BVerfGE 58, 369 - Berufskrankheiten
Zur Auslegung der Regelung über die Anerkennung von Berufskrankheiten (§ 551 Abs. 1 und 2 RVO).
 
Beschluß
des Ersten Senats vom 22. Oktober 1981
– 1 BvR 1369/79 –
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Frau K ... – Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Dr. Rüdiger Zuck, Birkenwaldstraße 149, Stuttgart l – 1. unmittelbar gegen a) das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. November 1979 – L 2 Ua 86/75 –, b) das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 4. Dezember 1974 – S 5 U 1607/71 –, 2. mittelbar gegen a) § 551 Abs. 1 und 2 RVO, b) die Siebente Berufskrankheiten-Verordnung vom 20. Juni 1968 (BGBl. I S. 721) i.d.F. der Verordnung vom 8. Dezember 1976 (BGBl. I S. 3329).
 
Entscheidungsformel:
Die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. November 1979 – L 2 Ua 86/75 – und des Sozialgerichts Reutlingen vom 4. Dezember 1974 – S 5 U 1607/71 – verletzen das Grundrecht der Beschwerdeführerin aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Sozialgericht Reutlingen zurückverwiesen.
Das Land Baden-Württemberg hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
 
Gründe:
 
A.
Die gesetzliche Unfallversicherung bietet den Versicherten Schutz gegen die Folgen von Arbeitsunfällen. Als Arbeitsunfälle gelten auch Berufskrankheiten. Die Regelung, aus der sich ergibt, in welchen Fällen von einer Berufskrankheit auszugehen ist, lautet:
    § 551 RVO
    (1) Als Arbeitsunfall gilt ferner eine Berufskrankheit. Berufskrankheiten sind die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 genannten Tätigkeiten erleidet. Die Bundesregierung wird ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; ...
    (2) Die Träger der Unfallversicherung sollen im Einzelfalle eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit entschädigen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 1 erfüllt sind.
    (3) – (4) ...
Aufgrund der Ermächtigung des § 551 Abs. 1 Satz 2 RVO erließ die Bundesregierung die Siebente Berufskrankheiten-Verordnung vom 20. Juni 1968 (BGBl. I S. 721), die durch die Verordnung zur Änderung der Siebenten Berufskrankheiten-Verordnung vom 8. Dezember 1976 (BGBl. I S. 3329) geändert worden ist. Nach § 1 dieser Verordnung sind die in der Anlage l zur Verordnung bezeichneten Krankheiten Berufskrankheiten im Sinne des § 551 Abs. 1 RVO.
1. Die Beschwerdeführerin leidet unter den Folgen einer Scheidensenkung; diese ist in der Anlage l zur Berufskrankheiten-Verordnung nicht aufgeführt. Die Beschwerdeführerin war als Unternehmerin einer Metallschleiferei seit 1957 freiwillig in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert. Ende 1967 mußte sie sich wegen ihres Leidens einer Operation unterziehen. Nach weiteren Operationen beantragte die Beschwerdeführerin 1969 bei der beklagten Berufsgenossenschaft eine Verletztenrente. Die Berufsgenossenschaft erkannte das Leiden nicht als Berufskrankheit im Sinne des § 551 Abs. 2 RVO an und lehnte die Gewährung einer Rente ab. Die Klage blieb vor dem Sozialgericht erfolglos. Das Gericht hielt die Voraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO für nicht gegeben, weil keine "neuen Erkenntnisse" darüber vorlägen, nach denen das Leiden der Beschwerdeführerin eine Berufskrankheit sei.
