BGer I 601/2003
 
BGer I 601/2003 vom 27.02.2004
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
I 601/03
Urteil vom 27. Februar 2004
III. Kammer
Besetzung
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger; Gerichtsschreiber Hochuli
Parteien
S.________, 1948, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Tim Walker, Hinterdorf 27, 9043 Trogen,
gegen
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, Beschwerdegegnerin
Vorinstanz
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen
(Entscheid vom 1. Mai 2003)
Sachverhalt:
A.
S.________, bosnische Staatsangehörige, geboren 1948, Mutter von drei Söhnen (geboren 1971, 1975 und 1979, auch in der Schweiz lebend) besuchte in ihrem Heimatland die Grundschule, reiste Ende 1990 zu ihrem seit 1986 in der Schweiz lebenden, ebenfalls aus Bosnien stammenden Ehemann und war vom 1. März 1991 bis 31. August 2000 im Restaurant X._________ als vollzeitliche Hilfskraft in der Küche und den Zimmern angestellt. Ihr Hausarzt Dr. med. K.________ attestierte ihr u.a. wegen Depression, einem Drehschwindel und verschiedener Rückenbeschwerden ab 20. Dezember 1999 eine volle Arbeitsunfähigkeit. Am 13. Oktober 2000 meldete sie sich bei der IV-Stelle des Kantons St. Gallen (nachfolgend: IV-Stelle) zum Bezug von Rentenleistungen an. Nach Einholung verschiedener Arztberichte und einer polydisziplinären Begutachtung im ABI (Ärztliches Begutachtungsinstitut) lehnte die IV-Stelle den Anspruch auf eine Invalidenrente gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 31 % ab (Verfügung vom 31. Mai 2002).
B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde der S.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 1. Mai 2003 ab.
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt S.________ beantragen, es sei ihr unter Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheids und der Verwaltungsverfügung eine ganze Invalidenrente zuzusprechen, im Falle der Gutheissung vorliegender Beschwerde sei für das Verfahren vor der Vorinstanz eine angemessene Parteientschädigung zuzusprechen, ein zweiter Schriftenwechsel durchzuführen sowie die unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsvertretung zu bewilligen.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über den Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG), den Anspruch auf eine Invalidenrente und die Bemessung der Invalidität nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 1, 1bis und 2 IVG in der hier anwendbaren, bis Ende 2003 gültig gewesenen Fassung) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
1.2 Es bleibt darauf hinzuweisen, dass am 1. Januar 2003 das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten ist. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Invalidenversicherungsbereich geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: vom 31. Mai 2002) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen anwendbar.
2.
Streitig und zu prüfen ist vorweg der Grad der Arbeitsfähigkeit. Während Vorinstanz und Verwaltung gestützt auf das Gutachten des ABI vom 7. November 2001 (nachfolgend: ABI-Gutachten) in Bezug auf eine leidensadaptierte Tätigkeit von einer aus gesundheitlichen Gründen um einen Drittel eingeschränkten Leistungsfähigkeit ausgingen, macht die Beschwerdeführerin geltend, spätestens seit dem 20. Dezember 1999 [...] zu 100 % arbeits- und erwerbsunfähig zu sein.
3.
3.1 Aufgabe des Arztes oder der Ärztin ist es, den Gesundheitszustand zu beurteilen und dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten die versicherte Person arbeitsunfähig ist. Im Weiteren sind die ärztlichen Auskünfte eine wichtige Grundlage für die Beurteilung der Frage, welche Arbeitsleistungen der Person noch zugemutet werden können (BGE 125 V 261 Erw. 4, 115 V 134 Erw. 2, 114 V 314 Erw. 3c, 105 V 158 Erw. 1).
Entscheidend ist die nach einem weit gehend objektivierten Massstab zu erfolgende Beurteilung, ob und inwiefern der versicherten Person trotz ihres Leidens die Verwertung ihrer Restarbeitsfähigkeit auf dem ihr nach ihren Fähigkeiten offen stehenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt noch sozial-praktisch zumutbar und für die Gesellschaft tragbar ist (BGE 127 V 298 Erw. 4b/cc mit Hinweisen).
