksichtslosen oder sonstwie schwerwiegend regelwidrigen Verhaltens zumindest eine grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist. Eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG ist bereits bei einer erhöhten abstrakten Gefährdung gegeben. Die erhöhte abstrakte Gefahr setzt die naheliegende Möglichkeit einer konkreten Gefährdung oder Verletzung voraus (BGE 121 IV 230 E. 2b/aa mit Hinweisen).
Wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt, gefährdet in schwerer Weise den Verkehr im Sinne von Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG. Diese beiden Vorschriften stimmen inhaltlich miteinander überein (BGE 120 Ib 285).
bb) Nach der Rechtsprechung sind die Voraussetzungen von Art. 90 Ziff. 2 bzw. Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG ungeachtet der konkreten Umstände erfüllt, wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit um deutlich mehr als 30 km/h überschritten wird (BGE 121 IV 230 E. 2b/bb mit Hinweisen). Eine solche deutliche Überschreitung der Grenze von 30 km/h hat das Bundesgericht bejaht bei einem Fahrzeuglenker, der auf der Autobahn die Höchstgeschwindigkeit um 37 km/h überschritten hatte (BGE 118 IV 188). Wird die Höchstgeschwindigkeit um wenig mehr als 30 km/h überschritten, sind die konkreten Umstände zu prüfen (BGE 118 IV 188 E. 2b mit Hinweis).
Der Kassationshof hat im Herbst 1994 zu Fragen im Zusammenhang mit der Verletzung von Geschwindigkeitsvorschriften Experten angehört und mit ihnen eine Aussprache durchgeführt. Im Anschluss daran äusserte er sich in BGE 121 II 127 zu den besonderen Gefahren übersetzter Geschwindigkeit innerorts. Er schützte den Entscheid der kantonalen Behörde, die einen mittelschweren Fall nach Art. 16 Abs. 2 Satz 1 SVG annahm bei einer Fahrzeuglenkerin, welche die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h innerorts um 27 km/h überschritten hatte. Er liess offen, ob nicht sogar ein schwerer Fall nach Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG anzunehmen gewesen wäre, da eine Erhöhung der Dauer des Führerausweisentzugs aus prozessualen Gründen ausser Betracht fiel (E. 4d).
In BGE 121 IV 230 ging der Kassationshof ein auf die besonderen Gefahren der Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit ausserorts. Er legte dar, dass zu einer Milderung der Rechtsprechung, wonach bei Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um deutlich mehr als 30 km/h ungeachtet der konkreten Umstände eine grobe Verkehrsregelverletzung anzunehmen ist, kein Anlass besteht. Fragen könne man sich höchstens, ob die Praxis zu verschärfen und angesichts der insoweit teilweise abweichenden Gefahrenlage künftig danach zu unterscheiden sei, ob die Geschwindigkeitsvorschriften innerorts, ausserorts oder auf der Autobahn missachtet wurden (E. 2c in fine).
c) Die Rechtsprechung, wonach bei Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um deutlich mehr als 30 km/h die Voraussetzungen von Art. 90 Ziff. 2 bzw. Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG ungeachtet der konkreten Umstände gegeben sind, ist entwickelt worden ausgehend von einem Fall, der eine Überschreitung der signalisierten Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h auf der Autobahn betraf (BGE 104 Ib 49). Diese Rechtsprechung darf nicht unbesehen auf andere Konstellationen übertragen werden. Die gegenüber der Autobahn abweichende Gefahrenlage ist zu berücksichtigen. Bereits in BGE 104 Ib 49 wurde gesagt, dass es nicht belanglos ist, ob die Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn oder innerorts überschritten wurde, und man nicht im Sinne einer absoluten Regel annehmen kann, dass der, welcher auf der Autobahn die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 30 km/h überschreitet, dieselben Gefahren hervorruft wie der, welcher das innerorts tut (E. 3b).
