BGE 104 IV 196
 
45. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 30. Juni 1978 i.S. L. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Schwyz
 
Regeste
Strassenverkehrsrecht.
2. Gebot des Linksüberholens; Ausnahmen von der Regel (Erw. 3-5).
 
Sachverhalt


BGE 104 IV 196 (196):

A.- Am 9. Juli 1976 fuhr L. am Steuer eines Cars auf der N 3 mit etwa 80 km/h Richtung Zürich. Er folgte während einiger Zeit einem in grösserem Abstand vorausfahrenden Lieferwagen Opel-Blitz. Im Bereich der Ausfahrt Schindellegi betätigte dessen Lenker den linken Blinker und bog auf die Überholspur aus. Gleichzeitig verlangsamte er auf der leicht ansteigenden Strecke immer mehr. L. holte ihn auf der Normalspur allmählich ein und fuhr dem Opel schliesslich rechts vor.
B.- Das Kantonsgericht Schwyz verurteilte L. am 16. März 1977 wegen einfacher Verkehrsregelverletzung - Rechtsüberholen - zu Fr. 150.- Busse.
C.- Mit Nichtigkeitsbeschwerde macht der Verurteilte geltend, er habe nicht überholt, sondern sei rechts am Opel vorbeigefahren. Dazu sei er befugt gewesen; er habe auf diese Weise einen Schleuder- oder Auffahrunfall verhindert.
 
Aus den Erwägungen:
Der Kassationshof hat sich mit dieser unrichtigen Auffassung schon wiederholt auseinandergesetzt (BGE 103 IV 198, BGE 98 IV 318 E 1, BGE 95 IV 86). Er hat insbesondere in BGE 95 IV 86 E 1 und 2 unzweideutig und mit ausführlicher Begründung

BGE 104 IV 196 (197):

dargelegt, dass immer dann im Rechtssinne überholt wird, wenn ein schnelleres Fahrzeug ein in gleicher Richtung langsamer vorausfahrendes einholt, an ihm vorbeifährt und vor ihm die Fahrt fortsetzt. Weder ein Ausschwenken vor der Vorbeifahrt noch ein wieder Einbiegen vor dem Überholten ist notwendige Voraussetzung des Überholens.
Was der Beschwerdeführer vorbringt, insbesondere unter Hinweis auf Art. 8 Abs. 1 und 3, 10 Abs. 2 und 36 Abs. 5 VRV (die letzte Bestimmung in der bis 31. Dezember 1976 geltenden, auf den Beschwerdeführer anerkanntermassen anwendbaren Fassung) ist in den früheren Erwägungen bereits widergelegt worden (BGE 95 IV 87 E 2). Es besteht kein Grund, von dieser Praxis abzugehen. Anlass dazu gibt auch nicht die Änderung der VRV, zumal der Beschwerdeführer selber ausführt, dass die Fassung vom 22. Dezember 1976 den Art. 36 Abs. 5 an die bundesgerichtliche Rechtsprechung angepasst habe, und das Bundesgericht in BGE 103 IV 198 bereits entschieden hat, dass die Neufassung das Verbot des Rechtsüberholens auf Autobahnen nicht gelockert hat.
Ergänzend kann festgestellt werden, dass die Auffassung des Beschwerdeführers nicht nur der schweizerischen und europäischen Gesetzgebung und Praxis widerspricht, sondern auch der Literatur (Kommentar SCHLEGEL/GIGER zum SVG, 3. Aufl. S. 93; BUSSY/RUSCONI, Code de la circulation routière annoté S. 129; JAGUSCH, Strassenverkehrsrecht, 23. Aufl. N 16, 22, 23 zu § 5 StVO u.a.) und dem normalen Sprachgebrauch. Fährt ein Auto auf der Überholspur in einem Zug einer lockeren Fahrzeugkolonne vor, so wird es niemandem einfallen zu behaupten, sein Fahrer habe nicht überholt, weil er nicht vor jedem einzelnen Fahrzeug ausschwenkte und nachher wieder einschwenkte; ebensowenig kann davon die Rede sein, er habe nur das hinterste und das vorderste Auto überholt, weil hier wenigstens einmal die Spur gewechselt wurde, nicht aber die dazwischen ohne Spurwechsel überholten Wagen. Auch wird niemand im Ernst geltend machen, er dürfe trotz signalisiertem Überholverbot vorfahren, wenn er nur frühzeitig genug auf die linke Spur wechsle und nach dem Überholen darauf verbleibe.


BGE 104 IV 196 (198):