3.2 Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist entscheidend, ob der Bericht für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge und in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet sind (BGE 125 V 352 Erw. 3a mit Hinweis). Im Rahmen der Beweiswürdigung darf und soll das Gericht in Bezug auf Berichte von Hausärzten der Erfahrungstatsache Rechnung tragen, dass Hausärzte mitunter im Hinblick auf ihre auftragsrechtliche Vertrauensstellung in Zweifelsfällen eher zu Gunsten ihrer Patienten aussagen (BGE 125 V 353 Erw. 3b/cc mit Hinweisen).
4.
4.1 Die Vorinstanz gelangte mit in allen Teilen überzeugender Begründung sowie unter umfassender Berücksichtigung sämtlicher medizinischer Unterlagen zutreffend zur Auffassung, dass auf die Ergebnisse des ABI-Gutachtens abzustellen ist. Demzufolge ist davon auszugehen, dass die Versicherte trotz ihrer gesundheitlichen Einschränkungen in einer körperlich leichten und gut adaptierten Tätigkeit in Bezug auf ein volles Pensum zumutbarerweise eine Arbeitsfähigkeit von 66,66 % verwerten könnte.
4.2 Demgegenüber macht die Beschwerdeführerin geltend, die zahlreichen Diagnosen würden die volle Erwerbsunfähigkeit beweisen. "Bei so vielen Diagnosen [sei] keine Arbeit mehr zumutbar." Die Ausrichtung der vollen Krankentaggelder während zwei Jahren ab 20. Dezember 1999 beweise mithin zusätzlich, dass die Versicherte aus gesundheitlichen Gründen keine Arbeit mehr aufnehmen könne. Sowohl die Erhebung einer Diagnose als auch die Ermittlung deren Auswirkungen auf die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit gehört zu den Aufgaben des Arztes (Erw. 3.2 hievor). Was die Beschwerdeführerin im Weiteren gegen den Beweiswert des ABI-Gutachtens ins Feld führt, erweist sich als haltlos und bedarf keiner weiteren Erörterung. Da auch die übrigen Einwendungen der Versicherten unbegründet sind, ist nicht zu beanstanden, dass Verwaltung und Vorinstanz auf das ABI-Gutachten abstellten.
5.
Zu prüfen bleibt die erwerbliche Seite.
5.1 Zunächst ist zu untersuchen, welches Einkommen die Versicherte ohne Invalidität erzielen könnte (Valideneinkommen).
5.1.1 Für die Ermittlung des Valideneinkommen ist entscheidend, was sie im Zeitpunkt des frühestmöglichen Rentenbeginns (hier: am 1. Dezember 2000) nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit als Gesunde tatsächlich verdient hätte. Dabei wird in der Regel am zuletzt erzielten, nötigenfalls der Teuerung und der realen Einkommensentwicklung angepassten Verdienst angeknüpft, da es empirischer Erfahrung entspricht, dass die bisherige Tätigkeit ohne Gesundheitsschaden fortgesetzt worden wäre (vgl. BGE 129 V 224 Erw. 4.3.1 mit Hinweisen).
5.1.2 1999 erzielte die Beschwerdeführerin ein Jahreseinkommen von Fr. 31'000.-. Bezüglich der Anpassung an die Lohnentwicklung ist eine Differenzierung nach Geschlechtern vorzunehmen, weshalb auf den Nominallohnindex für Frauenlöhne abzustellen ist (BGE 129 V 410 Erw. 3.1.2). Dieser betrug im Jahr 1999 105,7 und im Jahr 2000 107,0 Punkte (1993 = 100; Bundesamt für Statistik, Lohnentwicklung 2001, S. 33, Tabelle T1.2.93, Handel/Reparatur/Gastgewerbe), was 1,23 Prozentpunkten entspricht, sodass die Versicherte ohne Gesundheitsschaden im Jahre 2000 einen Verdienst von Fr. 31'381.- (= Fr. 31'000.- x 1,0123) hätte realisieren können.
