BGE 95 II 333
 
46. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 20. Mai 1969 i.S. Landolt gegen Basler-Unfall und Hegner.
 
Regeste
Art. 60 Abs. 1 SVG. Diese Vorschrift gilt für das Zusammenwirken verschiedenartiger Schadenverursacher (Erw. 3).
Art. 60 Abs. 2 SVG. Der Halter kann sich im Rahmen einer Rückgriffsklage darauf berufen, dass ihm gegenüber dem Geschädigten ein Entlastungs-oder Befreiungsgrund zugestanden hätte (Erw. 5).
Verschulden des Lenkers, der ein am Strassenrand stehendes Fahrzeug in den Verkehr einschaltet, ohne den Richtungsanzeiger zu betätigen. Die Frage der Beweislast ist gegenstandslos, wenn der Richter den Sachverhalt auf dem Wege der Beweiswürdigung ermittelt hat (Erw. 6).
Art. 60 Abs. 2 Satz 2 SVG. Interne Auseinandersetzung zwischen Haltern. Beweislast. Betonung des Verschuldens bei der Schadensverteilung (Erw. 7).
 
Sachverhalt


BGE 95 II 333 (334):

A.- Am 28. November 1962 ca. 18.20 Uhr stiessen auf der Zürcherstrasse ausserhalb Jona, im Gubel, zwei Personenwagen zusammen, die von Karl Landolt und Frau Paula Hegner gelenkt wurden. Frau Hegner hatte auf der Höhe der Unfallstelle am rechten Strassenrand mit einem Personenwagen Marke Opel angehalten, dann nach links in die Strasse eingebogen, um in der gegenüberliegenden Einfahrt zu einem Parkplatz zu wenden. Gleichzeitig war Landolt im Begriff, dieses Fahrzeug mit seinem Personenwagen Marke Mercedes zu überholen. Das Vorhaben gelang nicht. Die Fahrzeuge stiessen ungefähr 50 cm links der Strassenmitte - in der Fahrrichtung Landolts gesehen - zusammen. Frau Landolt, die im

BGE 95 II 333 (335):

Wagen ihres Mannes Platz genommen hatte, und eine Mitfahrerin von Frau Hegner wurden erheblich verletzt. Beide Fahrzeuge wurden stark beschädigt. Gegen die beiden Fahrzeuglenker wurde eine provisorische Bussenverfügung erlassen, die jedoch wegen Verfolgungsverjährung wieder aufgehoben wurde.
Karl Landolt und Othmar Hegner, die Halter der am Zusammenstoss beteiligten Fahrzeuge, sind bei der Basler-Unfall gegen Haftpflicht versichert.
B.- Die Eheleute Anna (Klägerin 1) und Karl (Kläger 2) Landolt belangten die Basler-Unfall (Beklagte 1) und Frau Hegner (Beklagte 2) beim Bezirksgericht See solidarisch auf Zahlung von Fr. 67'271.10 (Rechtsbegehren 1) und Fr. 4612.55 (Rechtsbegehren 2) nebst Zins zu 5% seit 28. November 1962. Ausserdem beantragten die Kläger, die ihnen von der Beklagten 1 geleisteten Teilzahlungen von Fr. 9000.-- so anzurechnen, wie es dem Verhältnis der ihnen richterlich zuzuerkennenden Forderung entspreche (Rechtsbegehren 3).
Das Bezirksgericht See schützte am 15. Januar 1968 die Klage der Klägerin 1 im Betrag von Fr. 64'106.50 und jene des Klägers 2 im Betrage von Fr. 3690.--, je nebst Zins. Ausserdem rechnete es die Teilzahlungen der Beklagten 1 von Fr. 9000.-- mit Fr. 8515.-- an die Forderung der Klägerin 1 und mit Fr. 485.-- an die Forderung des Klägers 2 an.
Gegen dieses Urteil erklärten beide Parteien die Berufung an das Kantonsgericht St. Gallen. Nach Durchführung einer "Vorbereitungsverhandlung" im Sinne von Art. 289 der st. gallischen ZPO schlossen sie am 9./17. Mai 1968 "einen Vergleich mit Prozessvereinbarung" ab, der wie folgt lautet:
"1) Die Beklagten anerkennen Ziff. 1 des klägerischen Rechtsbegehrens, d.h. gegenüber der Klägerin 1, Frau Anna Landolt-Baumgartner, einen Betrag von Fr. 67'271,10 zuzüglich 5 % Zins seit 28.11.62 unter Anrechnung der Teilzahlungen der Beklagten 1 von insgesamt Fr. 9000.-- (Fr. 6000.-- vom 31.8.64 und Fr. 3000.-- vom 20.12.65).
...
...
4) Mit dieser Regelung ist der Prozess zwischen der Klägerin 1 und den Beklagten vergleichsweise erledigt und kann in diesem Sinne als erledigt abgeschrieben werden.
5) Die Beklagten anerkennen quantitativ die Forderung des Klägers 2, Karl Landolt-Baumgartner, im Betrage von Fr. 4612.55 nebst 5 % Zins seit 28.11.62, wobei das Kantonsgericht zu entscheiden

