BGE 147 IV 167
 
16. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und B. (Beschwerde in Strafsachen)
 
6B_1370/2019 vom 11. März 2021
 
Regeste
Art. 404 Abs. 1 StPO; Art. 329 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 zweiter Satz, Art. 333 Abs. 1 und 2, je in Verbindung mit Art. 379 StPO; Art. 391 Abs. 1 und 2 StPO; Unzulässigkeit eines zusätzlichen Schuldspruchs aufgrund eines im Berufungsverfahren erweiterten Anklagesachverhalts.
Art. 329 Abs. 2 StPO erlaubt nur Anklageergänzungen im Rahmen des erstinstanzlich fixierten Verfahrensgegenstandes (E. 1.3).
Auch Art. 333 Abs. 1 StPO bietet keine Grundlage, um bisher nicht verfolgte Tatvorgänge in das Verfahren einzubeziehen (E. 1.4).
Ein zusätzlicher Schuldspruch wegen einer erst während des Berufungsverfahrens bekannt gewordenen Straftat (vgl. Art. 333 Abs. 2 StPO) scheitert am Verbot der reformatio in peius (Art. 391 Abs. 2 StPO): Das zu Lasten der beschuldigten Person erhobene Rechtsmittel hebt das Verschlechterungsverbot schon innerhalb des bisherigen Verfahrensgegenstands nur im Umfang der gestellten Anträge auf. Umso weniger darf das Berufungsgericht einen zusätzlichen Schuldpunkt in das Verfahren einführen. Daher ist Art. 333 Abs. 2 StPO im Berufungsverfahren generell nicht anwendbar (E. 1.5.1-1.5.3).
Im Sinn von Art. 333 Abs. 2 StPO "neue Straftaten" sind auch keine Tatsachen, die im Sinn von Art. 391 Abs. 2 zweiter Satz StPO zu einer strengeren Bestrafung führen können (E. 1.5.4).
 
Sachverhalt


BGE 147 IV 167 (168):

A.
A.a Die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl beschuldigt A. der sexuellen Nötigung. Zusammen mit der Mitbeschuldigten C. habe er die Geschädigte B. zu einem gemeinsamen Abendessen eingeladen. Bei dieser Gelegenheit hätten die beiden Beschuldigten der Geschädigten Schlaftabletten verabreicht, um an ihr sexuelle Handlungen zu begehen. Nachdem die Geschädigte eingeschlafen sei, hätten die

BGE 147 IV 167 (169):

Beschuldigten sie gemeinsam ausgezogen. Der Beschuldigte habe sich später an der widerstandsunfähigen Geschädigten vergangen, indem er mindestens einen seiner Finger oder einen unbekannten Gegenstand in ihre Scheide eingeführt habe (Anklageschrift vom 31. März 2017).
Das Bezirksgericht Zürich sprach A. der sexuellen Nötigung schuldig. Es belegte ihn mit einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. Weiter stellte es fest, dass die Beschuldigten gegenüber der Privatklägerin B. im Grundsatz schadenersatzpflichtig sind. Zur Feststellung des Umfangs des Anspruchs verwies es die Privatklägerin auf den Zivilweg. Schliesslich verpflichtete das Bezirksgericht die Beschuldigten solidarisch, der Privatklägerin eine Genugtuung von Fr. 12'000.- zu bezahlen (Urteil vom 13. November 2017 und Beschluss vom 6. Juni 2018).
A.b A. reichte Berufung ein, mit der er u.a. einen Freispruch beantragte. Die Staatsanwaltschaft führte Anschlussberufung mit dem Antrag, der vorinstanzliche Schuldspruch sei zu bestätigen und die Freiheitsstrafe auf 41/2 Jahre anzusetzen.
A.c Anlässlich der Berufungsverhandlung vom 15. Januar 2019 beschloss das Obergericht des Kantons Zürich, die Staatsanwaltschaft zur Ergänzung der Anklage einzuladen.
A.d Mit ergänzter Anklageschrift vom 15. Februar 2019 beschuldigte die Staatsanwaltschaft A. zusätzlich folgender Handlungen: Er habe die sich in seinem Bett befindliche Geschädigte ins Gesicht geschlagen, sie an den Haaren gerissen und aufgefordert, die Mitbeschuldigte zu küssen und oral zu befriedigen. Dadurch habe er sich der sexuellen Nötigung, eventuell des Versuchs dazu, schuldig gemacht.
B. Das Obergericht des Kantons Zürich erkannte den Berufungskläger der sexuellen Nötigung und der versuchten sexuellen Nötigung für schuldig. Es sprach eine Freiheitsstrafe von vier Jahren aus. In den Zivilpunkten bestätigte es den erstinstanzlichen Entscheid (Urteil vom 22. Oktober 2019).
C. A. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, von Schuld und Strafe vollumfänglich freigesprochen zu werden. Eventuell sei die Sache zu weiteren Abklärungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Zivilforderungen der Privatklägerin seien auf den Zivilweg zu verweisen. Für das Strafverfahren seien ihm eine Entschädigung und eine Genugtuung zuzusprechen.


