BGE 81 IV 296
 
64. Urteil des Kassationshofes vom 2. Dezembcr 1955 i. S. Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft gegen Bruggmann.
 
Regeste
Art. 45 Abs. 2, 49 Abs. 2 MFV.
Wann ist das Fahrzeug "aufgestellt"?
 
Sachverhalt
A.- Josef Bruggmann führte am 30. März 1954 kurz nach 17 Uhr einen Lastwagen mit Anhänger auf der gut ausgebauten und stark befahrenen Überlandstrasse von Pratteln Richtung Liestal. Auf der Strassenkuppe vor der Hülftensenke hielt er an und liess den Lastenzug drei bis vier Minuten am rechten Strassenrande stehen. Die Mitte der Strasse ist dort durch eine Sicherheitslinie und anschliessend daran in beiden Richtungen durch eine Leitlinie gekennzeichnet, da die Kuppe die Sicht auf entgegenkommende Strassenbenützer beeinträchtigt.
B.- Mit Strafbefehl vom 4. August 1954 büsste die Überweisungsbehörde des Kantons Basel-Landschaft Bruggmann wegen Übertretung des Art. 49 MFV mit Fr. 20.-. Sie warf ihm vor, er habe seinen Wagen an unübersichtlicher Stelle und seitlich der Sicherheitslinie stationiert.
Auf Einspruch Bruggmanns hob das Polizeigericht Liestal am 17. März 1955 den Strafbefehl auf und sprach den Beschuldigten frei.
Das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft wies am 7. Juni 1955 die Appellation der Staatsanwaltschaft ab und bestätigte den Freispruch. Zur Begründung führte es aus, der stehende Lastenzug habe auf der gut ausgebauten Überlandstrasse den Verkehr nicht erheblich behindert, da er von beiden Seiten auf grössere Entfernung gut sichtbar gewesen sei. Die Auffassung der Staatsanwaltschaft, dass im Bereiche einer Sicherheitslinie überhaupt nicht stationiert werden dürfe, gehe zu weit. Nach dem Kreisschreiben des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements vom 28. März solle wegen Überfahrens solcher Linien allein keine Strafanzeige erfolgen. Tatsächlich werde beispielsweise im Dorfe Itingen das Überfahren der Sicherheitslinien polizeilich toleriert, obschon dadurch der Verkehr dauernd erheblich gefährdet werde. Auch hätten im vorliegenden Falle der verzeigende Polizist und der ihn begleitende Polizeikommandant anhalten und den Führer auf das angeblich vorschriftswidrige Stationieren aufmerksam machen und ihn zum sofortigen Weiterfahren veranlassen sollen. Dass sie es nicht taten, beweise, dass sie selber den Verkehr nicht als erheblich gefährdet angesehen hätten.
C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts sei wegen Verletzung von Art. 49 Abs. 2 und 3 und Art. 45 MFV aufzuheben.
D.- Bruggmann beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen.
 
