BGE 102 IV 94
 
24. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 11. Juni 1976 i.S. W. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich.
 
Regeste
Art. 195 Abs. 2 StGB.
2. Die Bestimmung setzt voraus, dass für den Täter eine besondere, erhebliche und naheliegende Gefahr für das Leben des Opfers erkennbar war (Erw. 4b).
3. Objektive und subjektive Voraussehbarkeit der Todesfolge (Erw. 5).
 
Sachverhalt


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A.- W. stellte im Verlaufe des Jahres 1973 fest, dass seine 14jährige Stieftochter Trychlor-Dämpfe einzuatmen pflegte, um sich zu berauschen. Da diese Dämpfe an der Nase des Mädchens Verätzungen hervorriefen, anerbot sich W., ihm ein anderes Mittel zu verschaffen, das keine solchen Nebenwirkungen zeitige. In der Folge übergab er seiner Stieftochter in einem neutralen Fläschchen Chloräthyl mit dem Bemerken, er gebe ihr dieses Betäubungsmittel unter der Bedingung, dass sie ihm dafür sexuell entgegenkomme, womit das Mädchen einverstanden war.
a) In der Zeit vom 26. September bis 17. Dezember 1973 begab sich W. ungefähr alle zehn Tage am Morgen ins Zimmer der nackt in ihrem Bett liegenden Stieftochter und betastete sie jeweils am ganzen Körper.


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b) Am 17. Dezember 1973, um 21.00 Uhr, betrat W. wieder das Zimmer seiner Stieftochter, setzte sich zu ihr auf den Bettrand und betastete sie wie üblich mit dem Ziel, sie für den Geschlechtsverkehr bereit zu machen. Sie erklärte sich hierauf mit dem Beischlaf einverstanden, sofern sie dabei betäubt sei. Zu diesem Zwecke tränkte sie selber ein Papiertaschentuch mit Chloräthyl und reichte es ihrem Stiefvater. Dieser hielt das Tüchlein während ca. 10 bis 15 Sekunden an ihre Nase, bis sie ruhig atmete, woraus er schloss, dass sie nunmehr betäubt sei. Um sicher zu sein, dass sie nicht während des Geschlechtsverkehrs aufwache, hielt er ihr das Tüchlein noch einige Sekunden länger unter die Nase. Dann begann er, den Beischlaf zu vollziehen. Kurz darauf stellte er fest, dass die Tochter nach einigen Zuckungen nicht mehr atmete und aus ihrem Mund eine braune Flüssigkeit floss. Er reinigte sogleich ihren Mund und versuchte, sie künstlich zu beatmen. Als dies nicht zum Erfolg führte, fühlte er ihren Puls und merkte, dass ihr Herz nicht mehr schlug. Der Versuch, dieses durch Herzmassage wieder in Bewegung zu setzen, blieb ohne Erfolg. Daraufhin prüfte er mit einem Lämpchen, ob die Pupillen der Tochter noch reagierten. Als dies nicht der Fall war, wusste er, dass sie tot war. Tatsächlich war das Mädchen während des Geschlechtsverkehrs an aspiriertem Mageninhalt nach Erbrechen erstickt.
B.- Das Bezirksgericht Zürich verurteilte W. am 1. Juli 1975 wegen fortgesetzter Unzucht mit einem Kind im Sinne von Art. 191 Ziff. 2 Abs. 1 und 2 sowie wegen Unzucht mit einem Kind im Sinne von Art. 191 Ziff. 1 Abs. 1 und Abs. 2 StGB zu drei Jahren Zuchthaus, abzüglich 247 Tage Untersuchungshaft.
Das Obergericht des Kantons Zürich sprach W. demgegenüber am 9. Dezember 1975 der fortgesetzten Unzucht mit einem Kinde gemäss Art. 191 Ziff. 2 Abs. 1 und 5 StGB sowie der Unzucht mit einem Kinde gemäss Art. 191 Ziff. 1 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 195 Abs. 2 StGB schuldig und verurteilte ihn zu viereinhalb Jahren Zuchthaus, abzüglich 247 Tage Untersuchungshaft.
C.- W. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und der Beschwerdeführer schuldig zu befinden der fortgesetzten Unzucht mit einem Kinde gemäss Art. 191 Ziff. 2 Abs. 1 und 5 StGB sowie