BGE 147 IV 167 (170):

B., die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und die Vorinstanz verzichten auf eine Stellungnahme.
 
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 1
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von strafprozessualen Bestimmungen betreffend die Prüfung, Änderung und Erweiterung der Anklage (Art. 329 und 333 StPO), zudem eine Verletzung des Verschlechterungsverbots (Art. 391 Abs. 2 StPO).
Nach Art. 404 Abs. 1 StPO überprüft das Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil nur in den angefochtenen Punkten (Dispositionsmaxime). In den nicht angefochtenen Punkten wird das erstinstanzliche Urteil rechtskräftig (Urteil 6B_533/2016 vom 29. November 2016 E. 4.2 mit Hinweisen; vgl. GILBERT KOLLY, Zum Verschlechterungsverbot im schweizerischen Strafprozess, ZStrR 113/1995 S. 299). Zugleich beschränkt Art. 404 Abs. 1 StPO den Streitgegenstand im Berufungsverfahren grundsätzlich auf Punkte, die bereits im erstinstanzlichen Urteil beurteilt worden sind. Die Vorinstanz ist von dieser Regel abgewichen und hat das Schulderkenntnis der ersten Instanz um einen zusätzlichen, vor erster Instanz nicht angeklagten Sachverhalt erweitert. Es stellt sich die Frage nach der Rechtsgrundlage.
1.3 Art. 329 StPO bietet keine Handhabe. Gestützt auf Abs. 1 lit. a und Abs. 2 zweiter Satz dieser Bestimmung weist das erstinstanzliche Gericht resp. das Berufungsgericht (Art. 379 StPO; SCHMID/JOSITSCH, Schweizerische Strafprozessordnung [StPO], 3. Aufl. 2018, N. 10 zu Art. 329 StPO; STEPHENSON/ZALUNARDO-WALSER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014,

BGE 147 IV 167 (171):

N. 5b zu Art. 333 StPO) eine Anklage zur Ergänzung oder Berichtigung an die Staatsanwaltschaft zurück, wenn die Anklage den Anforderungen an den Inhalt einer Anklageschrift (Art. 325 StPO) nicht entspricht, wenn die Akten nicht im Sinn von Art. 100 StPO ordnungsgemäss geführt sind oder - ausnahmsweise - wenn Beweise zu ergänzen sind ( BGE 141 IV 39 E. 1.6 S. 46). Art. 329 Abs. 2 StPO erlaubt nur Anklageergänzungen, die sich im Rahmen des erstinstanzlich fixierten Verfahrensgegenstandes halten (YVONA GRIESSER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], Donatsch und andere [Hrsg.], 3. Aufl. 2020, N. 25 zu Art. 329 StPO). Dies trifft hier nicht zu.
1.4 Entsprechendes gilt unter dem Titel von Art. 333 Abs. 1 StPO. Nach dieser ebenfalls auf das Berufungsverfahren übertragbaren Bestimmung (Art. 379 StPO; Urteil 6B_428/2013 vom 15. April 2014 E. 3.3) gibt das Gericht der Staatsanwaltschaft (unter Vorbehalt des Verschlechterungsverbots, vgl. unten E. 1.5.2) Gelegenheit, die Anklage zu ändern, wenn nach seiner Auffassung der in der Anklageschrift umschriebene Sachverhalt einen anderen (Umqualifizierung) - oder, bei echter Konkurrenz, einen zusätzlichen - Straftatbestand erfüllen könnte, die Anklageschrift aber den gesetzlichen Anforderungen nicht entspricht (vgl. dazu PIERRE-HENRI WINZAP, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2. Aufl. 2019, N. 5 zu Art. 333 StPO). Auch hier zielt die Überweisung an die Staatsanwaltschaft nicht darauf ab, weitere, bisher nicht verfolgte Tatvorgänge zu erfassen.
 
