BGE 30 II 298 - Schweigen als Einwilligung
 
36. Urteil vom 28. Mai 1904 in Sachen Picard Frères, Kl. u. Ber. KI., gegen Kofmehl, Bekl. u. Ber. Bekl.
Kaufvertrag: Abschluss? Art. 1, 2, 229 OR. Wann hat Stillschweigen als Einwilligung zu gelten?
 
Sachverhalt
 
A.
Am 17. August 1903 stattete Jules Picard, Teilhaber der klägerischen Firma, der Beklagten, welche in Solothurn den Handel mit Hadern und Metallen betreibt und den Klägern Metallabfälle zu verkaufen pflegte, einen geschäftlichen Besuch ab behufs Ankaufs von Kupfer und andern Metallen. Bevor sich die Parteien trennten, notierte Picard in seinem Carnet: "Frau Witwe Kofmehl Solothurn verkauft an Picard fèreres Biel folgende Waren: 3000 Kilo Elektro-Kupfer a 128 Fr. 50 Cts., 250 Kilo Nickelspähne à 97 Fr., ? Kilo Nickelabfälle à  110 Fr., 100 à 200 Kilo Messingspähne à 72 Fr., 200 Kilo Messingcoup. à 95 Fr., Bronze à 120 Fr., lieferbar sofort ende Woche. Solothurn 17. August 1903. (sig.) Picard frères", und übergab der Beklagten eine Durchschlagskopie hievon. Die Beklagte erklärte, das Elektrokupfer zu 128 Fr. 50 Cts. nicht liefern zu wollen. Am Abend desselben Tages fand am Bahnhofe Alt-Solothurn vor der Abreise des klägerischen Teilhabers eine Besprechung zwischen diesem und dem minderjährigen Sohne der Beklagten statt, deren Zweck die Einigung über den Preis des Elettrokupfers war. Über die am Bahnhof ausgetauschten Erklärungen gehen die Parteibehauptungen auseinander und konnten keine Zeugen abgehört werden. Eine zweite Durchschlagskopie wurde dem Sohne der Beklagten nicht übergeben, dagegen korrigierte Picard in seinem Carnet den Preis des Elektrokupfers, indem er die Zahl 128. 50 durch 130 ersetzte.
Noch am gleichen Tage schrieben die Kläger von Viel aus an die Beklagte:
    "Wir kauften von Ihnen heute:
    "3000 Kilo Elektro-Kupfer à Fr. 130 per 100 Kilo.
    250 Kilo Nickelspähne à Fr. 97 per 100 Kilo.
    50 Kilo Nickelabfälle à Fr. 110 per 100 Kilo.
    100 à  200 Messingspähne à Fr. 72 per 100 Kilo.
    200 Kilo Messingcoupons à Fr. 95 per 100 Kilo.
    100 à  200 Kilo  Bronze à Fr. 120 per 100 Kilo.
    ab Station Solothurn;  lieferbar diese Woche zahlbar gegen Chek. Ihre Faktura erwartend, zeichnen", : u. .
Die Beklagte antwortete nichts auf dieses Schreiben. Am 22. August 1903 schrieben die Kläger an die Beklagte: "Wir bestätigen unser Schreiben vom 17. ct. sowie unsere heutige telephonische Unterredung, und erwarten unfehlbar die von Ihnen abgekauften Metalle. Wollen Sie die Waren unfehlbar Montag den 24. et. absenden. Ihre Faktura erwartend, zeichnen" u.
Am 26. August schrieb die Beklagte an die Kläger: "Ich erhielt Ihr Geehrtes vom 17. ct. Teile Ihnen mit, daß ich mit "Ihren Preisen nicht einig gehen kann, indem mir von anderer Seite mehr geboten worden ist. Es ist mir gegenwärtig für das Kupfer 136 Fr. per % Kg. geboten und Sie können selbst ersehen, daß Ihre Preise zu niedrig sind. Ich hoffe, Sie werden von Obigem Notiz nehmen."
Auf ein Schreiben des klägerischen Anwaltes vom 27. August antwortete die Beklagte, daß sie sich "an keinen Kauf weder eine "Entschädigung" zu halten habe. Es sei wohl von einem Kaufe gesprochen worden; ein solcher sei jedoch nicht abgeschlossen worden.
 
B.
In dem von Picard fréres durch Klage eingeleiteten Prozesse beharrten die Parteien jede auf ihrer Auffassung der Vorgänge vom 17. August. Die Kläger stellten das Rechtsbegehren: "Die Beklagte ist gehalten, den Klägern 3000 Kilos Elektrokupfer zum Preise von 130 Fr. per 100 Kilos zu liefern, eventuell den Klägern eine Entschädigung von 500 Fr. zu bezahlen nebst Zins zu 5% seit Anhebung der Klage."
Die Beklagte trug auf Abweisung oer Klage an. Über das Verhältnis zwischen dem Prinzipal- und dem Eventualbegehren der Klage vergleiche Erwägung 4 hienach.
 