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der Unzucht mit einem Kinde gemäss Art. 191 Ziff. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 StGB; es sei in diesem zweiten Schuldpunkt nicht auch Art. 195 Abs. 2 StGB anzuwenden, eventuell sei er insoweit nach Art. 191 Ziff. 1 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 117 StGB zu verurteilen und insgesamt bloss mit zwei Jahren Zuchthaus zu bestrafen, abzüglich die erstandene Untersuchungshaft und die seit dem 9. Dezember 1975 verbüsste Strafe.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich beantragt Abweisung der Beschwerde.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
a) Art. 195 Abs. 2 StGB setzt mit dem Ausdruck "infolge der Tat" voraus, dass das Verhalten des Täters für den Tod des geschlechtlich missbrauchten Opfers kausal gewesen sei. Das Wort "Tat" ist hier im weitesten Sinne zu verstehen. Dazu ist nicht nur der geschlechtliche Missbrauch als solcher, wie z.B. der Beischlaf, durch den einem Kleinkind tödliche Verletzungen zugefügt werden, sondern sind auch andere Begleitumstände der Tat zu rechnen, so insbesondere die Anwendung von Gewalt oder Zwang gegenüber dem Opfer (HAFTER, Bes. Teil I, S. 122; LOGOZ, N. 2 zu Art. 195). Den vorliegenden Fall kennzeichnet, dass der Täter, um den Beischlaf zu erleichtern, sein Opfer ein Betäubungsmittel einatmen liess, das während der Beiwohnung tödliche Folgen zeitigte. Der Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten des Beschwerdeführers und dem Tod des missbrauchten Kindes ist damit erstellt und übrigens auch unbestritten.
b) Nach Art. 195 Abs. 2 StGB muss das vorsätzlich begangene Unzuchtsdelikt zum Tod des Opfers geführt haben, den der Täter nicht gewollt, aber fahrlässig verschuldet hat. Das Strafgesetzbuch behandelt eine Reihe weiterer Fälle, in denen ein Vorsatzdelikt, das mit einem weitergehenden, fahrlässig herbeigeführten Erfolg zusammentrifft, als qualifizierten Tatbestand

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mit erhöhter Strafandrohung (siehe Art. 119 Ziff. 3 Abs. 3, 122 Ziff. 2, 123 Ziff. 3, 127 Ziff. 2, 134 Ziff. 1 Abs. 3, 135 Ziff. 1 Abs. 3, 139 Ziff. 2 Abs. 5). In einigen dieser Fälle wurde die Mindeststrafe des qualifizierten Tatbestandes, gemessen am zusätzlichen fahrlässigen Verschulden, unverhältnismässig stark erhöht, was auf die Auswirkungen der Erfolgshaftung früherer Rechte zurückzuführen ist (SCHULTZ, AT I, 2. Aufl., S. 152; SCHWANDER, Nr. 520, Ziff. 2c; STRATENWERTH, BT I, S. 66). Die bundesgerichtliche Rechtsprechung hat deshalb dort, wo zwischen dem Strafminimum des einfachen und demjenigen des qualifizierten Tatbestandes ein grosser Unterschied besteht, den Begriff der Voraussehbarkeit der Todesfolge einschränkend ausgelegt und verlangt, dass die Unvorsichtigkeit des Täters nach ihrer normalen Auswirkung für das Leben des Opfers eine besondere, erhebliche und naheliegende Gefahr geschaffen haben müsse, die für den Täter erkennbar gewesen sei (BGE 69 IV 231 betr. Art. 119 Ziff. 3; BGE 74 IV 85 betr. Art. 123 Ziff. 3). Diese Rechtsprechung Ist vom Bundesgericht nicht, wie die Vorinstanz annimmt, immer mehr aufgegeben worden. Wenn es in gewissen späteren Entscheidungen an die Voraussehbarkeit des tödlichen Erfolges weniger strenge Anforderungen stellte und genügen liess, dass der Täter die Todesfolge als nicht entfernte Möglichkeit im Sinne des Art. 18 Abs. 3 StGB voraussehen konnte, so liegt der Grund darin, dass in diesen Fällen eine einschränkende Auslegung im Hinblick auf das Fehlen besonders erhöhter Mindeststrafen nicht angebracht (BGE 74 IV 87, BGE 89 IV 8) oder die Voraussehbarkeit der Lebensgefahr als Folge zahlreicher und schwerer Körperverletzungen offenkundig war (BGE 83 IV 189). Ebensowenig kann den Erwägungen in BGE 97 IV 89 ff. eine grundsätzliche Änderung der bisherigen Praxis entnommen werden. Zwar wendet sich dieser Entscheid gegen eine Erweiterung des Anwendungsbereiches der in BGE 69 IV 231 eingeleiteten Rechtsprechung, hält diese aber nach wie vor für gerechtfertigt in Fällen, wo die Spanne zwischen den Strafminima des einfachen und qualifizierten Tatbestandes sehr gross ist (S. 91).
Der Beischlaf mit einem Stiefkind wird mindestens mit zwei Jahren Zuchthaus, im Falle der voraussehbaren Todesfolge mit der Mindeststrafe von fünf Jahren Zuchthaus bedroht. Der Unterschied zwischen den beiden Strafminima ist also

