BGer 6B_1056/2016
 
BGer 6B_1056/2016 vom 06.06.2017
6B_1056/2016
 
Urteil vom 6. Juni 2017
 
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichter Rüedi,
Bundesrichterin Jametti,
Gerichtsschreiber M. Widmer.
 
Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Arthur Andermatt,
Beschwerdeführer,
gegen
1. Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Schützengasse 1, 9001 St. Gallen,
2. A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Veronica Hälg-Büchi,
Beschwerdegegnerinnen.
Gegenstand
Fahrlässige Körperverletzung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen, Strafkammer, vom 30. Mai 2016.
 
Sachverhalt:
 
A.
X.________ wird zusammengefasst vorgeworfen, am 17. April 2013, um 17.05 Uhr, als Fahrer eines Gelenktrolleybusses der Fussgängerin A.________ bei der Anfahrt auf die Bushaltestelle St. Gallen Neudorf zu wenig Beachtung geschenkt zu haben. Er habe nicht bemerkt, dass sie sich noch im Gefahrenbereich befunden habe. Da A.________ den Bus ebenfalls nicht wahrgenommen habe, sei X.________ mit dem rechten Aussenspiegel gegen ihren Kopf geprallt. A.________ habe sich dabei verletzt.
Der Einzelrichter des Kreisgerichts St. Gallen sprach X.________ am 27. August 2015 von der Anklage der fahrlässigen Körperverletzung frei. Dagegen meldeten A.________ und die Staatsanwaltschaft Berufung an. Die Staatsanwaltschaft verzichtete jedoch im Anschluss darauf, eine schriftliche Berufungserklärung einzureichen oder Anschlussberufung zu erklären. Mit Entscheid vom 30. Mai 2016 erklärte das Kantonsgericht St. Gallen X.________ der fahrlässigen Körperverletzung schuldig. Es verurteilte ihn zu einer bedingten Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu Fr. 80.--.
 
B.
X.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das kantonsgerichtliche Urteil sei aufzuheben und er sei von der Anklage der fahrlässigen Körperverletzung freizusprechen.
 
C.
Das Kantonsgericht verzichtet unter Verweis auf die Erwägungen im angefochtenen Entscheid auf eine Vernehmlassung. Die Staatsanwaltschaft beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. A.________ schliesst ebenfalls auf Abweisung der Beschwerde. X.________ replizierte.
 
Erwägungen:
 
1.
1.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, sich keiner pflichtwidrigen Unvorsichtigkeit schuldig gemacht zu haben. Er sei davon ausgegangen, dass sich die Geschädigte mit einem Schritt weg vom Strassenrand aus dem Gefahrenbereich entfernt habe. Er habe nicht damit rechnen müssen, dass sich diese völlig unvermittelt mit einem Schritt zurück erneut in den Gefahrenbereich begebe.
1.2. Die Vorinstanz erwägt, nach dem aus Art. 26 Abs. 1 SVG abgeleiteten Vertrauensgrundsatz dürfe jeder Strassenbenützer, der sich selber verkehrsgemäss verhalte, darauf vertrauen, dass sich die anderen Verkehrsteilnehmer ordnungsgemäss verhielten. Der Vertrauensgrundsatz werde eingeschränkt durch Art. 26 Abs. 2 SVG, wonach namentlich besondere Vorsicht geboten sei, wenn Anzeichen für ein Fehlverhalten eines Strassenbenützers bestünden. Wenn konkrete Anzeichen dafür erkennbar seien, dass sich ein Fussgänger nicht richtig verhalten werde, sei der Fahrzeuglenker verpflichtet, sich darauf einzurichten. Solche Anzeichen könnten sich nicht nur aus einem sichtbaren Verhalten des Fussgängers, sondern ebenso aus einer bestimmten Verkehrslage ergeben, die nach allgemeiner Erfahrung die Möglichkeit fremden Fehlverhaltens unmittelbar in die Nähe rücke. Eine solche Verkehrslage sei im Bereich von Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel gegeben. Nach Art. 33 Abs. 3 SVG sei an Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel auf ein- und aussteigende Personen Rücksicht zu nehmen, da in deren Nähe stets mit Personen zu rechnen sei, die sich in Eile befänden, es an der nötigen Aufmerksamkeit mangeln liessen und sich daher unrichtig verhielten. Dem Fahrzeugführer werde in diesen Bereichen eine besondere Vorsichtspflicht auferlegt.
Indem sich der Beschwerdeführer nicht versichert habe, dass sich die gestützt auf Art. 43 Abs. 2 SVG in Verbindung mit Art. 41 Abs. 2 der Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 (VRV; SR 741.11) vortrittsberechtigte Geschädigte nicht mehr im Gefahrenbereich befinde, ehe er an die Haltestelle gefahren sei, habe er seine Vorsichtspflicht verletzt. Da er sich selber sorgfaltswidrig verhalten habe, könne der Beschwerdeführer sich nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen. An diesem Ergebnis würde sich auch nichts ändern, wenn man "in dubio pro reo" davon ausginge, dass sich die Geschädigte unmittelbar vor dem Zusammenstoss und völlig unvermittelt zurück in den Gefahrenbereich bewegt habe. Der Beschwerdeführer wäre im Bereich der Bushaltestelle zu besonderer Vorsicht verpflichtet gewesen. Ein Fehlverhalten der Geschädigten sei schon deshalb in unmittelbare Nähe gerückt, weil diese dem Beschwerdeführer von Beginn weg aufgefallen sei, da sie sich viel zu nahe an der Fahrbahn befunden habe. Der Beschwerdeführer hätte sich daher vor der Anfahrt auf die Bushaltestelle versichern müssen, dass sich die Geschädigte nicht mehr im Bereich des Trottoirs, über welchen der Aussenspiegel des Busses ragte, befand oder er hätte sie mit einem Warnsignal auf die drohende Gefahr aufmerksam machen müssen. Zudem hätte er den Bus sofort zum Stillstand bringen können, nachdem er gemäss eigenen Angaben nicht einmal im Schritttempo auf die Haltestelle zugefahren sei.
Der Beschwerdeführer habe sich demnach der fahrlässigen Körperverletzung schuldig gemacht.
 