BGE 95 II 333 (336):

hat, in welchem Umfang die Forderung unter Berücksichtigung des streitigen beidseitigen Verschuldens am Unfall zuzusprechen sei. 6) Die Beklagte 1 erhebt gegenüber dem Kläger 2, Karl Landolt-Baumgartner, folgende Widerklage: ,Der Kläger 2 sei zu verpflichten, der Beklagten 1 Fr. 33'635.55 nebst 5 % Zins seit 28.11.62 zu bezahlen.' Der Kläger 2 lässt diese Widerklage vor Kantonsgericht ausdrücklich zu und beantragt Abweisung derselben.
......"
Das Kantonsgericht schrieb am 9. Juli 1968 die Klage der Klägerin 1 sowie den Antrag beider Kläger auf Anrechnung der von der Beklagten 1 geleisteten Teilzahlungen (vergl. Rechtsbegehren 3) als durch Vergleich erledigt ab (Urteilsspruch 1 und 3). Zudem schützte es die Klage des Klägers 2 (Rechtsbegehren 2) im Betrag von Fr. 4612.55 nebst Zins zu 5% seit 28. November 1962 und hiess die Widerklage der Beklagten 1 gegen den Kläger 2 (vgl. Ziffer 6 der Vereinbarung vom 9./17. Mai 1968) im Betrage von Fr. 13'454.20 nebst Zins zu 5% seit 28. November 1962 gut.
C.- Der Kläger 2 hat beim Kantonsgericht ein Berichtigungsgesuch eingereicht mit dem Antrag, die von der Beklagten 1 gegen ihn erhobene Widerklage im Betrage von Fr. 11'211.65 nebst Zins seit 28. November 1962 zu schützen. Dabei wies er darauf hin, dass das Kantonsgericht bei der Bemessung der Ersatzpflicht die Betriebsgefahren der beiden Fahrzeuge einfach (50: 50), das alleinige Verschulden der Beklagten 2 doppelt (0: 200) in Rechnung gestellt hatte. Nach dieser Rechnung ergebe der von ihm zu vertretende Anteil an der Gesamtverursachung des Personenschadens nicht 20%, sondern nur 162/3%, weshalb die Widerklage der Beklagten 1 im beantragten Umfang zu schützen sei.
Das Kantonsgericht wies am 11. Oktober 1968 das Berichtigungsbegehren des Klägers 2 ab. Es anerkannte zwar den behaupteten Irrtum, machte aber geltend, die im angefochtenen Urteil vorgenommene Berechnung sei nur ein Hilfsmittel im Rahmen des richterlichen Ermessensentscheides; es hätte daher die Ersatzpflicht des Klägers 2 - so fährt das Kantonsgericht fort - auch ohne den Rechnungsfehler nicht auf 16 2/3% festgesetzt, sondern auf 20% aufgerundet.
D.- Der Kläger 2 und die Beklagten 1 und 2 haben gegen das Urteil des Kantonsgerichts St. Gallen die Berufung an das Bundesgericht erklärt.
Der Kläger 2 beantragt, die Widerklage der Beklagten 1