Erwägung 1.5
1.5.1 Nach Art. 333 Abs. 2 StPO kann das Gericht der Staatsanwaltschaft gestatten, die Anklage zu erweitern, wenn während des Hauptverfahrens neue Straftaten der beschuldigten Person bekannt werden. Es handelt sich um eine Ausnahme vom Immutabilitätsprinzip, wonach das Gericht an den in der Anklage umschriebenen Sachverhalt gebunden ist (Art. 350 Abs. 1 StPO, vgl. auch Art. 9 Abs. 1 StPO; WINZAP, a.a.O., N. 8 zu Art. 333 StPO; NIKLAUS OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 4. Aufl. 2020, Rz. 1872 ff.; vgl. MOREILLON/PAREIN-REYMOND, CPP, Code de procédure pénale, 2. Aufl. 2016, N. 9 zu Art. 333 StPO). Gemeint sind Fälle, in denen die Prozessökonomie es nahelegt, Straftaten, die während des gerichtlichen Verfahrens entdeckt worden sind, nachträglich einzubeziehen, statt sie einem weiteren Verfahren vorzubehalten (STEPHENSON/ZALUNARDO-WALSER, a.a.O., N. 8 zu Art. 333 StPO).


BGE 147 IV 167 (172):

Art. 333 Abs. 2 StPO gilt jedenfalls für das erstinstanzliche Hauptverfahren. Sofern diese Bestimmung auch im Rechtsmittelverfahren anwendbar sein sollte (vgl. Art. 379 StPO) - d.h. der Verfahrensgegenstand noch in zweiter Instanz auf "neue Straftaten" ausgedehnt werden dürfte - durchbräche dies den Grundsatz der Doppelinstanzlichkeit (Art. 80 Abs. 2 BGG und Art. 32 Abs. 3 BV; vgl. auch Art. 2 Ziff. 1 erster Satz des Protokolls Nr. 7 vom 22. November 1984 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten [SR 0.101.07], welcher Bestimmung indessen schon eine kassatorische Rechtskontrolle genügt; MARK E. VILLIGER, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention [EMRK], 3. Aufl. 2020, Rz. 483 und 944 ff., 947). Das Problem stellt sich aber nur, wenn die Erweiterung im Rechtsmittelverfahren nicht ohnehin schon durch das Verbot, den Berufungskläger schlechterzustellen, ausgeschlossen ist.
1.5.2 Die Rechtsmittelinstanz ist im Schuld- und Strafpunkt zwar nicht an die Anträge der Parteien gebunden (Art. 391 Abs. 1 StPO). Nach Art. 391 Abs. 2 erster Satz StPO darf sie aber den angefochtenen Entscheid nicht zum Nachteil der beschuldigten oder verurteilten Person abändern (reformatio in peius), wenn das Rechtsmittel nur zu deren Gunsten ergriffen worden ist. Für die Frage, ob eine unzulässige reformatio in peius vorliegt, ist das Dispositiv massgebend ( BGE 142 IV 129 E. 4.5 S. 136; BGE 139 IV 282 E. 2.6 S. 289). Zusätzliche Schuldsprüche fallen gegebenenfalls unter das Verbot der Verschlechterung, selbst wenn die Sanktion nicht verschärft wird ( BGE 139 IV 282 E. 2.5 S. 288; STEFAN WEHRLE, Das Risiko der reformatio in peius - trotz Verbot, in: Risiko und Recht, 2004, S. 624). Dies betrifft einmal (zusätzliche) Schuldsprüche, die sich auf die im angefochtenen Entscheid behandelten Tatvorwürfe beziehen. Das Verschlechterungsverbot gälte weiter an sich auch für Schuldsprüche aufgrund einer Erweiterung des Verfahrensgegenstands nach Art. 333 Abs. 2 StPO; auf die Zulässigkeit einer solchen Ausdehnung im Berufungsverfahren ist zurückzukommen (E. 1.5.3). Art. 333 Abs. 2 StPO zielte (in Verbindung mit Art. 379 StPO) gegebenenfalls auf Fälle ab, in denen die neue Straftat (erst) während des Rechtsmittelverfahrens bekannt wird. Bezüglich dieser neuen Straftat fehlte es zwangsläufig an einer Festlegung im erstinstanzlichen Urteil, die Gegenstand einer Anfechtung sein könnte, also auch an einem einschlägigen, auf den zusätzlichen Schuldspruch abzielenden Antrag in der Berufungs- oder Anschlussberufungsschrift.


