BGE 118 IV 27
 
7. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 13. März 1992 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern gegen S. (Nichtigkeitsbeschwerde)
 
Regeste
Art. 140 StGB. Veruntreuung; Absicht unrechtmässiger Bereicherung, Ersatzfähigkeit.
 
Sachverhalt


BGE 118 IV 27 (28):

S. war seit 1962 als Betreibungsbeamter von R. tätig. Am 12. September 1984 führte der Amtsgerichtspräsident I von Hochdorf als untere kantonale Aufsichtsbehörde in Betreibungssachen eine ausserordentliche Kontrolle beim Betreibungsamt R. durch, da ein Verdacht auf Unregelmässigkeiten bestand.
Das Obergericht des Kantons Luzern sprach S. auf dessen Appellation mit Urteil vom 8. März 1991 schuldig des fortgesetzten Betruges, der fortgesetzten Gebührenüberforderung sowie der wiederholt fortgesetzten Falschbeurkundung im Amt und verurteilte ihn zu fünf Monaten Gefängnis, teilweise als Zusatzstrafe, mit bedingtem Strafvollzug (Probezeit zwei Jahre). Es sprach ihn von verschiedenen Anklagepunkten frei, insbesondere von der Anklage der wiederholt fortgesetzten Veruntreuung. Bei der Strafzumessung wandte es Art. 64 Abs. 8 StGB an.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern erhebt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichtes insoweit aufzuheben, als es S. von der wiederholt fortgesetzten Veruntreuung freigesprochen und soweit es Art. 64 Abs. 8 StGB angewandt hat, und die Sache insoweit zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
S. beantragt Abweisung der Beschwerde, soweit darauf eingetreten wird.
 
Aus den Erwägungen:
2. a) Gemäss den Ausführungen im angefochtenen Urteil hat der Betreibungsbeamte die Zahlungen der Schuldner an das Betreibungsamt auf Rechnung der Gläubiger entgegenzunehmen und - nach Abzug der eigenen Kosten des Betreibungsamtes - im Verteilungsverfahren an die Gläubiger etc. weiterzuleiten. Die Weiterleitung der Zahlungen habe "jeweils innert Kürze" zu erfolgen; mehr, d.h. eine sofortige Leistung, könne aus rein praktischen Gründen der Arbeitsorganisation und der für die Abrechnung und Überweisung einzusetzenden Zeit vom Betreibungsbeamten nicht verlangt werden. Die Vorinstanz verweist in diesem Zusammenhang auf zwei

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Autoren. Nach einer Bemerkung von ROBERT JOOS (Handbuch für die Betreibungsbeamten der Schweiz, 1964, S. 186) soll die Überweisung an den Gläubiger "nach Möglichkeit am Tage nach der Zahlung des Schuldners erfolgen". Gemäss JAEGER (Schuldbetreibung und Konkurs, 3. Aufl. 1911, Art. 9 SchKG N. 3) soll die Aushändigung der eingegangenen Gelder binnen drei Tagen stattfinden. Die Vorinstanz hält sodann fest, der Beschwerdegegner sei zur relevanten Zeit Eigentümer einer Liegenschaft und einer Eigentumswohnung gewesen und habe im übrigen über Wertschriften, eine Lebensversicherung, einen nicht ausgeschöpften Kredit und über Barmittel verfügt. Zwar hätten die vorhandenen Barmittel und der nicht ausgeschöpfte Kredit für den Ersatz der fehlenden betreibungsamtlichen Gelder nicht ausgereicht; doch sei als erstellt zu betrachten, dass der Beschwerdegegner dank seiner Liegenschaften jederzeit innert der verlangten Kürze aus seinen eigenen Mitteln hätte Ersatz leisten können. Die beiden Liegenschaften seien im Vergleich zu den fraglichen Fehlbeträgen nur in geringem Masse hypothekarisch belastet gewesen, so dass der Beschwerdegegner jederzeit innert Kürze (und damit zeitgerecht) einen entsprechenden hypothekarisch sicherzustellenden Kredit hätte erhalten können, womit er lediglich seine eigenen Mittel liquid gemacht hätte. Ersatzfähigkeit sei gegeben, wenn der Täter genügend eigene Mittel habe, um fristgerecht Ersatz zu leisten, auch wenn er dazu beispielsweise seine Wertschriften oder Grundstücke liquidieren, z.B. eine in geringem Umfang belastete Liegenschaft hypothekarisch belasten müsse. Wer dergestalt Ersatz leisten könne, sei nicht im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung auf Leistungen Dritter angewiesen und müsse nicht auf fremdes Vermögen greifen, sondern setze seine eigenen Mittel für den Ersatz ein.
Die Vorinstanz hält sodann fest, dass der Beschwerdegegner auch ersatzwillig gewesen sei. Damit sei aber die erforderliche Absicht unrechtmässiger Bereicherung nicht gegeben und der Beschwerdegegner daher vom Vorwurf der Veruntreuung freizusprechen.
b) Die Beschwerdeführerin macht geltend, Ersatzfähigkeit sei nur gegeben, wenn der Täter das Geld griffbereit habe, nicht aber dann, wenn er es erst noch bei Dritten, die ihm gegenüber zu keiner Leistung verpflichtet seien, beschaffen müsse. Der Beschwerdegegner habe keinen Anspruch auf einen Hypothekarkredit gehabt.
3. a) Wer anvertrautes Gut dem Berechtigten jederzeit zur Verfügung zu halten hat, bereichert sich unrechtmässig, wenn er es in seinem Nutzen verwendet, ohne fähig und gewillt zu sein, es jederzeit

