BGE 119 Ia 134 - Elterliche Fürsorgepflicht im Gerichtsverfahren
 
18. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung
vom 8. Juni 1993
i.S. A.P. gegen Verwaltungsgericht des Kanton Luzern
(staatsrechtliche Beschwerde)
 
Regeste
Unentgeltliche Verbeiständung eines bevormundeten Minderjährigen; Verhältnis zwischen der elterlichen und der staatlichen Fürsorge- und Beistandspflicht (Art. 4 BV; 272 ff. ZGB; 285 ZGB).
1. Zur allgemeinen Fürsorgepflicht der Eltern gehört, dass sie ihrem Kind im Rahmen ihrer finanziellen Mittel für ein Gerichtsverfahren Beistand leisten und ihm zu einer Rechtsverbeiständung verhelfen, soweit dies zur Wahrung seiner Rechte notwendig ist. Diese allgemeine Pflicht der Eltern ist unabdingbar mit dem Kindesverhältnis verbunden, verändert sich durch den Entzug der elterlichen Gewalt nicht und geht der aus Art. 4 BV abgeleiteten staatlichen Fürsorge- und Beistandspflicht vor (E. 4).
2. Dieser Grundsatz gilt unabhängig vom Anschein einer Interessenkollision zwischen dem bevormundeten Jugendlichen und seinen Eltern (E. 5).
 
Auszug aus den Erwägungen:
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 4
4.- Mit der unentgeltlichen Rechtspflege will der Staat den Rechtsunterworfenen eine gewisse "Waffengleichheit" gewährleisten; jeder Betroffene soll grundsätzlich ohne Rücksicht auf seine finanzielle Situation unter den durch die Rechtsprechung geschaffenen Voraussetzungen (BGE 117 Ia 277 ff. mit Hinweisen) Zugang zum Gericht und Anspruch auf die Vertretung durch einen Rechtskundigen haben. Steht jedoch ein Minderjähriger in einem Verfahren, so folgt grundsätzlich aus der allgemeinen Fürsorgepflicht seiner Eltern (Art. 272, 274, 276 sowie 285 ZGB), dass diese ihrem Kind im Rahmen ihrer eigenen finanziellen Mittel für das Gerichtsverfahren Beistand zu leisten und ihm zu einer Rechtsverbeiständung zu verhelfen haben, soweit dies zur Wahrung seiner Rechte notwendig ist. Diese allgemeine Fürsorge- und Beistandspflicht ist unabdingbar mit dem Kindesverhältnis verbunden (vgl. STETTLER, Das Kindesrecht, in Schweizerisches Privatrecht, Band III/2, Basel 1992, S. 302 f., 317), verändert sich durch den Entzug der elterlichen Gewalt nicht und geht auf jeden Fall, wie das Verwaltungsgericht zutreffend erkannt hat, der staatlichen Fürsorge- und Beistandspflicht vor (vgl. BGE 106 II 287); dies entspricht im übrigen auch der allgemeinen Verwandtenunterstützungspflicht (Art. 328 ZGB) oder der im Eherecht vorgesehenen Lösung (zu letzterem vgl. HAUSHEER/REUSSER/GEISER, Kommentar zum Eherecht, Band 1, Bern 1988, N. 15 zu Art. 163 ZGB).
Im Entscheid 108 Ia 10 hat das Bundesgericht denn auch ausdrücklich festgehalten, dass für die Beurteilung der Bedürftigkeit eines Gesuchstellers grundsätzlich nur seine eigenen Einkünfte sowie allenfalls jene von ihm gegenüber unterstützungspflichtigen Personen (z.B. Eltern, Ehegatten) massgeblich sein können. Diesem Grundsatz hat das Verwaltungsgericht entsprochen. Sein Entscheid verstösst daher in keiner Weise gegen Art. 4 BV.
 
Erwägung 5
5.- Der Beschwerdeführer wendet dagegen ein, die staatliche Beistandspflicht gehe immer dann vor, wenn nur schon der konkrete Anschein einer Interessenkollision zwischen dem betroffenen Jugendlichen und seinen Eltern bestehe. Dieses Argument vermag im vorliegenden Fall schon deswegen nicht zu überzeugen, weil hier ohnehin und besonders im Falle einer Interessenkollision zwischen den Eltern und dem Beschwerdeführer der Vormund als aussenstehende Person und Inhaber der elterlichen Gewalt anzurufen gewesen wäre, der gegebenenfalls einen Anwalt hätte beauftragen oder das Mandat zumindest nachträglich hätte genehmigen müssen, falls das Gesuch des Beschwerdeführers um Entlassung aus der Anstalt nicht von vornherein als aussichtslos erschienen wäre. Es kann nicht Sache des Staates sein, generell über den Kopf der zahlungsfähigen Eltern und des Vormundes hinweg für die Kosten des durch einen Jugendlichen beauftragten Anwalts aufzukommen. Dass das Rückgriffsrecht auf die Eltern besteht, lässt den vom Beschwerdeführer vertretenen Grundsatz nicht einleuchtender erscheinen. Zwar würde dann die Stellung des Jugendlichen verstärkt und das Verfahren insofern vereinfacht, als es dem Gericht ohne Prüfung der wirtschaftlichen Lage der Eltern nur obläge abzuklären, ob sich der Prozess als aussichtslos erweise oder die Schwierigkeit der Rechtsfragen die Zuordnung eines Anwaltes erfordere. Das ändert aber nichts daran, dass der dem Jugendlichen zu gewährende Rechtsschutz durch den vorgängigen Einbezug der Einkommens- und Vermögenslage der Eltern oder "die Auflage zur vorgängigen Evaluierung der finanziellen Unterstützung" - wie sich der Beschwerdeführer ausdrückt - in keiner Weise beeinträchtigt wird.