BGE 113 IV 1
 
1. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 11. März 1987 i.S. O. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn (Nichtigkeitsbeschwerde)
 
Regeste
Art. 13 StGB.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Der Verteidiger des Beschwerdeführers reichte im vorinstanzlichen Verfahren ein Privatgutachten von Dr. med. S. vom 23. Juni 1986 ein. Der Psychiater kam aufgrund seiner Untersuchungen, welche sowohl die "Vorgeschichte", insbesondere den Zeitraum der Straftaten, als auch den "heutigen Zustand" umfassten, zum Schluss, dass O. hinsichtlich der ihm vorgeworfenen Taten als in erheblichem Masse vermindert zurechnungsfähig zu gelten habe. Ausgehend von dieser Privatexpertise und einem eine Seite umfassenden Kurzbericht eines Militärpsychiaters aus dem Jahre 1982, welcher sich mit der Frage der Zurechnungsfähigkeit im Sinne vom Art. 11 StGB nicht zu befassen hatte, hielt die Vorinstanz für erstellt, der Beschwerdeführer leide an depressiven Zuständen, welche er durch Idealisierung der ihm wichtigen Objekte abwehre; mit einher gehe eine pathologische Einschränkung der Realitätswahrnehmung; der Drogenkonsum sei teilweise als Depressionsabwehr zu verstehen. Das Obergericht folgte Dr. S. jedoch bei dessen Beurteilung des Grades der verminderten Zurechnungsfähigkeit nicht und erachtete den Beschwerdeführer aufgrund der Akten und des anlässlich der Hauptverhandlung gewonnenen Eindruckes bloss als in leichtem Masse vermindert zurechnungsfähig.
Der Beschwerdeführer wirft der Vorinstanz eine Verletzung von Art. 13 StGB vor. Er macht geltend, bei dem von ihm eingelegten Bericht von Dr. S. handle es sich nicht um ein Sachverständigengutachten im Sinne dieser Bestimmung; als solches könne nur ein amtlich angeordnetes gelten, bei dem der Experte auf die strafrechtlichen Folgen einer wissentlich falschen Begutachtung aufmerksam gemacht worden sei; durch die Annahme einer leicht verminderten Zurechnungsfähigkeit habe das Obergericht das Bestehen rechtlich relevanter Zweifel im Sinne von Art. 13 StGB anerkannt; hinsichtlich des Grades der Herabsetzung hätte es deshalb entsprechend der bundesgerichtlichen Praxis (BGE 106 IV 242) eine psychiatrische Expertise anordnen müssen.
2. Art. 13 Abs. 1 StGB verpflichtet die Untersuchungs- oder urteilenden Behörde bei Zweifeln an der Zurechnungsfähigkeit des Beschuldigten eine Untersuchung anzuordnen; Abs. 2 legt fest, dass ein Sachverständiger mit der Untersuchung zu beauftragen ist. Der Begriff "Gutachten" kommt im Gesetzestext nicht vor. Wenn das Bundesgericht in BGE 106 IV 242 von Begutachtung bzw. vom Einholen eines Gutachtens spricht, wird damit bloss zum Ausdruck gebracht, dass der Sachverständigenbericht zumeist in der Form einer Expertise erstattet wird. Indessen ist es dem Richter nicht verwehrt, auf andere Weise als mittels eines Gutachtens die Zurechnungsfähigkeit abzuklären (vgl. BGE 81 IV 7 /8). Die Argumentation des Beschwerdeführers verkennt, dass das Bundesrecht den Begriff "Gutachten" nicht definiert und die Verletzung kantonaler Verfahrensbestimmungen zum Sachverständigenbeweis nicht mit eidg. Nichtigkeitsbeschwerde gerügt werden können (Art. 269 Abs. 1 BStP).
