BGE 99 IV 164
 
35. Urteil des Kassationshofes vom 26. September 1973 i.S. Göggel gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau.
 
Regeste
Art. 3 Abs. 2, 27 Abs. 1 SVG.
 
Sachverhalt


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A.- 1.- Am 15. Oktober 1971 wurde der Abschnitt Neuenhof-Zürich der Autobahn dem Verkehr übergeben. Da die Strecke Neuenhof-Dietikon erst mit der sogenannten Heissmischtragschicht versehen war, die an den Fugenübergängen Unebenheiten aufwies, wurden auf Beschluss des Baudepartementes des Kantons Aargau im Einvernehmen mit der kantonalen Verkehrspolizei beidseits der Fahrbahnen in regelmässigen Abständen Signale "Höchstgeschwindigkeit 100 km/h" mit Zusatztafeln "Provisorischer Belag" aufgestellt.
Die Geschwindigkeitsbeschränkung sollte etwa acht Monate dauern. Das kantonale Baudepartement hatte sich diesbezüglich mit dem eidgenössischen Amt für Strassen- und Flussbau als Unterabteilung des eidgenössischen Departementes des Innern in Verbindung gesetzt, das sich mündlich mit der Signalisation einverstanden erklärte. Eine entsprechende Verfügung erliess das Amt für Strassen- und Flussbau nicht. Auch unterblieb eine Veröffentlichung der Geschwindigkeitsbeschränkung.
2.- Am 27. Februar 1972 lenkte Göggel seinen Personenwagen auf der Autobahn von Neuenhof Richtung Zürich. Zwischen Neuenhof und Dietikon fuhr er mit einer Geschwindigkeit von 130-140 km/h.
B.- Durch Strafbefehl des Bezirksamtes Baden vom 1. Mai 1972 wurde Göggel wegen Übertretung der Art. 27 Abs. 1 und 32 Abs. 2 SVG mit einer Busse von Fr. 200. -belegt.
Auf Einsprache des Gebüssten verurteilte das Bezirksgericht Baden diesen am 16. August 1972 wegen Überschreitens der signalisierten Höchstgeschwindigkeit im Sinne von Art. 27 Abs. 1 SVG zu einer bedingt löschbaren Busse von Fr. 200.--.
Am 30. März 1973 wies das Obergericht des Kantons Aargau eine von Göggel eingereichte Berufung ab.
C.- Göggel führt Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.


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D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau beantragt die Abweisung der Beschwerde.
 
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
Dem wegen Missachtung einer signalisierten Höchstgeschwindigkeit - also einer Allgemeinverfügung - in ein Strafverfahren verwickelten Beschwerdeführer steht unter gewissen Voraussetzungen ein Anspruch auf vorfrageweise Prüfung der Rechtsbeständigkeit der Verfügung durch den Strafrichter zu, unter Ausschluss der Prüfung der Angemessenheit (BGE 98 IV 111 E. 3, 266). Im vorliegenden Fall konnte der Beschwerdeführer die Rechtsbeständigkeit der Verfügung auf dem Rechtsmittelweg in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht überprüfen lassen, da die Geschwindigkeitsbeschränkung nicht veröffentlicht worden war, mithin ein Hinweis auf eine allfällige Beschwerdemöglichkeit nicht erging. Das hat zur Folge, dass dem Kassationshof in casu nach der oben angeführten Rechtsprechung freie Kognition unter Ausschluss der Überprüfung der Angemessenheit zukommt.
3. Soll auf einem bestimmten Strassenabschnitt eine höchstzulässige Geschwindigkeit signalisiert werden, so darf eine solche Verkehrsanordnung nur im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen getroffen werden. Zuständig zum Erlass örtlicher Verkehrsanordnungen auf Nationalstrassen ist das Eidgenössische Departement des Innern, sofern die Anordnung dauernden Charakter hat (Art. 32 Abs. 5 SVG in Verbindung mit Art. 84 Abs. 2 SSV). Diese letztere Voraussetzung trifft nach

