BGE 122 III 66
 
14. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 21. Dezember 1995 i.S. S. gegen O. AG (Berufung)
 
Regeste
Agenturvertrag mit Alleinvertretungsrecht (Art. 418a ff. OR).
Die Kundschaftsentschädigung (Art. 418u OR) ist Ausgleich für den Geschäftswert (E. 3d).
 
Sachverhalt
Die O. AG (nachfolgend Klägerin), die Vertretungen und Agenturen auf dem Gebiet von Textilien übernimmt, und die Baumwollgarne produzierende S. (nachfolgend Beklagte) schlossen am 18. Februar 1988 einen sogenannten "Vertretungs-Vertrag". In diesem Vertrag wurde der Klägerin die Alleinvertretung der Produkte der Beklagten in der Bundesrepublik Deutschland, in Frankreich, Belgien und den Niederlanden übertragen; spätestens ab dem 1. Januar 1990 wurde die Alleinvertretung auch für Grossbritannien unwiderruflich zugesichert. Als Kommission wurden 3% aller direkten und indirekten Verkäufe in den genannten Gebieten vereinbart. Der Beginn des auf unbestimmte Dauer geschlossenen Vertrags wurde auf den 1. März 1988 festgelegt, wobei der Vertrag unter Einhaltung einer Frist von zwölf Monaten kündbar war. Für den Fall der Kündigung stand der Klägerin eine Entschädigung zu, deren Höhe einem Fünftel der in den letzten fünf Jahren bezahlten und zu bezahlenden Provisionen oder - falls der Vertrag noch keine fünf Jahre dauern würde - dem Gesamtwert der bezahlten und zu bezahlenden Provisionen dividiert durch die Jahre der Vertragsdauer entsprechen sollte.
Mit Schreiben vom 28. September 1990 kündigte die Beklagte den "Vertretungs-Vertrag" auf den 30. September 1991.
Die Klägerin gelangte an das Bezirksgericht Frauenfeld und verlangte, die Beklagte habe die Abrechnungen über die direkten und indirekten Verkäufe in der massgebenden Zeit vorzulegen sowie Einsicht in die entsprechenden Bücher und Belege zu geben; im weiteren beantragte sie die Zahlung von 3% des Verkaufswerts der erfolgten Bestellungen, soweit sie den Betrag von Fr. 1'087'125.-- übersteigen, und eine Entschädigung für die Vertragskündigung, die wie folgt zu berechnen sei:
"- zwölfdreiundvierzigstel von drei Prozent des Vertragswerts aller Bestellungen zwischen dem 1. März 1988 und dem 30. September 1991 von Kunden aus der Bundesrepublik Deutschland, aus Frankreich, Belgien und der Niederlande bei der Beklagten, sowie - zwölfeinundzwanzigstel von drei Prozent des Vertragswerts aller Bestellungen zwischen dem 1. Januar 1990 und dem 30. September 1991 von Kunden aus Grossbritannien bei der Beklagten soweit diese Summe den Betrag von Fr. 303'384.-- übersteigt."
Mit Urteil vom 14. August/8. Dezember 1993 schützte das Bezirksgericht Frauenfeld die Klage zur Hauptsache und stellte fest, dass die Beklagte verpflichtet sei, der Klägerin Fr. 601'404.30 nebst 9,25% Zins seit dem 1. Oktober 1991 und Fr. 271'160.90 nebst 9,25% Zins seit dem 1. Oktober 1991 zu zahlen. Die Begehren um Rechnungslegung und Einsicht in die Bücher wurden als gegenstandslos abgeschrieben. Im anschliessenden Berufungsverfahren bestätigte das Obergericht des Kantons Thurgau am 6. Oktober 1994 die vom Bezirksgericht zugesprochenen Beträge, setzte indes die Zinsen anders fest.
Die Beklagte reicht gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 6. Oktober 1994 eidgenössische Berufung ein und verlangt im wesentlichen Aufhebung des Urteils und Abweisung der Klage; allenfalls sei die Klage in einem geringeren Umfang gutzuheissen. Im Eventualantrag stellt sie den Antrag auf Rückweisung der Streitsache zur weiteren Abklärung und neuen Entscheidung.
Das Bundesgericht heisst die Berufung teilweise gut und weist die Streitsache an die Vorinstanz zurück.