Auf den ersten Blick scheint der Gesetzestext ("Die Untersuchungs- oder die urteilende Behörde ordnet eine Untersuchung des Beschuldigten an ...") dafür zu sprechen, dass Art. 13 StGB den Richter bei Zweifeln über die Zurechnungsfähigkeit zum Beizug eines amtlich bestimmten Sachverständigen verpflichte. Eine solche Interpretation erweist sich jedoch aufgrund eines Vergleichs mit der vor 1971 gültigen Fassung von Art. 13 Abs. 1 StGB als zu eng. Die in diesem Punkt nur redaktionell, nicht aber inhaltlich geänderte Vorschrift lautete vor der Revision, der Richter lasse bei Zweifeln an der Zurechnungsfähigkeit des Beschuldigten dessen Geisteszustand untersuchen. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung verfolgt Art. 13 StGB denn auch nur den Zweck, zu verhindern, dass der Richter seine Zweifel hinsichtlich der Zurechnungsfähigkeit selber beseitigt; weil Sachverhaltsfeststellungen zum Geisteszustand des Beschuldigten besonderer Kenntnisse bedürfen, soll das Gericht über die Anwendung von Art. 10 und 11 StGB nur nach Anhörung eines Sachverständigen entscheiden (BGE 98 IV 157, 96 IV 88). Dies setzt aber nicht zwingend voraus, dass der Richter den Sachverständigen selbst bestimmt (vgl. VITAL SCHWANDER, Das Schweizerische Strafgesetzbuch, 1965, S. 105 Nr. 213). Inwieweit es nach Sinn und Zweck von Art. 13 StGB sinnvoll erscheinen mag, nur amtlich veranlasste Gutachten zuzulassen, braucht nicht erörtert zu werden; der Erlass solcher, nicht dem materiellen Recht, sondern dem Strafprozessrecht zuzurechnender Beweisvorschriften ist Sache der Kantone. Eine bundesrechtliche Regelung könnte nur bei Vorliegen einer ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmung angenommen werden; eine solche fehlt jedoch.
Mit der Feststellung, das Bundesrecht verbiete dem Richter grundsätzlich nicht, auf den Untersuchungsbericht eines nicht von ihm bestellten Sachverständigen abzustellen, ist die Frage noch nicht beantwortet, welche Anforderungen an einen Sachverständigenbericht hinsichtlich der Abklärungspflicht im Sinne von Art. 13 StGB zu stellen sind. Das Bundesgericht entschied in einem Fall, wo der Beschuldigte im Entmündigungsverfahren bereits psychiatrisch begutachtet worden war, es liege im Ermessen der kantonalen Behörden, auf die bestehende - auf Zurechnungsunfähigkeit erkennende - Expertise abzustellen oder einen neuen Sachverständigen zu bestimmen (BGE 71 IV 63). Der Richter wird vor der Heranziehung eines in einem andern Verfahren erstellten Gutachtens immerhin prüfen müssen, inwieweit die Feststellungen zum Geisteszustand des Exploranden für die Zeit der Tatbegehung zutreffen (BGE 106 IV 238/39 E. 2b) bzw. ob die Abklärungen des Experten die deliktische Tätigkeit und nötigenfalls den körperlichen und geistigen Zustand des Täters miterfassten. Auf einen nicht gerichtlich angeordneten Bericht darf er zudem nur abstellen, wenn der Sachverständige seine Expertise aufgrund weitgehend vollständiger Informationen (insbesondere hinsichtlich der konkreten Straftaten) erstattet hat und die durchgeführte Begutachtung umfassend erscheint (vgl. SCHWANDER, a.a.O.). Bestehen diesbezügliche Zweifel, gebietet die in Art. 13 StGB vorgesehene Abklärungspflicht dem Richter, eine neue Untersuchung durch einen Sachverständigen anzuordnen.
3. Der Beschwerdeführer macht nichts geltend, was einem Abstellen auf die von ihm selbst eingereichte Privatexpertise von Dr. S. entgegenstünde. Der Arzt berücksichtigte im Rahmen der umfangreichen Darstellung der "Vorgeschichte" die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Straftaten. Die gestützt darauf erfolgte Beurteilung des Geisteszustandes erachtete die Vorinstanz als vollständig. In welchem Ausmass die Zurechnungsfähigkeit infolge der vom Gutachter festgestellten Störungen im Sinne von Art. 11 StGB vermindert sei, ist jedoch eine Rechtsfrage, bei deren Beantwortung der Richter nicht an die diesbezüglichen Schlussfolgerungen des Experten gebunden ist. Wenn die Vorinstanz aufgrund aller Umstände, nicht nur gestützt auf das Gutachten, sondern auch aufgrund der Akten und des an der Hauptverhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks bloss eine leichte Verminderung annahm, war dies zumindest vertretbar.
Die Beschwerde ist somit als in allen Teilen unbegründet abzuweisen.