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sofort zu ersetzen. Ist der Täter in einem solchen Fall fähig und gewillt, das Gut zu einem späteren Zeitpunkt zu ersetzen, dann beabsichtigt er eine vorübergehende Bereicherung, was zur Bestrafung genügt. Wer aber ihm anvertrautes Gut nicht jederzeit zur Verfügung des Berechtigten zu halten, sondern erst nach Ablauf einer bestimmten Frist bzw. zu einem bestimmten Zeitpunkt an den Berechtigten weiterzuleiten bzw. zurückzugeben hat, muss auf diesen Zeitpunkt hin und nicht auch schon in der Zwischenzeit ersatzfähig und ersatzwillig sein (BGE 77 IV 12 E. 1, BGE 91 IV 133; STRATENWERTH, Strafrecht Bes. Teil I, § 8 N. 46; GERMANN, Verbrechen, S. 266). An dieser Rechtsprechung, die sich auf die Veruntreuung im Sinne von Art. 140 Ziff. 1 Abs. 2 StGB bezieht, ist festzuhalten.
War der Beschwerdegegner nach Meinung der Vorinstanz in seiner Stellung als Betreibungsbeamter verpflichtet, die Zahlungen der Schuldner bloss jeweils innert Kürze weiterzuleiten, dann musste er auch nur jeweils innert Kürze ersatzfähig sein, zumal nach den Feststellungen im angefochtenen Entscheid dem Beschwerdegegner bzw. seinem (vormals ebenfalls als Betreibungsbeamter tätigen) Vater von der Aufsichtsbehörde erlaubt worden war, für betreibungsamtliche und private Zahlungen dasselbe Postcheckkonto zu benutzen und damit betreibungsamtliche und private Gelder miteinander zu vermischen.
b) Ersatzfähigkeit darf nur dann bejaht werden, wenn das Geld für den Täter griffbereit ist, nicht aber dann, wenn er es erst noch bei Dritten, die ihm gegenüber zu keiner Leistung verpflichtet sind, beschaffen muss (BGE 91 IV 134). Der Kassationshof brachte damit zum Ausdruck, dass eine Fähigkeit des Täters zur Zahlung, die nur dank Leistungen Dritter zustande kommt, auf die der Täter keinen Anspruch hat, keine die Absicht unrechtmässiger Bereicherung ausschliessende Ersatzfähigkeit darstellt. Ersatzfähigkeit setzt voraus, dass der Täter aus eigenen Mitteln leisten kann; sie fehlt, wenn der Dritte zur Leistung nicht verpflichtet ist (TRECHSEL, Kurzkommentar, Art. 140 StGB N. 17). Blosse Aussichten, das für den Ersatz benötigte Geld von Dritten zu erhalten, reichen nicht aus (REHBERG, Strafrecht III, 5. Aufl., S. 92 unten). Der Beschwerdegegner hatte keinen Anspruch darauf, dass ein Kreditinstitut mit ihm einen Darlehensvertrag abschloss. Daran ändert nichts, dass der Beschwerdegegner als Sicherheit ein Grundpfand anbieten konnte. Auch die Gelder, die dem Täter in Form eines Hypothekarkredits zufliessen, sind entgegen der Ansicht der Vorinstanz nicht eigene, sondern fremde Mittel und vermögen, da ein Anspruch auf Abschluss

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eines Hypothekarkreditvertrages nicht besteht, nicht eine die Absicht unrechtmässiger Bereicherung ausschliessende Ersatzfähigkeit zu begründen. Wollte man anders entscheiden, dann könnte gegen den Vorwurf der Veruntreuung stets eingewendet werden, der Täter hätte jederzeit zeitgerecht durch Verpfändung dieses oder jenes Aktivums einen Kredit erhalten und damit ersatzfähig werden können. Mehr noch, die Ersatzfähigkeit müsste dann konsequenterweise immer bejaht werden, wenn der Täter darlegen kann, dass er auch ohne Anbieten von Sicherheiten jederzeit zeitgerecht einen Kredit erhalten hätte.
Die Fähigkeit zum zeitgerechten Ersatz der fehlenden Gelder lässt sich somit nicht damit begründen, dass der Beschwerdegegner zeitgerecht einen Hypothekarkredit beschaffen konnte.
c) Bei diesem Ergebnis kann dahingestellt bleiben, ob der Beschwerdegegner in seiner Eigenschaft als Betreibungsbeamter entsprechend der Ansicht der Vorinstanz die von den Schuldnern einbezahlten Gelder tatsächlich bloss "jeweils innert Kürze" - was immer die Vorinstanz darunter verstehen mag - weiterleiten musste. Immerhin sei auf folgendes hingewiesen: Auch wenn es hinzunehmen ist, dass der Betreibungsbeamte die auf dem Amt eingehenden Zahlungen aus organisatorischen/technischen Gründen jeweils nur innert Kürze an die Gläubiger weiterleitet, so ändert dieser Umstand an sich nichts daran, dass der Betreibungsbeamte die Gelder den Berechtigten jederzeit zur Verfügung halten muss. Ob sich allenfalls etwas anderes daraus ergibt, dass dem Beschwerdegegner von der Aufsichtsbehörde die Benutzung desselben Postcheckkontos für betreibungsamtliche und für private Zahlungen erlaubt worden war, kann hier dahingestellt bleiben.
Die Sache ist daher in Gutheissung der Nichtigkeitsbeschwerde in diesem Punkt zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese wird sich erneut mit der Frage befassen müssen, ob der Beschwerdegegner durch die Verwendung von betreibungsamtlichen Geldern den Tatbestand der Veruntreuung erfüllt habe.