C.
Mit Urteil vom 27. November 1903 erkannte das Amtsgericht Solothurn-Lebern:
Die Beklagte ist nicht gehalten, der Klägerin 3000 Kilos Elektrokupfer zu liefern zum Preise von 130 Fr. per 100 Kilos, ebensowenig ist sie verpflichtet, derselben eine Entschädigung von 500 Fr. zu bezahlen.
Auf ergangene Appellation hin erkannte das Obergericht des Kantons Solothurn am 26. Februar 1904:
    1.  Die Beklagte ist nicht gehalten, den Klägern 3000 Kilos Elektrokupfer zum Preise von 130 Fr. per 100 Kilos zu liefern.
    2.  Das Entschädigungsbegehren der Kläger ist abgewiesen. Dieses Urteil wird damit begründet, daß ein Kaufvertrag über Elektrokupfer weder bei der persönlichen Unterhandlung der Parteien, noch bei der Besprechung am Bahnhof Alt-Solothurn, noch schließlich seither infolge Nichtbeantwortung des klägerischen Schreibens vom 17. August 1903 zu Stande gekommen sei. Immerhin müsse bemerkt werden, daß das Stillschweigen der Beklagten den in der Handelswelt geltenden Übungen und Sitten nicht entsprach, zumal es sich um eine den Preisfluktuationen des Marktes ausgesetzte Ware handelte. Es dürfe aber sicherlich an die Beklagte der Maßstab eines gebildeten und gewiegten Kaufmanns nicht gelegt werden.
 
D.
Gegen das obergerichtliche Urteil haben die Kläger rechtzeitig und in richtiger Form die Berufung an das Bundesgericht ergriffen, mit dem Antrag, es möchte das genannte Urteil in dem Sinne abgeändert werden, daß den Klägern ?iearä die in der Klage gestellten Nechtsbegehren im vollen Umfang zugesprochen werden.
 