d) Das Bundesgericht hat sich in seiner publizierten Rechtsprechung bisher nicht zu den Besonderheiten der Autostrasse geäussert. Autostrassen sind wie Autobahnen dem Motorfahrzeugverkehr vorbehalten und entsprechend signalisiert. Ausschliesslich für Autobahnen gilt dagegen, dass sie eine getrennte Fahrbahn für jede der beiden Richtungen aufweisen und frei sind von höhengleichen Kreuzungen (Art. 1 Abs. 3 VRV). Autobahnen haben also richtungsgetrennte Fahrspuren. Der Gegenverkehr ist durch einen Mittelstreifen, der in der Regel noch durch Leitplanken abgesichert ist, getrennt. Dadurch wird insbesondere das Risiko von Frontalkollisionen massiv eingeschränkt. Im vorliegenden Fall geht es dagegen um eine Autostrasse, deren Besonderheit verglichen mit der Autobahn aufgrund der bei den Akten liegenden Abbildungen deutlich wird: Es handelt sich um eine vierspurige Strasse, bei der die beiden Fahrspuren der einen Richtung von denen der Gegenrichtung lediglich durch eine aufgemalte Sicherheitslinie getrennt sind. Das Risiko einer Frontalkollision mit schweren Folgen ist hier deshalb wesentlich höher als auf der Autobahn. Eine Unfallauswertung von 78,4 km zweispurigen Autostrassen ergab denn auch, dass die Unfallschwere, ausgedrückt durch die Verunfalltenrate, auf solchen Strassen ca. 2,5 mal höher ist als auf den Autobahnen (Zwischentypen, Eine Untersuchung über mögliche Betriebsformen für Hochleistungsstrassen, ETH Zürich, Institut für Verkehrsplanung und Transporttechnik, IVT Bericht Nr. 83/2, S. 30 und 43).
Diese Besonderheit im Vergleich zur Autobahn rechtfertigt es, bei einer nicht richtungsgetrennten Autostrasse ungeachtet der konkreten Umstände eine grobe Verletzung von Verkehrsregeln gemäss Art. 90 Ziff. 2 SVG in objektiver Hinsicht bereits dann anzunehmen, wenn die Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um 30 km/h oder mehr überschritten wurde. Günstige Verhältnisse, die auf der Autobahn zur Verneinung einer groben Verkehrsregelverletzung führen können, wenn der Lenker die Höchstgeschwindigkeit um wenig mehr als 30 km/h überschritten hat, kann es auf der Autostrasse nur geben, soweit sie wie eine Autobahn richtungsgetrennt ist.
Wird auf einer nicht richtungsgetrennten Autostrasse die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um 30 km/h oder mehr überschritten, ist eine erhöhte abstrakte Gefahr zu bejahen, da die Möglichkeit der konkreten Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer naheliegt. Bei einer derartigen Geschwindigkeit besteht insbesondere ein erhebliches Risiko, dass der Lenker bei einem überraschenden Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer, wie etwa dem Wechsel auf die Überholspur, oder bei Hindernissen (Steine, Öllache usw.) nicht mehr sachgerecht reagieren kann und es deshalb zu einem Unfall kommt, bei dem Fahrzeuge auf die Gegenfahrbahn geraten. Ebenso kann bei einem solchen Tempo bereits eine vorübergehende Unaufmerksamkeit für eine Kollision auch mit entgegenkommenden Fahrzeugen genügen.
e) Die Vorinstanz nimmt an, dass der Beschwerdeführer vorsätzlich gehandelt hat. Dies ist in Anbetracht der massiven Geschwindigkeitsüberschreitung bundesrechtlich nicht zu beanstanden.
f) Nicht zu hören ist der Beschwerdeführer, soweit er vorbringt, hohe Geschwindigkeiten würden in seinem komfortablen und für eine Spitzengeschwindigkeit von 250 km/h gebauten Fahrzeug nicht wahrgenommen. Wer ein solches Auto fährt, muss gegebenenfalls in bezug auf die Einhaltung der Höchstgeschwindigkeit besondere Vorsicht walten lassen.
g) Die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen grober Verletzung von Verkehrsregeln gemäss Art. 90 Ziff. 2 SVG verletzt danach Bundesrecht nicht.