 
Aus den Erwägungen:
a) Der Agent hat im Interesse des Auftraggebers tätig zu werden; im Rahmen eines Dauervertrags verpflichtet er sich zu getreuer und sorgfältiger Tätigkeit für den Auftraggeber (Art. 418a, 418c OR; WETTENSCHWILER, in: Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Obligationenrecht I, Art. 1-529 OR, N. 1 zu Art. 418c; GAUTSCHI, Berner Kommentar, N. 2a zu Art. 418c OR). Die vereinbarte Tätigkeit des Agenten bildet insoweit das Synallagma (WEBER, Berner Kommentar, N. 61 zu Art. 82 OR) zur Provision gemäss Art. 418g OR, die bei der Alleinvertretung bzw. Gebietszuweisung auf allen Geschäften des Auftraggebers im übertragenen Gebiet zu entrichten ist (Art. 418g Abs. 2 OR; BGE 76 II 45 E. 3 S. 50).
Bei einem zweiseitigen Vertrag muss nach Art. 82 OR derjenige, der den anderen zur Erfüllung anhalten will, entweder bereits erfüllt haben oder die Erfüllung anbieten, wenn er nicht nach dem Inhalt oder der Natur des Vertrags erst später zu erfüllen hat. Die Einrede des nicht erfüllten Vertrags setzt voraus, dass diejenige Partei, welche Erfüllung verlangt, (noch) zur Erbringung der eigenen Leistung verpflichtet ist (VON TUHR/ESCHER, Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligationenrechts, Bd. II, 3. Aufl., 1974, S. 61; WEBER, a.a.O., N. 127 ff. zu Art. 82 OR; SCHRANER, Zürcher Kommentar, N. 92 ff. zu Art. 82 OR). Namentlich wenn die Leistung der Klagpartei unmöglich geworden ist, wie dies für Arbeitsleistungen zutreffen kann, die - wie im vorliegenden Fall - während einer bestimmten Zeit zu erbringen sind, ist die Berufung auf die erfüllungshindernde Einrede des Art. 82 OR ausgeschlossen (VON TUHR/ESCHER, a.a.O.). Mit dem dilatorischen Charakter der Einrede wäre nicht vereinbar, sie im Schadenersatzprozess wegen Nichterfüllung in dem Sinn zuzulassen, der Kläger habe seinerseits nicht richtig angeboten (so aber BUCHER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., 1988, S. 310; GAUCH/SCHLUEP, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Bd. II, 5. Aufl., 1991, N. 2237). Vielmehr ist bei unmöglich gewordenen Gegenleistungen allenfalls die Einwendung zulässig, die eingeklagte Forderung sei nach Art. 119 Abs. 2 OR untergegangen (SCHRANER, a.a.O., N. 93 zu Art. 82 OR; ROBERT SIMMEN, Die Einrede des nicht erfüllten Vertrags (OR 82), Diss. Bern 1981, S. 51). Dass die Voraussetzungen von Art. 119 Abs. 2 OR erfüllt seien, hat die Beklagte nicht behauptet. Sie hat sich vielmehr im kantonalen Verfahren auf den Standpunkt gestellt, die vertragliche Vereinbarung sei gar nicht in Kraft getreten bzw. es sei seitens der Klägerin auf Grossbritannien verzichtet, der Vertrag sei also in diesem Sinn in gegenseitigem Einvernehmen geändert worden. Die Vorinstanz hat Art. 82 OR nicht verletzt, wenn sie diese Norm im vorliegenden Fall nicht angewendet hat.
b) Ob die Gegenleistung im synallagmatischen Vertrag geschuldet bleibt, wenn die Leistung unmöglich geworden ist, beurteilt sich danach, wer die Unmöglichkeit zu vertreten hat (VON TUHR/ESCHER, a.a.O., S. 134; ROBERT SIMMEN, a.a.O., S. 53; vgl. auch WIEGAND, in: Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Obligationenrecht I, Art. 1-529 OR, N. 3 zu Art. 119). Hat der Gläubiger die Unmöglichkeit zu vertreten, so wird der Schuldner so gestellt, wie wenn er bereits erfüllt hätte (WIEGAND, a.a.O., N. 14 zu Art. 119 OR; AEPLI, Zürcher Kommentar, N. 149 ff. zu Art. 119 OR), während bei beidseitiger Verantwortung für die Leistungsstörung entweder der Schadenersatzanspruch des Gläubigers, der Anspruch des Schuldners auf die Gegenleistung oder beide gekürzt werden (BGE 114 II 274 E. 4 S. 277).