E.
Die Beklagte beantragt Abweisung der Berufung und Bestätigung des angefochtenen Urteils.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
2.  In der Sache selbst fragt es sich, ob zwischen den Parteien ein gültiger Kaufvertrag über 3000 Kilogramm Elektrokupfer à 130 Fr. per 100 Kilo, lieferbar ab Station Solothurn, zu Stande gekommen sei, sei es durch mündliche Vereinbarung auf dem Bahnhof Alt-Solothurn am Abend des 17. August, sei es nachher infolge des Stillschweigens der Beklagten auf das Bestätigungsschreiben der Kläger.
Gemäß der übereinstimmenden Darstellung der Parteien ist als feststehend zu betrachten, daß es zur Perfektion des Vertrages nur noch der Einigung über den Kaufpreis bedurfte, bezüglich dessen sie bei den Unterhandlungen in der Wohnung der Beklagten auseinandergegangen waren, indem die Beklagte den ihr von den Klägern angebotenen Preis von 128 Fr. 50 Cts. nicht akzeptieren wollte. Darüber nun, was für Erklärungen auf dem Bahnhofe zwischen dem klägerischen Associé Jules Picard und dem Sohne der Beklagten ausgetauscht worden seien, fehlt nicht nur jeglicher direkte Beweis, sondern es können auch aus dem spätem Verhalten der Parteien keine sichern Schlüsse hierauf gezogen werden. Insbesondere ist auf das Zustandekommen des Vertrages nicht schon daraus zu schließen, daß die Kläger noch am gleichen Tage von Biel aus ein Bestätigungsschreiben an die Beklagte sandten; denn nicht nur konnte dieses Schreiben ebensogut bezwecken, eine Einigung auf den Preis von 130 Fr. erst herbeizuführen, nachdem die Kläger ursprünglich nur 128 Fr. 50 Cts. angeboten hatten, sondern es wäre auch die subjektive Ansicht der Kläger über die Perfektion des Vertrages nicht als ausschlaggebend zu erachten.
3. Anders verhält es sich mit der Frage, ob durch das Stillschweigen der Beklagten auf das Bestätigungsschreiben der Kläger nachträglich ein Vertrag zu Stande gekommen sei. Richtig ist allerdings, daß Stillschweigen an und für sich weder im allgemeinen, noch speziell im Handelsverkehr von vorneherein und ohne Hinzukommen anderer Momente als Einwilligung zu interpretieren ist (vergl. Entsch. d. ROHG I, S. 79 ff.; Bundesgericht, Amtl. Samml., Bd. XIX, S. 929), und daß insbesondere das Schweigen auf eine Offerte nur in Ausnahmsfällen (vergl. z.B. Art. 393 des schweiz. OR) einer Annahmeerklärung gleichkommt. Allein ebenso richtig ist, daß Schweigen dann als Zustimmung gilt, wenn Redlichkeit oder praktische  Vernunft  einen Widerspruch gefordert hätten, falls das scheinbare Einverständnis in Wirklichkeit nicht bestand (vergl. Dernburg, Bürgerl. Recht, Bd. I, § 133, sub II). Dies ist nun meistens der Fall, wenn eine Partei nach mündlichen Vertragsunterhandlungen den Inhalt der dabei gefallenen Erklärungen in der Weise, wie sie dieselben auffaßt und vernünftiger Weise auffassen kann, der andern Partei mitteilt, diese aber darauf schweigt (vergl. Dernburg a. a. O. sub III). In besonders hohem Maße trifft es aber zu, wenn ein rechtzeitiger Widerspruch seitens derjenigen Partei, die den Vertrag nicht gelten lassen will, auf das fernere Verhalten des andern Teils voraussichtlich von Einfluß sein könnte, etwa weil der Vertragsgegenstand bedeutenden Kursschwankungen ausgesetzt war (vergl. Entscheid, des Bundesgerichts, Amtl. Samml., Bd. XIX, S. 929).
Im vorliegenden Falle ist nun nicht bestritten, daß die Beklagte den Handel mit Hadern und Metallen in größerem Maßstabe betreibt, im Handelsregister eingetragen ist und seit längerer Zeit mit den Klägern in Geschäftsverkehr stand, wobei die Beklagte den Klägern Metallabfälle zu verkaufen Pflegte. Ebenso unbestritten ist aber auch, daß der Preis des Elektrokupfers im allgemeinen variert und speziell in der hier in Betracht kommenden Zeit bedeutenden Kursschwankungen ausgesetzt war. Unter diesen Umstanden war es besonders naheliegend, den genauen Vertragsinhalt sofort brieflich festzustellen. Das Bestätigungsschreiben der Kläger vom 17. August musste deshalb der Beklagten als ein solches erscheinen, auf welches zu antworten ihre geschäftliche Pflicht war, falls sie deren Inhalt nicht anerkennen wollte. Sie durfte dieses Schreiben, welches sich seiner Form nach deutlich als Bestätigungsschreiben kennzeichnete, umsoweniger als eine bloße Offerte zu neuem Vertragsabschluß behandeln, als dasselbe auch inhaltlich jedenfalls bezüglich verschiedener anderer nicht im Streite liegender Metalle ein eigentliches Bestätigungsschreiben darstellte. Sie mußte auf alle Fälle von der Annahme ausgehen, die Kläger, mit welchen sie schon seit längerer Zeit in Geschäftsverbindung stand, seien der redlichen Überzeugung, daß auch bezüglich des Elektrokupfers am 17. August eine Einigung zu Stande gekommen sei. Wenn sie also die Kläger nicht in dieser Meinung bestärken wollte, so war es ihre Pflicht, ihre gegenteilige Ansicht kundzugeben.
4. Erscheint somit der Kaufvertrag mit dem von den Klägern in ihrem Schreiben vom 17. August präzisierten Inhalte als in der Tat nachträglich perfekt geworden, so ist die Beklagte grundsätzlich zur Haltung desselben verpflichtet. Allerdings hätte nun, da in dem angeführten Schreiben ein bestimmter Lieferungstermin genannt war und daher als vereinbart zu gelten hat, die Frage aufgeworfen werden können, ob die Kläger auch im Prozesse noch auf Erfüllung oder nicht vielmehr gemäß Art. 234 Abs. 2 OR nur noch auf Schadenersatz zu dringen berechtigt seien. Indessen hat nicht nur die Beklagte gegen die Verurteilung zur Realerfüllung eventuell keine Einwendung erhoben, sondern es haben schon die Kläger sich nicht darüber ausgesprochen, für welchen Fall sie obige Entschädigung verlangen, ob für den Fall, daß die Realerfüllung nicht erhältlich sei, oder für den Fall, daß sich für Elektrokupfer ein bedeutender Preisunterschied gegenüber der Zeit des Vertragsabschlusses ergebe, oder aber für den Fall, daß die Beklagte die Zahlung einer Entschädigung vorziehe. Unter diesen Umständen ist, da die Präzisierung den Klägern obgelegen hätte, anzunehmen, die Kläger hätten der Beklagten die Wahl zwischen Naturalerfüllung einerseits und der geforderten Entschädigung von 500 Fr. anderseits lassen wollen.
 
Demnach hat das Bundesgericht
 
erkannt:
Die Berufung wird in dem Sinne begründet erklärt, daß die Beklagte verurteilt wird, entweder den Klägern 3000 Kilos Elektrokupfer zum Preise von 130 Fr. per 100 Kilos ab Station Solothurn zu liefern, oder ihnen eine Entschädigung von 500 Fr. nebst 5% Zins seit Anhebung der Klage zu bezahlen.