5.2 Nimmt die Versicherte wie vorliegend nach Eintritt des Gesundheitsschadens keine oder jedenfalls keine ihr an sich zumutbare neue Erwerbstätigkeit auf, so können für die Ermittlung des hypothetischen Einkommens nach Eintritt der Invalidität (Invalideneinkommen) die so genannten Tabellenlöhne gemäss der vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) herangezogen werden (BGE 126 V 76 f. Erw. 3b/bb). Hier ist wie üblich (vgl. z.B. BGE 126 V 81 Erw. 7a) von der Tabelle A1 ("Monatlicher Bruttolohn [Zentralwert] nach Wirtschaftszweigen, Anforderungsniveau des Arbeitsplatzes und Geschlecht. Privater Sektor") der LSE auszugehen. Mit einfachen und repetitiven Tätigkeiten (LSE 2000 S. 31 TA1 Anforderungsniveau 4) beschäftigte Frauen verdienten bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden im Jahre 2000 monatlich Fr. 3658.- (LSE 2000, a.a.O., Zeile "Total"), was bei Annahme einer durchschnittlichen betriebsüblichen wöchentlichen Arbeitszeit von 41,8 Stunden (Die Volkswirtschaft 2003 Heft 7 S. 90 Tabelle B9.2 Zeile A-O "Total") einem Einkommen von monatlich Fr. 3822.- (= [Fr. 3658.- : 40] x 41,8) und jährlich Fr. 45'864.- (= Fr. 3822.- x 12) entspricht. Da der ermittelte Validenlohn von Fr. 31'381.- (Erw. 5.1.2 hievor) im Vergleich zum branchenüblichen Verdienst von Frauen im Gastgewerbe auf dem Anforderungsniveau 4 von Fr. 37'332.- im Jahr 2000 (gemäss LSE 2000, a.a.O., Zeile 55, bei monatlich Fr. 3111.-) deutlich, nämlich rund 16 % (= [Fr. 37'332.- - Fr. 31'381.-] : 373,32), unter dem statistisch erhobenen Durchschnittswert liegt, rechtfertigt es sich, den Tabellenlohn von Fr. 45'864.- vorweg um 16 % auf die mit dem Validenlohn vergleichbare Ausgangsbasis zu reduzieren (Fr. 45'864.- x 0,84 = Fr. 38'525.-). Um den besonderen Einschränkungen der Versicherten (insbesondere der Limitierung auf körperlich leichte, vorwiegend sitzend auszuübende Tätigkeiten) Rechnung zu tragen, ist sodann unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles ein angemessener Abzug von 10 % (vgl. BGE 126 V 79 ff. Erw. 5b) vorzunehmen, sodass mit einer behinderungsadaptierten Tätigkeit ein Jahreseinkommen von Fr. 34'672.- (= Fr. 38'525.- x 0,9) erzielbar wäre. Da die Beschwerdeführerin gemäss ABI-Gutachten in einer solchen angepassten Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen zu einem Drittel eingeschränkt ist, resultiert im Ergebnis ein trotz Gesundheitsschaden zumutbares Erwerbseinkommen (Invalideneinkommen) von Fr. 23'114.- (Fr. 34'672.- x 0,66).
5.3 Aus der Gegenüberstellung dieses Invalideneinkommens auf der einen und des Valideneinkommens von Fr. 31'381.- (Erw. 5.1.2 hievor) auf der andern Seite ergibt sich ein Mindereinkommen von Fr. 8267.- und ein Invaliditätsgrad von 26 % (Fr. 8267.- / Fr. 31'381.- x 100). Verwaltung und Vorinstanz haben somit den erhobenen Anspruch auf eine Invalidenrente im Ergebnis zu Recht abgelehnt.
6.
Da es im vorliegenden Verfahren um Versicherungsleistungen geht, sind gemäss Art. 134 OG keine Gerichtskosten zu erheben. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im Sinne der Befreiung von den Gerichtskosten erweist sich daher als gegenstandslos. Dem Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung kann hingegen stattgegeben werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit gestützt auf die innert zweifach erstreckter Frist eingereichten Angaben über die wirtschaftliche Lage der Gesuchstellerin und ihres Ehegatten offensichtlich zu bejahen ist, die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen ist und die Vertretung geboten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwalt Tim Walker, Trogen, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zugesprochen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, der Ausgleichskasse GastroSuisse und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 27. Februar 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Präsidentin der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
i.V.