BGE 95 II 333 (337):

abzuweisen, auf die Berufung der Beklagten 1 und 2 nicht einzutreten, eventuell sie abzuweisen.
Die Beklagten 1 und 2 beantragen, die Klage des Klägers 2 abzuweisen, eventuell in einem nach richterlichem Ermessen zu bestimmenden Umfange zu schützen.
Die Beklagte 1 beantragt, die Widerklage gegen den Kläger 2 zu schützen, eventuell die Sache zur Ergänzung der Akten und zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
3. Art. 60 Abs. 1 SVG bestimmt: "Sind bei einem Unfall, an dem ein Motorfahrzeug beteiligt ist, mehrere für den Schaden eines Dritten verantwortlich, so haften sie, unter Vorbehalt von Abs. 3, solidarisch". Diese Vorschrift gilt für das Zusammenwirken verschiedenartiger Verursacher (Halter, Führer, Radfahrer, Eisenbahn, Werkeigentümer usw.), wie für die Schädigung durch mehrere Fahrzeuge. Solidarität setzt voraus, dass die Haftung eines jeden Beteiligten bereits feststeht. Der Halter ist dann "verantwortlich" und somit solidarisch haftpflichtig, wenn sich die Betriebsgefahr des Fahrzeuges im Sinne von Art. 58 Abs. 1 SVG verwirklicht hat und er weder Entlastung (Art. 59 Abs. 1 SVG) noch Befreiung (Art. 59 Abs. 2 und 3, 75 Abs. 1 SVG) beanspruchen kann. Liegt ein Herabsetzungsgrund vor, so hat er neben andern Ersatzpflichtigen nur im Umfange des reduzierten Betrages für den verursachten Schaden solidarisch einzustehen (vgl. OFTINGER, Haftpflichtrecht, Bd. II/2, 660, 672/73).
Die Klägerin 1 ist Dritte im Sinne von Art. 60 Abs. 1 SVG. Sie konnte daher nach ihrer Wahl die beiden Fahrzeughalter sowie die aus Verschulden haftende Lenkerin, die Beklagte 2, auf Schadenersatz belangen. Ausserdem war sie von Gesetzes wegen befugt, die Beklagte 1 als Haftpflichtversicherer des nach

BGE 95 II 333 (338):

Art. 58 Abs. 4 SVG für das Verschulden seiner Ehefrau, der Beklagten 2, verantwortlichen Halters Othmar Hegner in Anspruch zu nehmen (Art. 65 Abs. 1 SVG).
Nach Art. 72 VVG geht bei der Schadensversicherung der Ersatzanspruch, der den Anspruchsberechtigten gegenüber einem Dritten aus unerlaubter Handlung zusteht, auf den Versicherer über, soweit er Entschädigung geleistet hat. Da die Haftpflichtversicherung nach ihrer Stellung im Gesetz eine Unterart der Schadensversicherung ist, trifft Art. 72 VVG auch auf sie zu. Sie weist allerdings die Besonderheit auf, dass sie nicht einen den Versicherten unmittelbar treffenden Schaden zu decken bestimmt ist, sondern die Belastung zum Gegenstand hat, die den Versicherten infolge seiner Haftung für den Schaden eines Dritten trifft; Art. 72 VVG ist dagegen auf den Tatbestand zugeschnitten, dass der Geschädigte selbst versichert ist. Nach allgemein anerkannter Auffassung ist aber trotzdem in analoger Anwendung von Art. 72 VVG auch bei der Haftpflichtversicherung ein Übergang der Rückgriffsrechte vom Versicherten anzunehmen. Der übergehende Anspruch ist dabei, der Besonderheit der Haftpflichtversicherung entsprechend, der Ausgleichsanspruch des haftpflichtigen Versicherten nach Art. 50 und 51 OR gegenüber Mithaftpflichtigen. Diese Lösung ist deshalb gerechtfertigt, weil sonst eine Bereicherung des versicherten Haftpflichtigen einträte, da er einerseits infolge der Zahlungen des Haftpflichtversicherers von der Ersatzleistung an den Geschädigten befreit wäre, anderseits aber gleichwohl auf die Mithaftpflichtigen Rückgriff nehmen könnte; dies stünde aber im Widerspruch mit dem Grundsatz des Versicherungsrechts, dass die Schadenversicherung nicht zu einer Bereicherung des Versicherten führen dürfe (vgl.BGE 79 II 408,BGE 69 II 417,BGE 63 II 153Erw. 6,BGE 62 II 181/82,BGE 65 II 200; OFTINGER, a.a.O., Bd. I S. 408 ff. und Bd. II/2 S. 778). Die Beklagte 1 ist somit im Umfang der geleisteten Zahlung in die Rechte der geschädigten Klägerin 1 eingetreten. Da die Ansprüche der Klägerin 1 nach dem Versicherungsvertrag ihres Ehemannes, des Klägers 2, von der Deckung ausgeschlossen sind (vgl. Art. 63 Abs. 3 lit. d