1.3.
1.3.1. Fahrlässig handelt, wer die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt oder darauf nicht Rücksicht nimmt (Art. 12 Abs. 3 StGB). Ein Schuldspruch wegen fahrlässiger Körperverletzung gemäss Art. 125 StGB setzt voraus, dass der Täter den Erfolg durch Verletzung einer Sorgfaltspflicht verursacht hat. Sorgfaltswidrig ist die Handlungsweise, wenn der Täter zum Zeitpunkt der Tat aufgrund der Umstände sowie seiner Kenntnisse und Fähigkeiten die damit bewirkte Gefährdung der Rechtsgüter des Opfers hätte erkennen können und müssen und wenn er zugleich die Grenzen des erlaubten Risikos überschritten hat. Wo besondere, der Unfallverhütung und der Sicherheit dienende Normen ein bestimmtes Verhalten gebieten, bestimmt sich das Mass der zu beachtenden Sorgfalt in erster Linie nach diesen Vorschriften. Fehlen solche, kann auf analoge Regeln privater oder halbprivater Vereinigungen abgestellt werden, sofern diese allgemein anerkannt sind. Dies schliesst nicht aus, dass der Vorwurf der Fahrlässigkeit auch auf allgemeine Rechtsgrundsätze wie etwa den allgemeinen Gefahrensatz gestützt werden kann (BGE 135 IV 56 E. 2.1 S. 64; 127 IV 62 E. 2d S. 64 f.; je mit Hinweisen). Die Zurechenbarkeit des Erfolgs bedingt die Vorhersehbarkeit nach dem Massstab der Adäquanz. Weitere Voraussetzung ist, dass der Erfolg vermeidbar war. Dabei wird ein hypothetischer Kausalverlauf untersucht und geprüft, ob der Erfolg bei pflichtgemässem Verhalten des Täters ausgeblieben wäre. Für die Zurechnung des Erfolgs genügt, wenn das Verhalten des Täters mindestens mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit die Ursache des Erfolgs bildete (BGE 135 IV 56 E. 2.1 S. 64 f. mit Hinweisen).
1.3.2. Im Strassenverkehr richtet sich der Umfang der zu beachtenden Sorgfalt nach den Bestimmungen des Strassenverkehrsgesetzes und der dazugehörenden Verordnungen. Gemäss Art. 26 Abs. 1 SVG muss sich im Verkehr jedermann so verhalten, dass er andere in der ordnungsgemässen Benützung der Strasse weder behindert noch gefährdet. Nach Abs. 2 der Bestimmung ist besondere Vorsicht geboten gegenüber Kindern, Gebrechlichen und alten Leuten, ebenso wenn Anzeichen dafür bestehen, dass sich ein Strassenbenützer nicht richtig verhalten wird. Der Vertrauensgrundsatz gilt auch im Verhältnis zwischen Fahrzeugführern und Fussgängern im Bereich von Fussgängerstreifen (BGE 129 IV 39 E. 2.2 S. 43 mit Hinweis). An den Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel ist auf ein- und aussteigende Personen Rücksicht zu nehmen (Art. 33 Abs. 3 SVG). Das Trottoir ist den Fussgängern, der Radweg den Radfahrern vorbehalten (Art. 43 Abs. 2 SVG). Muss mit einem Fahrzeug das Trottoir benützt werden, so ist der Führer gegenüber den Fussgängern und Benützern von fahrzeugähnlichen Geräten zu besonderer Vorsicht verpflichtet; er hat ihnen den Vortritt zu lassen (Art. 41 Abs. 2 VRV).
1.4. Entgegen den vorinstanzlichen Erwägungen kann dem Beschwerdeführer vorliegend keine Pflichtwidrigkeit vorgeworfen werden. Zu Gunsten des Beschwerdeführers ist "in dubio pro reo" davon auszugehen, dass sich die Geschädigte zunächst aus dem Gefahrenbereich wegbewegt hat, ehe sie unmittelbar vor dem Zusammenprall mit dem Aussenspiegel des Busses unvermittelt einen Schritt zurück Richtung Strasse und damit in den Gefahrenbereich hinein tätigte. In dieser Situation war der Beschwerdeführer indessen nicht zu besonderer Vorsicht verpflichtet. Er musste nicht mit einem derartigen Fehlverhalten rechnen, so dass der von der Vorinstanz angeführte Art. 26 Abs. 2 SVG nicht zur Anwendung gelangt.