aa) Für eine erfolgreiche Tätigkeit im Interesse des Auftraggebers, dem insofern das eigene Interesse des provisionsberechtigten Agenten an einem möglichst grossen Umsatz entspricht, ist der Agent auf die Unterstützung durch den Auftraggeber angewiesen. Dem trägt Art. 418f OR Rechnung, indem der Auftraggeber verpflichtet wird, alles zu tun, um dem Agenten die Ausübung einer erfolgreichen Tätigkeit zu ermöglichen. Er hat ihm insbesondere die nötigen Unterlagen zur Verfügung zu stellen (Art. 418f Abs. 1 OR), und er hat mangels gegenteiliger schriftlicher Vereinbarung zu unterlassen, einen anderen Agenten zu beauftragen, wenn dem Agenten ein bestimmtes Gebiet zugewiesen ist (Art. 418f Abs. 3 OR; vgl. HOFSTETTER, a.a.O., S. 142; WETTENSCHWILER, a.a.O., N. 1 zu Art. 418f OR).
Nach den Feststellungen der Vorinstanz hat die Klägerin nicht näher umschriebene Vorbereitungen für die Übernahme der Agentur in Grossbritannien getroffen. Soweit die Beklagte die auf Zeugenaussagen gestützte Feststellung der Vorinstanz, die Klägerin habe Aktivitäten zur Übernahme der Vertretung in Grossbritannien unternommen, unter Berufung auf Art. 8 ZGB beanstandet, wendet sie sich in unzulässiger Weise gegen die Beweiswürdigung und ist damit nicht zu hören. Nach den Feststellungen im angefochtenen Urteil konnte die Klägerin die Tätigkeit in Grossbritannien nicht aufnehmen, weil ihr seitens der Beklagten keine Unterlagen zur Verfügung gestellt wurden und die Beklagte vor allem den Vertrag mit ihrer bisherigen Vertreterin in Grossbritannien nicht kündigte.
bb) Mit der Weiterführung des Vertrags mit ihrer bisherigen Agentin als Vertreterin in Grossbritannien hat die Beklagte ihre Vertragspflichten gegenüber der Klägerin, die ab dem 1. Januar 1990 einen vertraglichen Anspruch auf Alleinvertretung in diesem Gebiet hatte (Art. 418f Abs. 3 OR), klar verletzt. Wie in anderem Zusammenhang aus dem vorinstanzlichen Urteil hervorgeht, weigerte sich die Beklagte bewusst, das Gebiet Grossbritannien gemäss der getroffenen Vereinbarung auf den 1. Januar 1990 an die Klägerin zu übergeben, und ihre Verantwortlichen wollen überdies bis im Sommer 1990 überzeugt gewesen sein, die Klägerin habe auf die Alleinvertretung in Grossbritannien verzichtet. Unter diesen Umständen spricht einiges dafür, dass der Klägerin nicht zumutbar war, über das von der Vorinstanz festgestellte Mass an Vorbereitungen hinaus für die Beklagte in Grossbritannien tätig zu werden. Ob die Beklagte die Klägerin jedoch im Sinn von Art. 97 OR schuldhaft daran gehindert hat, in Grossbritannien tätig zu werden, lässt sich aufgrund der Feststellungen im angefochtenen Urteil nicht abschliessend entscheiden. Insbesondere fehlen jegliche Angaben darüber, welche Folgen eine allfällige Aufnahme der damals faktisch nicht unmöglichen Tätigkeit durch die Klägerin in Grossbritannien für beide Parteien gehabt hätte. Es ist dem angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen, ob unter Umständen auch der Beklagten selbst Nachteile entstanden wären, wenn die Klägerin neben der bisherigen Agentin begonnen hätte, in Grossbritannien für die Beklagte Geschäfte zu vermitteln. Ebenfalls fehlen im angefochtenen Urteil verbindliche Feststellungen darüber, ob und gegebenenfalls welche Unterlagen der Klägerin für die Aufnahme der Tätigkeit in Grossbritannien noch zur Verfügung hätten gestellt werden müssen. Die Feststellung, wonach die Beklagte nicht behauptet hätte, sie habe entsprechende Unterlagen übergeben, genügt jedenfalls für eine entsprechende Verletzung von Art. 418f Abs. 1 OR nicht, wie die Beklagte zu Recht rügt. Die Sache ist aus diesen Gründen zur Ergänzung des entscheidwesentlichen Sachverhalts an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 64 OG).