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der Praxis der genannten Behörde nicht zu für Geschwindigkeitsbeschränkungen, von denen im voraus feststeht, dass sie in absehbarer Zeit wieder hinfällig werden, also namentlich für solche, die infolge eines provisorischen Strassenbelags angeordnet wurden. In diesen Fällen ist die Behörde desjenigen Kantons, in dem das betreffende zu signalisierende Strassenstück liegt, für die Anordnung zuständig (Art. 3 Abs. 1 und 2 SVG). Sie hat örtliche Verkehrsanordnungen unter Hinweis auf die Beschwerdemöglichkeit möglichst frühzeitig amtlich zu veröffentlichen, wenn sie länger als dreissig Tage dauern sollen oder sich periodisch wiederholen (Art. 82 Abs. 4 SSV). Gegen letztinstanzliche kantonale Entscheidungen über Verkehrsanordnungen kann innert dreissig Tagen seit der Veröffentlichung beim Bundesrat Beschwerde geführt werden (Art. 3 Abs. 4 SVG).
Verkehrsanordnungen sind indes nur dann rechtsbeständig, wenn die in Erwägung 3 oben genannten Vorschriften von den zuständigen Behörden beachtet worden sind. Hat eine unzuständige Behörde eine Anordnung erlassen oder ist eine solche zwar von einer zuständigen Behörde verfügt, sind dabei aber die Vorschriften der Veröffentlichung und der Öffnung des Beschwerdewegs missachtet worden, dann sind die Gültigkeitsvoraussetzungen für die entsprechende Signalisation nicht erfüllt. Daraus folgt, dass die im Bereich zwischen Neuenhof und Zürich signalisierte Geschwindigkeitsbeschränkung nicht rechtsbeständig war.
Von einer derartigen Verselbständigung eines Verkehrszeichens

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einerseits und dessen Missachtung anderseits kann jedoch keine Rede sein. Es ist nicht der Sinn des Gesetzes, dem Strassenbenützer die Beachtung eines jeden Signals unter Androhung von Strafe vorzuschreiben, gleichgültig, ob dieses rechtsbeständig sei oder nicht. Art. 27 Abs. 1 SVG verlangt vom Verkehrsteilnehmer vielmehr die Beachtung der vorschriftsgemäss beschlossenen und angebrachten Signale (BGE 98 IV 122 E. 2).
Damit ist indessen nicht gesagt, dass Verkehrszeichen, bei denen die Gültigkeitsvoraussetzungen im beschriebenen Sinne nicht erfüllt sind, schlechthin unbeachtlich seien. Es gibt Fälle, in denen der Strassenbenützer Verkehrszeichen beachten muss, die zur Erlangung der Rechtsbeständigkeit keines besonderen Verfahrens bedürfen. Nach Art. 27 Abs. 1 Satz 2 SVG gehen Weisungen der Polizeiorgane den allgemeinen Regeln und Signalen vor. Die Polizei kann somit in dringenden Fällen (Unfall, Katastrophe) oder kurzfristig (Umzüge, Ausstellungen, Sportanlässe) rechtsgültige Verkehrsbeschränkungen anordnen, ohne dass diese einer vorgängigen Veröffentlichung bedürften oder die Betroffenen die Rechtsbeständigkeit der Anordnung auf dem Rechtsmittelweg überprüfen lassen könnten. Das gilt jedoch nur für Weisungen einzelner Polizeiorgane, die nicht länger als acht Tage beibehalten werden sollen; andernfalls sind sie von der zuständigen Behörde zu genehmigen (Art. 82 Abs. 5 SSV).
Sodann ist denkbar, dass die Verkehrssicherheit ein unmittelbares Inkrafttreten von noch nicht rechtskräftigen Verkehrsanordnungen verlangt, selbst wenn diese längere Zeit dauern sollten. Diesfalls ist die Lösung nicht in einer Umgehung der gesetzlichen Vorschriften über das Verfahren und den Rechtsmittelweg zu suchen, sondern nötigenfalls auf dem Wege von vorläufigen Verfügungen der Rechtsmittelinstanzen. Diese werden jedoch eine vorzeitige Inkraftsetzung verweigern müssen, wenn zum vorschriftsgemässen Erlass ein genügender Zeitraum zur Verfügung stand, oder wenn die Anordnung selbst nicht dringlichen Charakter aufweist.
Solche Voraussetzungen treffen im vorliegenden Fall nicht zu. Zu Unrecht verweist die Staatsanwaltschaft auf Art. 82 Abs. 5 SSV, denn sie übersieht, dass die fragliche Geschwindigkeitsvorschrift nicht von einem einzelnen Polizeiorgan angeordnet worden ist. Vielmehr hat das kantonale Baudepartement im