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derart gross, dass es stossend wäre, bei der Anwendung des Art. 195 Abs. 2 den normalen Fahrlässigkeitsbegriff zugrundezulegen. Die Voraussehbarkeit des tödlichen Ausgangs ist daher auch hier im Sinne der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung erst zu bejahen, wenn die Tat, zu der auch die Betäubung gehört, nach ihrer normalen Auswirkung das Leben des Kindes in eine besondere, erhebliche und naheliegende Gefahr gebracht hat und der Beschwerdeführer diese bei pflichtgemässer Vorsicht hat erkennen können.
5. Das Obergericht ist grundsätzlich davon ausgegangen, die Voraussehbarkeit der Todesfolge sei nach den üblichen Massstäben des Art. 18 Abs. 3 StGB zu beurteilen. Abschliessend bemerkt es, dass sich am Schuldspruch nichts ändern würde, wenn an die Voraussehbarkeit erhöhte Anforderungen zu stellen wären. Der Beschwerdeführer habe nämlich das Mädchen in eine besondere, erhebliche und naheliegende Gefahr gebracht, denn es sei allgemein bekannt, dass Bewusstlose in Rückenlage an Erbrochenem oder sogar am eigenen Speichel ersticken können. Die Gefahr des Erbrechens sei zudem besonders nahe gelegen, weil sich die Geschädigte am fraglichen Abend nicht wohl gefühlt habe und ihr Magen, als der Beschwerdeführer sich auf sie gelegt habe, noch zusätzlich belastet worden sei. Nach dem Gutachten des gerichtsmedizinischen Institutes lägen allein schon im Umstand, dass die Narkotisierung von einem Laien durchgeführt werde, erhebliche Gefahren, namentlich dann, wenn er keine Ahnung von Anwendungsart und Dosierung des Narkotikums habe und eine völlig unkontrollierte Menge eines Mittels verabreiche, das tödlich wirken könne.
Durch diese Feststellungen wird die objektive Seite der Voraussehbarkeit einer besonderen, erheblichen und naheliegenden Gefahr für das Leben verbindlich dargetan. Die subsidiäre Begründung der Vorinstanz enthält indessen keine Ausführungen darüber, ob der Beschwerdeführer die besonders erhebliche und naheliegende Lebensgefahr bei Anwendung der nach seinen persönlichen Verhältnissen gebotenen Vorsicht habe erkennen können, die hohe Gefahr also auch subjektiv voraussehbar gewesen sei. In den vorausgehenden, im Rahmen des gewöhnlichen Fahrlässigkeitsgebriffes angestellten Erwägungen über die Voraussehbarkeit der Todesfolge wird lediglich festgestellt, die dem Beschwerdeführer bekannten

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Gefahrenmomente hätten ihm bewusst machen müssen, dass seine Handlungsweise "möglicherweise den Tod des Mädchens herbeiführen könnte". Die Erkennbarkeit eines bloss möglichen Todes reicht jedoch nicht aus, da nach der dargelegten Rechtsprechung der Täter imstande gewesen sein muss, eine besonders ernsthafte und naheliegende Todesgefahr zu erkennen. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie die subjektive Voraussehbarkeit neu prüfe.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird, soweit auf sie eingetreten werden kann, gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts - II. Strafkammer - des Kantons Zürich vom 9. Dezember 1975 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.