c) Sollte sich weisen, dass die Vermittlungstätigkeit der Klägerin in Grossbritannien ausschliesslich durch schuldhaftes Verhalten der Beklagten im Sinn von Art. 97 OR unmöglich geworden ist, so hat die Beklagte der Klägerin Schadenersatz entsprechend ihrem Erfüllungsinteresse zu leisten. Die vertragliche Leistungspflicht der Beklagten besteht unabhängig davon, ob die Klägerin die Beklagte in Verzug setzte; eine Erklärung nach Art. 107 Abs. 2 OR ist nicht erforderlich. Eine Mahnung im Sinn von Art. 107 Abs. 1 OR, sollte sie angesichts des Verhaltens der Beklagten erforderlich gewesen sein (Art. 108 OR), wäre bloss für die Verzugsfolgen, nicht für die vertragliche Leistungspflicht vorauszusetzen. Auch ist nicht einzusehen, weshalb die Klägerin zur Kündigung oder gar zum Rücktritt vom Vertrag hätte verpflichtet sein können, wenn die Beklagte ihre Leistung nicht annahm bzw. verunmöglichte. Zur Erhaltung der vertraglichen Gegenleistung, die ihr die Beklagte zu erbringen hatte, genügte das gehörige Angebot der Klägerin, ihre eigene Leistung zu erbringen. Solange die Beklagte über die Erfüllungsbereitschaft der Klägerin nicht im Zweifel sein und aus deren Verhalten keinen Verzicht auf Vertragserfüllung in guten Treuen ableiten konnte, blieb auch die Beklagte zur Erbringung ihrer Vertragsleistung verpflichtet.
d) Sollte die Vorinstanz zum Schluss kommen, dass die Unmöglichkeit der Leistung der Klägerin von der Beklagten verschuldet ist, wird sie vollen Schadenersatz in Höhe des entgangenen Gewinns zusprechen, der sich nach der vereinbarten Provision, abzüglich allenfalls ersparter Aufwendungen der Klägerin, errechnet HOFSTETTER, a.a.O., S. 143; WETTENSCHWILER, a.a.O., N. 1 zu Art. 418m OR). Zudem wird die Vorinstanz zu prüfen haben, ob nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge die Ausübung der Vermittlungstätigkeit der Klägerin in Grossbritannien - wie in den anderen Gebieten - einen Mehrwert für die Beklagte geschaffen und damit einen Anspruch auf eine Abgangsentschädigung gegeben hätte. Die Kundschaftsentschädigung nach Art. 418u OR ist nach ständiger Rechtsprechung nicht ein nachträgliches Entgelt für Leistungen des Agenten während der Vertragsdauer, sondern ein Ausgleich für den Geschäftswert, den der Auftraggeber nach Beendigung des Vertrags weiter nutzen kann (BGE 103 II 277 E. 2 S. 280). Es geht nicht darum, dem Agenten einen Schaden zu vergüten, den er erlitten hätte, sondern um eine Gegenleistung für den Mehrwert, den der Auftraggeber auch nach Vertragsbeendigung aus der Tätigkeit des Agenten erhält (BGE 110 II 280 E. 3b). Einen derartigen Mehrwert hätte die Klägerin im vorliegenden Fall für das Gebiet Grossbritannien allenfalls schaffen können, wenn sie die Agententätigkeit hätte ausüben können. Dass der "Vertretungs-Vertrag" in Kapitel 7 das Anrecht der Klägerin auf eine Entschädigung im Fall der Kündigung unabhängig von den gesetzlichen Voraussetzungen statuieren würde, wie die Vorinstanz annimmt, ist schon deshalb nicht anzunehmen, weil Kapitel 7 Absatz 2 des Vertrags den Gesetzeswortlaut von Art. 418u OR über die Berechnung dieser Entschädigung nahezu wörtlich übernimmt. Dass die Parteien von der Rechtsnatur der Kundschaftsentschädigung überhaupt hätten absehen wollen, ist ohne besondere Umstände daher auszuschliessen. Bejaht die Vorinstanz den Anspruch auf Abgangsentschädigung, so wird sie im Rahmen der Schadensschätzung auch diesen entgangenen Gewinn festzusetzen und zum Ersatz zu stellen haben. Wie die Beklagte zu Recht geltend macht, ist - entgegen den Ausführungen im angefochtenen Urteil - der Teilungsfaktor für die Abgangsentschädigung gemäss der gesamten Vertragsdauer und nicht gesondert nach den einzelnen Gebieten zu ermitteln; es handelt sich hierbei um eine einheitliche Entschädigung, die keinen Provisions-, sondern Ausgleichscharakter für einen gesamten Mehrwert hat.