Zuzustimmen ist dem Beschwerdeführer, dass sich die Rücksichtspflicht gemäss Art. 33 Abs. 3 SVG primär an Fahrzeugführer richtet, die an Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel vorbeifahren und die aufgrund von sich dort befindlichen Bussen oder Strassenbahnen mit unvorsichtig auf die Strasse hinaustretenden Personen zu rechnen haben (vgl. BGE 97 IV 242 E. 2 S. 244 f.; Urteile 6B_541/2016 vom 23. Februar 2017 E. 1.5; 1C_604/2012 vom 17. Mai 2013 E. 6.2; 1C_425/2012 vom 17. Dezember 2012 E. 3.1; 4A_479/2009 vom 23. Dezember 2009 E. 5.2). Aus dieser Bestimmung lässt sich folglich keine besondere Vorsichtspflicht für an die Haltestelle heranfahrende Buschauffeure ableiten. Es ist zudem nicht ersichtlich, inwiefern der gemäss eigenen Angaben, von welchen auch die Vorinstanz auszugehen scheint, nicht einmal im Schritttempo an die Bushaltestelle heranfahrende Beschwerdeführer grössere Vorsicht hätte walten lassen können. Dass er sich ausgehend von der Annahme, die Geschädigte habe sich aus dem Gefahrenbereich entfernt, in der Folge darauf konzentrierte, möglichst genau an den Rand des Trottoirs und an die vorgegebenen Haltepunkte heranzufahren, kann nicht als sorgfaltswidrig qualifiziert werden. Auch mit Blick auf die vorinstanzliche Feststellung, die Geschädigte habe den Bus nicht wahrgenommen und sei mit dem Rücken zur Fahrbahn gestanden, war der Beschwerdeführer nicht verpflichtet, zu hupen oder den Bus sofort zum Stillstand zu bringen. Dafür hatte er schlicht keine Veranlassung, nachdem aus seiner Warte keine Gefahr eines Zusammenpralls mehr bestand. Wie der Beschwerdeführer zu Recht einwendet, könnte ein Bus im Feierabendverkehr sonst kaum je ohne derartige Vorkehrungen eine Haltestelle anfahren. Personen, die sich im Bereich einer Bushaltestelle aufhalten, haben mit an- und wegfahrenden Bussen zu rechnen und einen ausreichenden Abstand zur Fahrbahn einzuhalten. Begeben sie sich in so einer Situation unmittelbar vor der Anfahrt des Busses überraschend in den Gefahrenbereich, ist dies für den Buschauffeur nicht vorhersehbar.
 
2.
Die Beschwerde ist gutzuheissen. Damit erübrigt es sich, auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers einzugehen. Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Beschwerdegegnerin 2 unterliegt mit ihrem Antrag auf Abweisung der Beschwerde. Bei diesem Verfahrensausgang hat sie die hälftigen Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der Beschwerdegegnerin 1 sind keine Kosten aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 4 BGG). Die Beschwerdegegnerin 2 hat, zusammen mit dem Kanton St. Gallen, den Beschwerdeführer angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Kantonsgerichts St. Gallen vom 30. Mai 2016 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
2. Die Gerichtskosten werden im Umfang von Fr. 1'000.-- der Beschwerdegegnerin 2 auferlegt.
3. Die Beschwerdegegnerin 2 und der Kanton St. Gallen haben dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von je Fr. 1'500.-- zu bezahlen.
4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht St. Gallen, Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 6. Juni 2017
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Denys
Der Gerichtsschreiber: M. Widmer