29. Auszug aus dem Urteil der Anklagekammer i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen gegen Verhöramt des Kantons Nidwalden und Generalprokurator des Kantons Bern
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8G.130/2002 vom 12. Februar 2003
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Regeste
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Art. 263 BStP; Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand.
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Sachverhalt
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BGE 129 IV 202 (202):
A.- A. und B. wird zur Hauptsache vorgeworfen, in sechs Kantonen insgesamt 32 Einbruchdiebstähle begangen zu haben. Die erste Tat wurde am 25. Juni 2002 im Kanton Nidwalden verübt und am selben Tag in diesem Kanton angezeigt. Von den übrigen Delikten wurden 12 im Kanton Bern, neun im Kanton Glarus, fünf im Kanton St. Gallen, vier im Kanton Zürich und einer im Kanton Luzern begangen.
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Zwischen den Behörden der Kantone St. Gallen, Nidwalden und Bern kam es in Bezug auf die Zuständigkeit zur Führung des Strafverfahrens nicht zu einer Einigung.
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B.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen wendet sich mit Eingabe vom 24. Dezember 2002 an die Anklagekammer des Bundesgerichts und beantragt, der Kanton Nidwalden, eventuell der Kanton Bern, sei berechtigt und verpflichtet zu erklären, das Strafverfahren gegen A. und B. zu führen.
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Das Verhöramt des Kantons Nidwalden beantragt in seiner Stellungnahme vom 20. Januar 2003, es seien nicht die Behörden des BGE 129 IV 202 (203):
Kantons Nidwalden für berechtigt und verpflichtet zu erklären, die Angeschuldigten strafrechtlich zu verfolgen und zu beurteilen.
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Der Generalprokurator des Kantons Bern beantragt in seiner Stellungnahme vom 24. Januar 2002, es seien die Strafbehörden des Kantons Nidwalden berechtigt und verpflichtet zu erklären, das Strafverfahren gegen die beiden Angeschuldigten zu führen und deren strafrechtlich relevantes Verhalten zu beurteilen.
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Aus den Erwägungen:
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Ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand kann etwa gerechtfertigt sein, wenn in einem Kanton ein offensichtliches Schwergewicht der deliktischen Tätigkeit liegt, wobei es allerdings nicht genügt, dass auf einen Kanton einige wenige Delikte mehr als auf einen anderen entfallen, sondern das Übergewicht muss so offensichtlich und bedeutend sein, dass sich das Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand geradezu aufdrängt. Wenn mehr als zwei Drittel einer grösseren Anzahl von vergleichbaren Straftaten auf einen einzigen Kanton entfallen, kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass in diesem Kanton ein Schwergewicht besteht, welches es rechtfertigt, vom gesetzlichen Gerichtsstand abzuweichen (BGE 123 IV 23). Bei nur einem Drittel einer grösseren Anzahl von Straftaten, die in einem Kanton begangen wurden, dürfte in diesem Kanton demgegenüber regelmässig noch kein hinreichendes Schwergewicht für ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand vorliegen (Urteil der Anklagekammer 8G.47/2002 vom 31. Mai 2002, E. 2c). Diese Regeln gelten jedoch nicht absolut, sondern müssen ihrerseits einer Überprüfung vor allem nach prozessökonomischen Gesichtspunkten standhalten (BGE 123 IV 23 E. 2a mit Hinweisen).
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BGE 129 IV 202 (204):
Auch andere Kriterien können bei der Frage, ob ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand gerechtfertigt ist, eine Rolle spielen (SCHWERI, Interkantonale Gerichtsstandsbestimmung in Strafsachen, Bern 1987, N. 437 ff.; TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Aufl., Zürich 1997, N. 19 vor Art. 346 StGB). So kann in besonders gelagerten Fällen im Hinblick auf den Wohnort oder die Sprache des Beschuldigten oder im Interesse der Beweisführung ein anderer als der gesetzliche Gerichtsstand zweckmässiger erscheinen (vgl. z.B. BGE 121 IV 224).