BGE 95 II 333 (339):

SVG), kann der Kläger 2 der Rückgriffsklage der Beklagten 1 nicht die Einrede der Deckungspflicht seines Versicherers entgegenhalten.
5. Das Kantonsgericht hat vor der Durchführung der internen Auseinandersetzung geprüft, ob der Kläger 2 im Aussenverhältnis nach Art. 60 Abs. 1 SVG überhaupt "verantwortlich" sei. Es ist dabei zum Schluss gelangt, dass den Kläger 2 am Zusammenstoss kein Verschulden treffe, der Beklagten 2 dagegen "eine Fehlbewertung der gesamten Verkehrssituation" vorzuwerfen sei, was ein erhebliches, nicht aber ein grobes, die Kausalhaftung ausschliessendes Drittverschulden im Sinne von Art. 59 Abs. 1 SVG sei. Der Kläger 2 hätte sich daher - so folgert das Kantonsgericht - der Solidarhaftung nicht entziehen können, wenn er von der Klägerin 1 unmittelbar auf Schadenersatz belangt worden wäre. Das Kantonsgericht hat sodann unter Berücksichtigung der Betriebsgefahren und der Verschuldenslage den Kläger 2 zu 20%, die Beklagte 1 zu 80% als ersatzpflichtig erklärt.
Der Kläger 2 rügt, die Vorinstanz habe Art. 59 Abs. 1 und 60 Abs. 1 und 2 SVG verletzt, weil sie das verkehrswidrige Verhalten der Beklagten 2 nicht als "grobes Verschulden" gewertet und ihn, den Kläger 2, von der Solidarhaftung nicht befreit habe.
Art. 60 Abs. 2 SVG ordnet die interne Auseinandersetzung unter mehreren Ersatzpflichtigen. Satz 1 der Vorschrift bestimmt, dass der Schaden auf die beteiligten Haftpflichtigen unter Würdigung aller Verhältnisse zu verteilen sei. "Haften nur Motorfahrzeughalter, so tragen sie - nach Satz 2 - den Schaden zu gleichen Teilen, wenn nicht besondere Umstände, namentlich das Verschulden, eine andere Verteilung rechtfertigen." Satz 2 von Art. 60 Abs. 2 regelt somit den Ausgleich unter Haltern, Satz 1 dagegen den Ausgleich zwischen Haltern und andern Ersatzpflichtigen (vgl. OFTINGER, a.a.O., Bd. II/2, Fussnote 939, S. 675). Da die Beklagte 1 als Haftpflichtversicherung in die Rechte des Halters Hegner eingetreten ist, beurteilt sich die vorliegende Rückgriffsklage nach Art. 60 Abs. 2 Satz 2.
Zu prüfen ist, ob sich der Halter im Rahmen einer Rückgriffsklage nach Art. 60 Abs. 2 SVG darauf berufen kann, dass ihm gegenüber dem Geschädigten ein Entlastungsgrund zugestanden hätte. Die Wendungen "Haftpflichtige" und "haften" in Art. 60 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 SVG nehmen Bezug auf die solidarische Verantwortung gegenüber Dritten nach Art. 60

BGE 95 II 333 (340):