BGE 147 IV 167 (173):

Zum Verhältnis zwischen dem Grundsatz der Nichtbindung an die Parteianträge (Art. 391 Abs. 1 StPO) und dem Verbot der reformatio in peius (Abs. 2) stellt sich vorweg die allgemeine Frage, in welchem Umfang eine (beispielsweise auf den Strafpunkt beschränkte) Anschlussberufung das Verschlechterungsverbot aufhebt (vgl. LUZIUS EUGSTER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 3 zu Art. 401 StPO; zur entsprechenden Fragestellung im Verhältnis zwischen verschiedenen Schuldsprüchen: ZIEGLER/KELLER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 4a zu Art. 391 StPO). Nur falls ein Rechtsmittel etwa mit alleinigem Antrag auf Verschärfung der Freiheitsstrafe eine reformatio in peius auch im Schuldpunkt grundsätzlich ermöglichte, käme es überhaupt infrage, dass die Rechtsmittelinstanz gar einen Schuldpunkt beurteilen kann, der noch nicht einmal Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens gewesen ist. Hievon geht die Vorinstanz aus, wenn sie ausführt, die Ergänzung der Anklage verstosse nicht gegen das Verbot der reformatio in peius, weil nicht nur ein Rechtsmittel zu Gunsten des Beschwerdeführers ergriffen worden sei; vielmehr habe die Staatsanwaltschaft "beschränkt auf den Strafpunkt" Anschlussberufung erhoben. Dabei stützt sich die Vorinstanz auf den Wortlaut von Art. 391 Abs. 2 StPO, wonach die Rechtsmittelinstanz Entscheide nicht zum Nachteil der beschuldigten oder verurteilten Person abändern darf, wenn das Rechtsmittel "nur zu deren Gunsten ergriffen worden ist".
Da die Staatsanwaltschaft mit Anschlussberufung eine Verschärfung des erstinstanzlichen Strafmasses verlangt, verhält es sich zwar nicht so, dass nur ein zu Gunsten des Beschwerdeführers ergriffenes Rechtsmittel vorliegt. Dennoch wird das vorinstanzliche Verständnis der gesetzgeberischen Absicht nicht gerecht. Das Verschlechterungsverbot bezweckt, dass die beschuldigte Person ihr Recht auf Weiterzug eines belastenden Entscheids wahrnehmen kann, ohne dadurch Gefahr zu laufen, dass der angefochtene Entscheid zu ihrem Nachteil abgeändert wird ( BGE 144 IV 35 E. 3.1.1 S. 43; Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1311). Die möglichen Gegenstände einer Anschlussberufung der Gegenseite beschränken sich indessen nicht auf den Umfang der Hauptberufung (Art. 401 Abs. 2 StPO; BGE 140 IV 92 ). Um das mit einer Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft oder Privatklägerschaft verbundene Verschlechterungsrisiko zu beseitigen, muss die beschuldigte Person die Hauptberufung zurückziehen (Art. 401 Abs. 3 StPO) und damit auf Rechtsschutz verzichten.