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Zusammenwirken mit der kantonalen Verkehrspolizei die Anordnung erlassen. Zudem ist der Staatsanwaltschaft die Regel von Art. 82 Abs. 4 SSV entgangen, wonach örtliche Verkehrsanordnungen unter Hinweis auf die Beschwerdemöglichkeit amtlich zu veröffentlichen sind, wenn sie länger als dreissig Tage dauern sollen. Zweifellos war die fragliche Geschwindigkeitsbeschränkung für weit mehr als diese Zeit in Aussicht genommen worden, nämlich für die Dauer von mindestens sechs Monaten. Nachdem bei neueröffneten Nationalstrassen erfahrungsgemäss der Verkehr zunächst während längerer Zeit auf provisorischem Belag geführt wird, womit in den meisten Fällen eine Geschwindigkeitsbeschränkung verbunden ist, haben die zuständigen Behörden in aller Regel genügend Zeit, die nötigen Vorkehrungen zur rechtmässigen Anbringung der entsprechenden Verkehrszeichen zu treffen. Im vorliegenden Fall sind den Akten keine Umstände zu entnehmen, die den Schluss zuliessen, die aargauischen Behörden seien mit der Eröffnung des betreffenden Abschnitts der Autobahn hinsichtlich der Verkehrssicherheit unvermittelt vor Tatsachen gestellt worden, mit denen nicht zu rechnen war. Erforderten die Verhältnisse aber nicht ein unvorhergesehenes, plötzliches Anbringen der Signale, dann mussten die gesetzlichen Vorschriften über den Erlass der Verkehrsanordnung beachtet werden.
Die Strassenbenützer können dem äusseren Erscheinungsbild eines Verkehrszeichens nicht ansehen, ob es vorschriftsgemäss aufgestellt wurde. Sie sind nicht verpflichtet und meist auch nicht in der Lage, sich bei der zuständigen Behörde danach zu erkundigen. Vielmehr müssen sie darauf vertrauen können, dass ein tatsächlich aufgestelltes Signal oder eine angebrachte Markierung mit der objektiven Rechtslage übereinstimmt (s. ARNHOLD, Deutsches Autorecht 1973, S. 67). Diesem Umstand hat auch ein Strassenbenützer Rechnung zu tragen, der die rechtliche Unverbindlichkeit des Signals kennt. Er darf nicht durch Missachtung des rechtswidrigen Verkehrszeichens andere Verkehrsteilnehmer konkret gefährden, die auf den durch das Signal geschaffenen Rechtsschein vertrauen. Das Vertrauen dieser Strassenbenützer ist schutzwürdig, unbekümmert um die rechtliche Gültigkeit des Zeichens. Dies trifft beispielsweise zu bei einem rechtswidrig aufgestellten Stopsignal,

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wo der Belastete zur Vermeidung von Unfällen auf das Vortrittsrecht verzichten muss; dasselbe gilt bei rechtswidrig angebrachten Sicherheitslinien, signalisierten Einbahnstrassen, usw.
Im vorliegenden Fall ist bei der Frage, ob mit der Nichtbeachtung der Geschwindigkeitsbegrenzung durch den Beschwerdeführer ein schutzwürdiges Vertrauen anderer Verkehrsteilnehmer verletzt worden ist, davon auszugehen, dass die betreffende Verkehrsanordnung in erster Linie zur Schonung der vorläufigen Belagsschicht angebracht wurde. Wenn der Beschwerdeführer die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit überschritten hat, sind dadurch für die übrigen Autobahnbenützer keine zusätzlichen Gefahren entstanden. Es drohten ihnen nur die mit der Benützung der Autobahn ohnehin verbundenen allgemeinen Verkehrsgefahren. Den Beschwerdeführer traf demnach keine Pflicht zur Beachtung der nicht rechtmässig angebrachten Geschwindigkeitsbegrenzung. Infolgedessen ist er von der Anschuldigung des Überschreitens der signalisierten Höchstgeschwindigkeit freizusprechen.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 30. März 1973 aufgehoben und die Sache zur Freisprechung des Beschwerdeführers an die Vorinstanz zurückgewiesen.