a) Lenker von Schienenfahrzeugen können naturgemäss weder dem Gebot des Rechtsfahrens entsprechen noch die linke Fahrbahn für schnellere Fahrzeuge freigeben. Es ist deshalb gestattet, Schienenfahrzeuge bei genügendem seitlichem Abstand rechts zu überholen (Art. 38 Abs. 2 SVG).
b) Fahren mehrere Verkehrsteilnehmer in gleicher Richtung auf durch Sicherheitslinien getrennten Fahrstreifen, sodass ein Spurwechsel ausgeschlossen ist, so darf jeder seine Fahrt normal fortsetzen, auch wenn er dabei einem links der Sicherheitslinie befindlichen Fahrzeug vorfährt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob es sich um Fahrstreifen für die gleiche Richtung handelt oder um vorläufig noch parallel laufende Geradeaus- und Abbiegestreifen. Auf Autobahnen sind solche getrennte Fahrstreifen bei Einmündungen und Ausfahrten (Verzögerungs- bzw. Beschleunigungsspuren, die oft noch eine gewisse Strecke auf der Autobahn selbst weiterführen) sowie bei Abzweigungen anzutreffen.
c) Auch auf nicht durch Sicherheitslinien getrennten Einspurstrecken müssen eingespurte Fahrzeuge ihre Fahrt nicht wegen links von ihnen eingespurten langsameren Verkehrsteilnehmern verzögern. Es darf rechts vorgefahren werden. Gegenüber Linksabbiegern wird dies im Gesetz ausdrücklich gesagt (Art. 35 Abs. 6 SVG), dasselbe gilt jedoch auch im Verhältnis rechts Eingespurter zu Fahrzeugen auf einer mittleren Spur, namentlich bei Annäherung an einen Haltebalken. Solange nicht sicher ist, ob der linke Fahrer endgültig eingespurt hat, sodass allenfalls noch mit einem Spurwechsel gerechnet werden muss, trifft den Rechtsfahrenden allerdings eine erhöhte Sorgfaltspflicht, obwohl ihm grundsätzlich ein Vortrittsrecht gegenüber demjenigen zukommt, der die Spur noch wechselt.
d) Bilden sich auf Strassen mit mehreren Fahrstreifen parallele Kolonnen, so darf die rechts fahrende Kolonne auch dann weiterfahren, wenn sie rascher vorankommt als die linke (Art. 18 Abs. 3, 36 Abs. 5 VRV; BGE 94 IV 126, 95 IV 87).
e) Das deutsche Recht lässt es ausdrücklich zu, dass in geschlossenen Ortschaften auch einzelne Fahrzeuge auf mehrspurigen Strassen ihre normale Fahrt auf gleicher Spur fortsetzen, selbst wenn sie dabei in einer linken Spur fahrende Verkehrsteilnehmer rechts überholen (StVO § 7 Ziff. 3 Satz 2). Das schweizerische Recht kennt keine entsprechende Ausnahme. Solche Manöver sind zwar trotzdem auch in grösseren Städten der Schweiz nicht selten zu beobachten, widersprechen aber

BGE 104 IV 196 (199):

dem geltenden Recht. Für den ganzen europäischen Raum, auch für Deutschland, gilt sodann das strikte Verbot, ausserorts, insbesondere auf Autobahnen, in dieser Art rechts zu überholen (JAGUSCH, a.a.O. S. 126 N 1 zu § 7 StVO). Das trifft auch für die Schweiz zu.
Diese heutige Rechtslage kann sich ändern für Strassen, die dem Verkehr in der gleichen Richtung wenigstens innerorts zwei und ausserorts drei Fahrstreifen vorbehalten, falls die Schweiz die in Art. 11 Abs. 11 des Weltübereinkommens über den Strassenverkehr fakultativ vorgesehene abweichende Regelung übernimmt.
f) Selbst dort, wo ausnahmsweise gemäss obenstehenden Ausführungen rechts vorgefahren werden darf, ist es unzulässig, diese Möglichkeit zum Überholen mit Aus- und wieder Einschwenken zu missbrauchen (Art. 8 Abs. 3, 13 Abs. 3, 36 Abs. 6 VRV).
Daran würde die Übernahme der fakultativen Regelung in Art. 11 des Weltübereinkommens über den Strassenverkehr grundsätzlich nichts ändern, denn die Schweiz müsste gemäss Abs. 11 lit. a "Bestimmungen erlassen, welche die Möglichkeit des Fahrstreifenwechsels einschränken".
Treten bei einem Fahrzeug Anzeichen auf, die auf einen bevorstehenden Nothalt deuten, so müssen ihm die übrigen Verkehrsteilnehmer die sofortige Freigabe der Fahrbahn möglichst

BGE 104 IV 196 (200):

erleichtern. Auf der Autobahn bedeutet dies, dem virtuellen Pannenfahrzeug auf keinen Fall das Ausweichen auf den Pannenstreifen zu erschweren, sodass es nötigenfalls noch mit dem vorhandenen Schwung oder mit dem Anlasser hinausgefahren werden kann. Nachfolgende Fahrer müssen daher mit der gebotenen Rücksicht auf den übrigen Verkehr abbremsen oder sogar anhalten, letzteres weiter hinten auf dem Pannenstreifen. Nur wenn ein eben überholendes Fahrzeug, bevor es genügenden Abstand gewonnen hat, Anzeichen einer Panne zeigt und zurückfällt, wird der Überholte durch Beschleunigung dafür sorgen müssen, dass der andere Fahrer nach rechts hinausfahren kann.
Wäre beim Opel wirklich mit einer Panne zu rechnen gewesen, hätte sich der Beschwerdeführer also falsch verhalten, indem er dem Opel langsam rechts vorfuhr und ihm gerade in einer eventuell kritischen Phase damit das Ausstellen auf den Pannenstreifen verunmöglichte.
Von Anzeichen einer Panne oder von der Gefahr eines Auffahr- oder Schleuderunfalls kann aber nach den Feststellungen der Vorinstanz keine Rede sein. Der Beschwerdeführer hätte auf der ansteigenden Strasse nicht einmal bremsen müssen, um seine Geschwindigkeit derjenigen des Opels anzupassen. Dieser hielt auch gar nicht an, noch folgten dichtauf andere Fahrzeuge, auf deren rechtzeitiges Abbremsen der Beschwerdeführer nicht hätte zählen können. Schliesslich kann der Beschwerdeführer auch nicht geltend machen, er sei von einem chronischen Linksfahrer, der trotz Aufforderung die Überholspur widerrechtlich nicht freigab, dazu verführt worden, rechts vorzufahren; dies hätte zwar das Überholmanöver nicht zulässig gemacht, aber bei der Schuldfrage gewürdigt werden können.
Tatsächlich lag überhaupt nichts vor, was das Rechtsüberholen des Beschwerdeführers irgendwie rechtfertigen könnte.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.