BGE 147 IV 167 (174):

1.5.3 Vor diesem Hintergrund würde die in Art. 391 Abs. 2 StPO vorgesehene Schutzwirkung vereitelt, wenn die Anschlussberufung das Schlechterstellungsverbot überschiessend - über die zulasten des Beschuldigten gestellten Anträge hinaus - beseitigen würde. Es bleibt Sache der zur Anschlussberufung berechtigten Partei, ihre Dispositionsfreiheit auszuüben und mit Anträgen in der Sache den Verfahrens- resp. Streitgegenstand im Rechtsmittelverfahren zu bestimmen (Art. 404 Abs. 1 StPO; vgl. Art. 399 Abs. 4 StPO).
Dies gilt sinngemäss auch, wenn zulasten der beschuldigten Person eigenständige Berufung erhoben wird. Art. 404 Abs. 1 StPO definiert - und begrenzt - den im Berufungsverfahren zulässigen Streitgegenstand (oben E. 1.2). Ein zulasten des Beschuldigten erhobenes Rechtsmittel macht den erstinstanzlichen Entscheid im Rahmen der gestellten Anträge zum Gegenstand des zweitinstanzlichen Prozesses. Freilich werden auch Gesichtspunkte erfasst, die sachlich eng mit diesen Anträgen zusammenhängen (vgl. BGE 144 IV 383 E. 1.1; Urteil 6B_492/2018 vom 13. November 2018 E. 2.3). Wenn die Staatsanwaltschaft beispielsweise (wie hier) einzig in Bezug auf das Strafmass Berufung erhoben hat, kann die Berufungsinstanz etwa auch einen materiellrechtlichen Strafmilderungsgrund verneinen, der im angefochtenen Urteil anerkannt wurde (Urteil 6B_724/2017 vom 21. Juli 2017 E. 2.3). Eine weitere Ausdehnung jedoch ist dem Berufungsgericht schon innerhalb des bisherigen Verfahrensgegenstands nicht erlaubt. Umso mehr noch fehlt es an der Möglichkeit, den Verfahrensgegenstand im Sinn von Art. 333 Abs. 2 StPO zu erweitern und einen zusätzlichen Schuldpunkt in das Verfahren einzuführen. Zumal es auch an einem einschlägigen Antrag fehlt (oben E. 1.5.2), dürfen die Tatvorwürfe nicht um einen Sachverhalt ergänzt werden, der erstinstanzlich nicht zu beurteilen war. Art. 333 Abs. 2 StPO ist daher im Berufungsverfahren generell nicht anwendbar.
Bisher unbekannte Tatsachen im Sinn von Art. 391 Abs. 2 zweiter Satz StPO sind beispielsweise die persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnisse, die für die Bemessung der Höhe des Tagessatzes nach

BGE 147 IV 167 (175):

Art. 34 Abs. 2 dritter Satz StGB massgebend sind ( BGE 146 IV 172 E. 3.3.3 S. 182; BGE 144 IV 198 E. 5.4.3 S. 201), oder eine Verurteilung als Element der Legalprognose beim bedingten Strafvollzug ( BGE 142 IV 89 E. 2.3 S. 92). Gemeint sind Umstände, die die Rechtsfolgen der angeklagten Taten betreffen (vgl. auch SCHMID/JOSITSCH, a.a.O., N. 7 zu Art. 391 StPO; RICHARD CALAME, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2. Aufl. 2019, N. 10 a.E. zu Art. 391 StPO). "Neue Straftaten" im Sinn von Art. 333 Abs. 2 StPO sind keine Tatsachen im Sinn von Art. 391 Abs. 2 zweiter Satz StPO. Auch diese Bestimmung erlaubt es also nicht, den Verfahrensgegenstand auf einen Lebenssachverhalt zu erweitern, der einen zusätzlichen Schuldspruch begründen kann.