Auch die Berufung hatte keinen Erfolg. Das Landessozialgericht holte medizinische Gutachten über die Ursachen des Leidens der Beschwerdeführerin ein. Die Gutachter vertraten die Auffassung, daß zwischen dem Leiden der Beschwerdeführerin und ihrer beruflichen Tätigkeit ein ursächlicher Zusammenhang wahrscheinlich sei; die dazu vorliegenden medizinischen Erkenntnisse aber hätten bereits vor Erlaß der nach § 551 Abs. 1 RVO maßgebenden Verordnung vorgelegen. Auf Anfrage des Gerichts teilte der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung mit, daß bei den Vorarbeiten zur Siebenten Berufskrankheiten-Verordnung und ihrer Neufassung im Jahre 1976 keine Hinweise auf einen Kausalzusammenhang zwischen bestimmten beruflichen Tätigkeiten und dem Leiden der Beschwerdeführerin vorgelegen hätten. In den Gründen seines Urteils führte das Landessozialgericht aus, es genüge nicht, daß die Beschwerdeführerin an einer Berufskrankheit im Sinne des § 551 Abs. 1 Satz 3 RVO leide. Ansprüche gegenüber dem Versicherungsträger könne sie nur geltend machen, wenn die Bejahung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen ihrem Beruf und ihrer Erkrankung auf "neuen Erkenntnissen" im Sinne des § 551 Abs. 2 RVO beruhe. Nach den Gutachten der Sachverständigen handele es sich aber bei den Erkenntnissen über Auswirkungen einer beruflichen Tätigkeit auf das Leiden der Beschwerdeführerin nicht um neue Erkenntnisse. Neu seien diese nur, wenn sie bei Erlaß der geltenden Berufskrankheiten-Verordnung nicht hätten berücksichtigt werden können. Indessen ergäben die Gutachten, daß Erfahrungen über einen Ursachenzusammenhang zwischen beruflichen Tätigkeiten und einer Scheidensenkung schon vor der Änderung der Siebenten Berufskrankheiten-Verordnung im Jahre 1976 vorgelegen hätten.
Das Bundessozialgericht hat die Nichtzulassungsbeschwerde verworfen, weil die Beschwerdeführerin nicht dargelegt habe, daß die Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung sei.
2. Mit ihrer gegen diese Entscheidungen und mittelbar gegen § 551 Abs. 1 und 2 RVO und die Siebente Berufskrankheiten-Verordnung gerichteten Verfassungsbeschwerde macht die Beschwerdeführerin einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 und 2 GG und gegen das Sozialstaatsgebot geltend. Das Gesetz enthalte in der Auslegung durch die angefochtenen Entscheidungen eine Lücke, deren Auswirkungen mit dem allgemeinen Gleichheitssatz nicht zu vereinbaren seien. § 551 Abs. 1 und 2 RVO gingen davon aus, daß die Berufskrankheiten-Verordnung im Zeitpunkt ihres Ergehens den Stand der Berufskrankheiten vollständig erfasse. Nach § 551 Abs. 2 RVO könne dann im Einzelfall nur eine danach neu aufgetretene Berufskrankheit berücksichtigt werden. Dabei habe der Gesetzgeber nicht beachtet, daß es im Zeitpunkt des Erlasses einer Berufskrankheiten-Verordnung noch weitere Berufskrankheiten geben könne, die in die Liste nicht aufgenommen seien und nach der Rechtsprechung auch über § 551 Abs. 2 RVO nicht erfaßt würden. Im vorliegenden Fall habe der Gesetzgeber die besonderen Belastungen von Frauen, die in typischen Männerberufen tätig seien, übersehen. Wenn das Gesetz eine Kombination der Festschreibung von Berufskrankheiten nach § 551 Abs. 1 RVO und der Ergänzungsmöglichkeit nach § 551 Abs. 2 RVO wähle, die solche Lücken zulasse, so sei das willkürlich. Dabei könne es angesichts des Schutzauftrags des Sozialstaatsprinzips und des in Art. 3 Abs. 2 GG enthaltenen Verbots, Frauen zu benachteiligen, auch nicht auf die Anzahl der durch die Benachteiligung Betroffenen ankommen. Für eine Typisierung sei in solchen Fällen, in denen über § 551 Abs. 2 RVO Einzelfallgerechtigkeit erstrebt werde, kein Raum.
3. Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, der namens der Bundesregierung Stellung genommen hat, hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Die gesetzlichen Regelungen des § 551 Abs. 1 und 2 RVO schlössen bei einer Fallgestaltung wie der des Ausgangsverfahrens lückenlos aneinander. Es bestehe nach der gesetzlichen Regelung kein Anlaß, die der Beschwerdeführerin günstigen medizinischen Erkenntnisse nicht als "neue Erkenntnisse" im Sinne des § 551 Abs. 2 RVO anzusehen. Wenn dem Verordnungsgeber bei dem Erlaß der Berufskrankheiten-Verordnung wissenschaftliche Erkenntnisse entgangen seien und wenn er deshalb die Aufnahme einer Krankheit in die Liste der Berufskrankheiten nicht erwogen habe, bleibe Raum für die Anwendung des § 551 Abs. 2 RVO. Die angefochtenen Entscheidungen verletzten aber kein Verfassungsrecht, wenn sie § 551 Abs. 2 RVO nicht angewandt hätten. Die Auslegung des Begriffs der "neuen Erkenntnisse" betreffe allein die den Fachgerichten obliegende Anwendung einfachen Rechts.
 
B.
Die angegriffenen Urteile verletzen das Grundrecht der Beschwerdeführerin aus Art. 3 Abs. 1 GG.
Diese Verfassungsnorm gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Demgemäß ist dieses Grundrecht vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normenadressaten im Vergleich zu anderen Normenadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (BVerfGE 55, 72 [88] m.w.N.). Eine solche Grundrechtsverletzung liegt nicht nur dann vor, wenn der Gesetzgeber mehrere Personengruppen ohne sachlichen Grund verschieden behandelt, sondern ebenfalls dann, wenn die Gerichte im Wege der Auslegung gesetzlicher Vorschriften zu einer derartigen, dem Gesetzgeber verwehrten Differenzierung gelangen (vgl. BVerfGE 40, 65 [81]; 47,168 [177]).
Die angegriffenen Entscheidungen führen zu einer in diesem Sinne ungerechtfertigten Ungleichbehandlung der Beschwerdeführerin im Vergleich zu anderen Personen, die an einer Berufskrankheit leiden. Nach § 551 Abs. 1 RVO gewährt die gesetzliche Unfallversicherung Schutz hinsichtlich einer Krankheit, die in die jeweils geltende Berufskrankheiten-Verordnung aufgenommen worden ist. Wenn § 551 Abs. 2 RVO vorschreibt, daß die Träger der Unfallversicherung im Einzelfall auch eine Krankheit als Berufskrankheit berücksichtigen sollen, die, ohne in die Berufskrankheiten-Verordnung aufgenommen zu sein, den Voraussetzungen des § 551 Abs. 1 Satz 3 RVO entspricht, zielt diese Regelung auf Lückenlosigkeit des Schutzes für alle Versicherten, die an einer durch Berufstätigkeit verursachten Krankheit leiden. Mit dieser Vorschrift, die durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz vom 30. April 1963 (BGBl. I S. 241) in das Gesetz eingefügt wurde, sollten auf der Grundlage eines "Mischsystems" die Härten ausgeglichen werden, die durch das "Listensystem" des § 551 Abs. 1 RVO im Hinblick auf solche Berufskrankheiten entstehen konnten, die nicht in die Berufskrankheiten-Verordnung aufgenommen waren (vgl. dazu BTDrucks. IV/120, S. 55).
Dieses Ziel der Regelung des § 551 Abs. 2 RVO wird in einer dem allgemeinen Gleichheitssatz widersprechenden Weise verfehlt, wenn die angefochtenen Entscheidungen durch ihre Auslegung des Begriffs der "neuen Erkenntnisse" dazu führen, daß Versicherte, die an einer durch Berufstätigkeit verursachten Krankheit leiden, im Gegensatz zu anderen, für die dies zutrifft, nicht den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung in Anspruch nehmen können. Im Vergleich zu den nach § 551 Abs. 1 RVO Berechtigten befindet sich sowohl die nach Abs. 2 dieser Vorschrift zu berücksichtigende Personengruppe als auch die durch die angegriffenen Entscheidungen benachteiligte Personengruppe gleichermaßen in der Lage, daß ihre Krankheit bei Erlaß der Berufskrankheiten-Verordnung noch nicht geprüft und deswegen über ihre Anerkennung weder positiv noch negativ entschieden worden ist. Der Unterschied zwischen beiden zuletzt genannten Gruppen erschöpft sich darin, daß bei einer Gruppe die Umstände, die zu einer Bejahung einer Berufskrankheit führen könnten, schon vor dem Erlaß der letzten Fassung der Berufskrankheiten-Verordnung wissenschaftlich bekannt waren, während sie bei der anderen erst später erkannt wurden.