Abs. 1 SVG. Die Rückgriffsordnung des Art. 60 Abs. 2 SVG setzt somit nach Satz 1 und 2 Haftung eines jeden einzelnen im Aussenverhältnis voraus. Der Halter muss daher (auch im Innenverhältnis) für einen Schaden nicht einstehen, wenn er Entlastung (Art. 59 Abs. 1 SVG) oder Befreiung (Art. 59 Abs. 2 oder 3 und 75 Abs. 1 SVG) beanspruchen kann (vgl. OFTINGER, a.a.O. Bd. II/2, S. 672/73). Diese Regelung rechtfertigt sich insofern, als der Halter bei der internen Auseinandersetzung mit Haltern oder andern Ersatzpflichtigen weder besser nochschlechtergestelltwerdendarf, alswennervomGeschädigten unmittelbar belangt worden wäre. Gelingt ihm der Entlastungs- oder Befreiungsbeweis, so wird die interne Auseinandersetzung gegenstandslos (vgl. OFTINGER, a.a.O. Bd. II/2 S. 652/53).
a) Zunächst fragt sich, ob der Beklagten 2 grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann. Das ist dann der Fall, wenn sie Sorgfaltspflichten verletzt hat, die sich jedem verständigen Menschen in der gleichen Lage aufdrängen mussten (vgl. BGE 93 II 352 und dort erwähnte Entscheide).
aa) Nach Art. 48 Abs. 3 MFV darf "auf der Strasse ein Fahrzeug nur dann gewendet werden, wenn dies ohne Störung des Verkehrs geschehen kann". Diese Bestimmung trifft analog auf den vorliegenden Fall zu. Die Beklagte 2 durfte das ursprünglich am Strassenrand angehaltene Fahrzeug erst in den Verkehr einschalten, wenn sie sich davon überzeugt hatte, dass die Strasse frei war. Sie hatte daher nach Art. 25 Abs. 1 MFG auf den Verkehr auf der Fahrbahn Rücksicht zu nehmen und vorzusorgen, dass herannahende Fahrzeuge nicht behindert oder gefährdet würden (vgl. BGE 83 IV 33). Sie war verpflichtet, beim Abbiegen den Richtungsanzeiger zu stellen und sich darüber zu vergewissern, dass sie niemand die Fahrbahn versperrte (gl.BGE 76 IV 59,BGE 78 IV 184). Zudem musste sie vor der Durchführung ihres Vorhabens in Rechnung stellen, dass die gegenüberliegende Einfahrt zum Parkplatz keine Strassenkreuzung

BGE 95 II 333 (341):

(Einmündung) im Sinne von Art. 26 Abs. 3 MFG war und dort daher überholt werden durfte.
Die Vorinstanz stellt mit dem in der Strafuntersuchung beigezogenen Experten fest, dass vom ursprünglichen Standort des Fahrzeugs der Beklagten 2 - richtige Aufmerksamkeit vorausgesetzt - die Lichtkegel heranfahrender Fahrzeuge auf eine Entfernung von über 250 m, d.h. über die westlich zurückliegende Kuppe hinaus wahrnehmbar gewesen seien und dass die unmittelbare Sicht 170 m betragen habe. Die Beklagte hat nach ihrer eigenen Darstellung auf der Kuppe vorerst den Lichtstrahl der Scheinwerfer des vom Kläger 2 gesteuerten Fahrzeuges gesehen. Sie hatte daher zu entscheiden, ob sie die Strasse noch rechtzeitig überqueren konnte. Ob dazu 5-7 Sek. genügten, wie der Gutachter errechnete, oder ob nach der Auffassung der Beklagten 115-17 Sek. erforderlich waren, ist unerheblich. Auch kann sich die Beklagte 1 nicht darauf berufen, dass die Beklagte 2 nach Auffassung des Kantonsgerichts nicht damit rechnete, dass auf der fraglichen Strasse Geschwindigkeiten von 100 km gefahren werden. Denn es ist erfahrungsgemäss schwierig, nachts die Geschwindigkeit und die Entfernung eines herannahenden Fahrzeuges zuverlässig zu schätzen. Die Beklagte 2 musste daher umso grössere Vorsicht walten lassen, als sie nicht wusste, wieviel Zeit sie zum Überqueren der Strasse benötigte (vgl. BGE 82 II 538,BGE 79 II 310). Die Strasse ist nach Feststellung des Kantonsgerichts 9 m breit, gut ausgebaut, übersichtlich und nachts zweckmässig beleuchtet. Die vom Kläger 2 im Zeitpunkt des Unfalls vom Kantonsgericht mit dem Experten angenommene Geschwindigkeit zwischen 100 bis 110 km war daher nach den Umständen nicht übersetzt. Im übrigen könnte die Beklagte 1 aber hier nichts für sich ableiten, wenn der Kläger 2 tatsächlich zu schnell gefahren wäre. Denn der Führer muss diejenige Geschwindigkeit in Rechnung stellen, die ein anderes Fahrzeug tatsächlich hat, nicht jene, die es haben sollte (vgl. BGE 83 IV 35, BGE 82 II 538).
bb)Die Beklagte 1 hält an der Auffassung fest, der Zusammenstoss sei darauf zurückzuführen, dass der Kläger 2 im Bereich der Kuppe ein Überholungsmanöver nicht rechzeitig abgeschlossen und mit seinem Wagen - in seiner Fahrrichtung gesehen - über die Strassenmitte hinausgeraten sei. Das Kantonsgericht vertritt mit dem Experten die Ansicht, es sei für den Zusammenstoss nicht kausal, ob der Kläger 2 vor oder