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Schliesslich gibt es besonders komplexe Fälle, die eine Vielzahl von Straftaten betreffen, die von mehreren Tätern allenfalls sogar in verschiedener Zusammensetzung in mehreren Kantonen verübt worden sind, und in denen ein eindeutiger Schwerpunkt in einem Kanton nicht auszumachen ist. Eine Lösung, die in derartigen Fällen dem Bestreben nach Zweckmässigkeit und Prozessökonomie entgegenkommt, bietet das forum secundum praeventionis. Dabei wird nicht auf die erste angezeigte Tat abgestellt, sondern der Gerichtsstand im Verhältnis der Kantone, in denen jeweils ein Schwergewicht liegt, gemäss Art. 350 StGB festgesetzt (BGE 112 IV 139; SCHWERI, a.a.O., N. 432 ff.).
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In jedem Fall aber muss darauf geachtet werden, dass grobe Verfahrensverzögerungen und ein unnötiger prozessualer Aufwand vermieden werden. Wenn die Untersuchung nahezu abgeschlossen ist, rechtfertigt sich in der Regel eine Änderung des Gerichtsstands und insbesondere ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand nicht mehr (BGE 123 IV 23 E. 2a; BGE 94 IV 44 S. 47; SCHWERI, a.a.O., N. 469 und 488).
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Das Verhöramt des Kantons Nidwalden betont, dass in seinem Kanton nur eine einzige von 32 Straftaten begangen worden sei. Damit steht jedoch einzig fest, dass im Kanton Nidwalden kein Schwergewicht der deliktischen Tätigkeit liegt. Trotz dieses Umstandes drängt sich denn auch aus verschiedenen Gründen ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand nicht auf.
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Zunächst geht es nicht um eine grosse, sondern nur um eine mittlere Anzahl von Straftaten. Im vom Verhöramt des Kantons Nidwalden BGE 129 IV 202 (205):
in seiner Stellungnahme erwähnten BGE 112 IV 139, in dem vom gesetzlichen Gerichtsstand abgewichen wurde, ging es demgegenüber um insgesamt 110 Straftaten. Der vorliegende Fall ist mit dem bei SCHWERI (a.a.O., N. 434) erwähnten aus dem Jahr 1986 vergleichbar. Obwohl von insgesamt 49 Straftaten nur zwei im zuständigen Kanton Schwyz verübt worden waren, lehnte die Anklagekammer ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand ab (Urteil AK 13/1986 vom 14. Mai 1986).
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Das Verhöramt des Kantons Nidwalden weist im Übrigen selber darauf hin, dass die Straftaten im Kanton Bern alle in einem eng begrenzten Raum in und um Leissigen begangen worden seien. Dies spricht jedoch nicht für ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand, weil sich auch im Kanton Bern ein personell schwach dotiertes Untersuchungsrichteramt nicht nur mit den 12 im Kanton Bern, sondern überdies mit den weiteren 20 in anderen Kantonen verübten Straftaten befassen müsste. Aus prozessökonomischen Gründen drängt sich aus diesem Grund folglich ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand nicht auf.
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Weiter ist zu berücksichtigen, dass in den Kantonen St. Gallen (Schlussbericht vom 4. Dezember 2002), Bern (Bericht vom 22. Oktober 2002), Glarus (Zusammenfassung der Straftaten vom 20. Dezember 2002), Nidwalden (Zusammenfassender Bericht vom 8. November 2002) und Luzern (zwei Berichte vom 8. November 2002) die polizeilichen Ermittlungen zu einem wesentlichen Teil abgeschlossen sind. Der Stand des Verfahrens spricht folglich ebenfalls dagegen, dieses einem anderen als dem von Gesetzes wegen zuständigen Kanton zuzuteilen. Das Verhöramt Nidwalden macht in diesem Zusammenhang geltend, nicht nur für die übrigen Verfahrensbeteiligten ergäben sich bei einer Zuteilung an den Kanton Nidwalden besondere Probleme, sondern es würden zudem in den meisten Fällen den Nidwaldner Behörden die besonderen Ortskenntnisse fehlen. Welche "besonderen Probleme" der übrigen Verfahrensbeteiligten für die Beurteilung der vorliegenden Gerichtsstandsfrage ausschlaggebend sein könnten, und welcher "besonderen Ortskenntnisse" es für die Beurteilung der Strafsache bedarf, ergibt sich aus der Vernehmlassung des Verhöramtes jedoch nicht und ist auch nicht ersichtlich.
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Gesamthaft gesehen drängt sich ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand, welches ohnehin nur die Ausnahme bildet, nicht auf. Das Gesuch der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen ist deshalb gutzuheissen und der Fall dem Kanton Nidwalden zuzuteilen.
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