Dieser Unterschied rechtfertigt es nicht, Versicherte hinsichtlich der Frage des Schutzes durch die gesetzliche Unfallversicherung unterschiedlich zu behandeln. Es ist nicht einzusehen, warum der bloße Umstand, daß die vom Verordnungsgeber nicht berücksichtigten wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Vorliegen einer Berufskrankheit etwas früher oder später gewonnen worden sind, zur Folge haben soll, daß der an einer Berufskrankheit leidende Versicherte in dem einen Fall die Leistungen der Unfallversicherung in Anspruch nehmen kann, in dem anderen Fall aber von ihnen ausgeschlossen wird.
Dabei bedarf es keiner Entscheidung der Frage, ob eine gesetzliche Regelung, die im Interesse der Rechtsklarheit allein auf das "Listensystem" des § 551 Abs. 1 RVO abstellen würde, den Anforderungen des Gleichheitssatzes entspräche. Jedenfalls wäre eine gesetzliche Regelung, die in einer Kombination eines Listensystems (§ 551 Abs. 1 RVO) mit einem System der Entschädigung im Einzelfall (§ 551 Abs. 2 RVO) auf Lückenlosigkeit und Einzelfallgerechtigkeit zielt, mit dem Gleichheitssatz nicht mehr vereinbar, wenn einer Personengruppe der Schutz der Unfallversicherung allein deshalb versagt würde, weil der Verordnungsgeber bei Erlaß der Berufskrankheiten-Verordnung vorliegende wissenschaftliche Erkenntnisse noch nicht geprüft und gewürdigt hat.
Zutreffend weist der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung darauf hin, daß § 551 Abs. 2 RVO den Richter nach seinem Wortlaut und Sinn nicht zu einer Auslegung zwingt, die den Gleichheitssatz verletzt. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bestätigt, daß der Begriff der "neuen Erkenntnisse" einer Anwendung des § 551 Abs. 2 RVO auf eine Berufskrankheit nicht entgegensteht, wenn der Verordnungsgeber die Aufnahme dieser Krankheit in die Berufskrankheiten-Verordnung nicht bewußt abgelehnt hat (vgl. BSGE 44, 90 [94]). Auch objektiv alte Erkenntnisse können nach dieser Rechtsprechung deshalb neu sein, weil der Verordnungsgeber sie nicht kannte und daher nicht berücksichtigen konnte (BSG, Urteil vom 4. August 1981 – 5 a/5 RKnU 1/80 –, Umdruck S. 8 und 10). Eine solche Auslegung vermeidet eine gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßende Ungleichbehandlung, wie sie durch die im übrigen einfachrechtlich nach dem Wortlaut der Norm des § 551 Abs. 2 RVO mögliche Auslegung der angefochtenen Entscheidungen verursacht wird. Diese Auslegungsmöglichkeit zeigt zugleich, daß entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin § 551 RVO und die Siebente Berufskrankheiten-Verordnung nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstoßen.
Da die angegriffenen Entscheidungen beider Tatsacheninstanzen der Sozialgerichtsbarkeit auf dem gleichen Verfassungsverstoß beruhen, mußten die Urteile des Sozialgerichts und des Landessozialgerichts aufgehoben werden. Das Sozialgericht, an das die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen wird, hat nun zu entscheiden, ob das Leiden der Beschwerdeführerin eine Krankheit im Sinne des § 551 Abs. 2 RVO ist, die wie eine Berufskrankheit zu behandeln ist. Der Beschluß des Bundessozialgerichts, mit dem die Nichtzulassungsbeschwerde verworfen wurde, ist gegenstandslos.
Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34 Abs. 4 BVerfGG.
(gez.) Dr. Benda Dr. Simon Dr. Faller Dr. Hesse Dr. Katzenstein Dr. Niemeyer Dr. Heußner