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. Nach Art. 49 Abs. 2 MFV sind Motorfahrzeuge so aufzustellen, dass sie den Verkehr nicht stören können. Wie der Kassationshof entschieden hat (BGE 77 IV 119), verbietet diese Bestimmung das Aufstellen von Motorfahrzeugen nicht überall dort, wo es den Verkehr irgendwie erschwert, sondern nur dort, wo es für ihn ein erhebliches Hindernis bildet, das trotz der den anderen Strassenbenützern zuzumutenden Aufmerksamkeit zu Unfällen Anlass geben oder andere in besonderem Masse hindern kann, ihren Weg fortzusetzen. Immerhin ist nicht nötig, dass die Unfallgefahr eine konkrete sei oder dass das aufgestellte Motorfahrzeug tatsächlich jemanden in unzumutbarer Weise an der Fortsetzung seines Weges hindere. Art. 49 Abs. 2 MFV richtet sich wie die anderen Verkehrsregeln des Gesetzes und der Verordnung schon gegen abstrakte Gefährdung des Verkehrs. Das kommt denn auch darin zum Ausdruck, dass die Bestimmung das Aufstellen von Motorfahrzeugen nicht nur dort verbietet, wo sie den Verkehr stören, sondern schon dort, wo sie ihn stören "können".
2. Nach ständiger Rechtsprechung des Kassationshofes darf an Sicherheitslinien vom Gebote des Rechtsfahrens nur aus zwingenden Gründen abgewichen werden, z.B. wenn ein anderes Fahrzeug wegen einer Panne die rechte Fahrbahn versperrt (BGE 79 IV 84und dort erwähnte Urteile). Hievon geht auch das Kreisschreiben des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements an die Kantonsregierungen vom 28. März 1939 aus. Die Vorinstanz verkennt das, wenn sie glaubt, das Departement habe Strafanzeige wegen Überfahrens von Sicherheitslinien als nicht erwünscht bezeichnet. Die Meinungsäusserung, dass wegen Überfahrens allein keine Strafanzeige eingereicht werden solle, bezieht sich auf den Fall, dass die Linie "nach den gegebenen Strassenverhältnissen nicht als Sicherheitslinie im Sinne von Art. 45 Abs. 2 MFV gedacht ist". Dass da, wo eine Sicherheitslinie besteht, das Überfahren nicht geahndet werden solle, liesse sich denn auch angesichts der klaren Bestimmung des Art. 45 Abs. 2 MFV nicht vertreten. Auch bleibt kein Raum mehr zur Annahme, eine Linie sei je "nach den gegebenen Strassenverhältnissen" am einen Ort Sicherheitslinie und am andern nicht. Ob sie es ist, hängt nur von ihrem Aussehen ab. Nach den Normen der Vereinigung schweizerischer Strassenfachmänner sind Sicherheitslinien mit weisser Farbe durchgezogen und 10-20 cm breit, wodurch sie sich deutlich von den unterbrochenen Leitlinien unterscheiden (vgl.BGE 79 IV 81ff.).
Darf der Führer eines Motorfahrzeuges ohne zwingenden Grund die Sicherheitslinie nicht überfahren, ja sich ihr nicht einmal so stark nähern, dass er entgegenkommende Strassenbenützer gefährden könnte (vgl. BGE 81 IV 172 f.), so versteht es sich, dass im Bereiche solcher Linien Fahrzeuge jedenfalls dann nicht aufgestellt werden dürfen, wenn der Raum zwischen dem Fahrzeug und der Linie zu eng ist, um anderen ungehindert die Beachtung des Art. 45 Abs. 2 MFV zu gestatten. Die Verordnung kann nicht einerseits ausdrücklich vorschreiben, dass rechts der Sicherheitslinien gefahren werden müsse, und anderseits gestatten wollen, dass andere durch Aufstellen von Fahrzeugen die Einhaltung des Gebotes verunmöglichen. In diesem Sinne hat der Kassationshof schon bisher entschieden (unveröffentlichtes Urteil vom 4. Dezember 1953 i.S. Primavesi). Diese Auslegung des Art. 49 Abs. 2 MFV entspricht auch dem Geiste des Art. 49 Abs. 3, der das Aufstellen von Motorfahrzeugen unter anderem an engen Strassenstellen untersagt. Wo eine Sicherheitslinie den Verkehr teilt, soll dieser sich so abwickeln, dass kein Fahrzeug die dem Gegenverkehr vorbehaltene Strassenseite beanspruchen muss. Die sich daraus ergebende Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit darf wie an engen Strassenstellen nicht durch aufgestellte Fahrzeuge noch weiter eingeschränkt werden, so dass andere auf ihrer Fahrbahn nicht mehr ordnungsgemäss verkehren können.
Eine Ausnahme ist selbst dann nicht zu machen, wenn der Blick auf das aufgestellte Fahrzeug von keiner Seite beeinträchtigt ist. Denn der Zweck, dem die Sicherheitslinie zu dienen hat, besteht weiter. In der Regel wird diese angebracht, weil die Sicht vom fahrenden Wagen auf den Gegenverkehr oder auf die von der Seite einmündenden Fahrzeuge beschränkt ist. Durch Aufstellen von Fahrzeugen im Bereiche der Sicherheitslinie wird diese Sicht um nichts verbessert, oft sogar verschlechtert. In anderen Fällen soll die Sicherheitslinie lediglich die Flüssigkeit des Verkehrs fördern, z.B. wenn sie die Führer der Motorfahrzeuge anweist, die Strassenbahngeleise freizulassen (vgl.BGE 79 IV 79ff.). Auch dieser Zweck könnte durch Aufstellen von Fahrzeugen im Bereiche von Sicherheitslinien vereitelt werden, selbst wenn das aufgestellte Fahrzeug von weitem sichtbar ist.
4. Aus dem angefochtenen Urteil und den Akten ergibt sich nicht, wie breit der Lastenzug und die Strasse auf der Kuppe vor der Hülftensenke sind. Indessen hat das Obergericht die Erklärung des Anzeigers, dass die Richtung Liestal fahrenden Wagen wegen des Lastenzuges gezwungen gewesen seien, die Sicherheitslinie zu überfahren, nicht widerlegt. Der Beschwerdegegner selber räumt ein, dass sie richtig sein könne. Er macht lediglich geltend, auf keinen Fall sei der gegen Liestal Fahrende gezwungen gewesen, die Linie so weit zu überfahren, dass dadurch der entgegenkommende Verkehr behindert oder gestört worden sei. Nach dem Gesagten kommt indessen darauf nichts an, womit auch der Schluss des Obergerichts, der Anzeiger und der ihn begleitende Polizeikommandant selbst hätten die Verkehrsgefährdung nicht für erheblich gehalten, ansonst sie den Beschwerdegegner sofort zur Weiterfahrt veranlasst hätten, gegenstandslos ist. Wie ausgeführt, ist sodann auch unerheblich, dass der Lastenzug von beiden Seiten auf ziemliche Entfernung sichtbar war.
Des weitern steht fest und gibt auch der Beschwerdegegner zu, dass die auf der Kuppe angebrachte Linie durchgezogen ist. Sie ist also Sicherheitslinie im Sinne des Art. 45 Abs. 2 MFV. Dass sie an beiden Enden an eine unterbrochene Leitlinie anschliesst, die den Strassenbenützer auf die Verhältnisse auf der Kuppe vorbereitet, ändert nichts. Entgegen der Annahme des Beschwerdegegners wird dadurch die Linie dort, wo sie durchgezogen ist - nach seinen Angaben auf etwa 80 m Länge - nicht ebenfalls zur Leitlinie.
Auch hat der Beschwerdegegner den Lastenzug nicht nur angehalten, sondern im Sinne des Art. 49 Abs. 2 MFV aufgestellt; denn er hat ihn für etwa drei bis vier Minuten verlassen, eine Zeitspanne, während der den gegen Liestal fahrenden Automobilisten nicht zugemutet werden konnte, hinter dem Lastenzug anzuhalten und zu warten.
Objektiv hat daher der Beschwerdegegner Art. 49 Abs. 2 MFV übertreten.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil der Polizeikammer des Obergerichts des Kantons Basel-Landschaft vom 7. Juni 1955 aufgehoben und die Sache zur Bestrafung des Beschwerdegegners wegen Übertretung des Art. 49 Abs. 2 MFV an die Vorinstanz zurückgewiesen.