BGE 95 II 333 (342):

auf der Kuppe ein verkehrswidriges Überholmanöver durchgeführt habe. Aus den Bremsspuren ergebe sich, dass sich der Kläger 2 bei Reaktionsbeginn zweifellos auf der rechten Fahrbahnhälfte befunden habe. Verlängere man die Bremsspur der zwei linken Räder seines Fahrzeugs nach rückwärts, so schneide diese Verlängerung nach 11 m die Strassenmitte. Gehe man nun von 1/2 Sekunden Reaktionszeit bei 100 km Geschwindigkeit aus, so habe der Kläger 2 in dieser Zeit 17 m durchfahren. Dabei sei unberücksichtigt, dass die Reifen eines Fahrzeugs erst nach einer gewissen Bremsstrecke zu zeichnen beginnen. Der Reaktionsbeginn liege daher noch weiter zurück. Es dürfe daher mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass sich der Kläger 2 bei Reaktionsbeginn noch in seiner Fahrbahnhälfte befunden habe, möglicherweise eher gegen die Strassenmitte, weil er vorher das stillstehende Fahrzeug der Beklagten 2 zu überholen beabsichtigte. Diese über den natürlichen Kausalzusammenhang getroffenen Feststellungen sind tatsächlicher Art und daher für das Bundesgericht verbindlich (vgl. BGE 86 II 187 und dort erwähnte Entscheide, 93 II 89 Erw. 6).
cc) Die Vorinstanz hat der Beklagten 1 den Beweis dafür auferlegt, dass die Beklagte 2 vor dem Abbiegen den Blinker gestellt habe. Die Beklagte 1 beanstandet diese Beweislastverteilung als bundesrechtswidrig.
Auf diese Rüge käme nur dann etwas an, wenn zu entscheiden wäre, welche Partei die Folgen der Beweislosigkeit der streitigen Tatsache zu tragen habe. Wo aber, wie im vorliegenden Fall, die Vorinstanz auf Grund der Strafuntersuchungsakten, mithin auf dem Wege der Beweiswürdigung ermittelte, dass die Beklagte 2 beim Abbiegen die Richtungsänderung nicht angezeigt hatte, ist die Frage der Beweislast gegenstandslos (vgl. BGE 90 II 217 Erw. 3, 81 II 155, KUMMER, N. 23 zu Art. 8 ZGB). Damit bleibt es bei der beanstandeten Feststellung, dass die Beklagte 2 den Wagen für den Kläger 2 überraschend in den Verkehr eingeschaltet hat.
dd) Mit Recht hat die Vorinstanz auf Grund der festgestellten Verhältnisse erklärt, es sei unerheblich, ob die Beklagte 2 den Wagen zu spät oder zu langsam in Bewegung gesetzt habe, oder ob sie, was nicht sehr wahrscheinlich sei, am Orte des Zusammenstosses stehen geblieben sei. Massgebend ist nur, dass sie dem Kläger 2 die Fahrbahn versperrte und ihm das Vortrittsrecht

BGE 95 II 333 (343):

abschnitt. Dass die Beklagte 2 angeblich die Geschwindigkeit des Klägers 2 nicht richtig einschätzte, entlastet sie nicht. Sie durfte es nicht darauf ankommen lassen, dass es ihr nicht gelingen könnte, die Strasse rechtzeitig zu überqueren. Die falsche Beurteilung der Verkehrslage darf indessen der Beklagten 2 nicht als grobe Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden. Daran ändert nichts, dass sie vor dem Einbiegen in die Strasse den Blinker nicht einschaltete. Zwar hätte sie durch diese Vorsichtsmassnahme den Kläger 2 zu grösserer Vorsicht und zur Mässigung der Geschwindigkeit veranlasst. Das schliesst aber nicht aus, dass sie auch unter diesen Umständen die Entfernung und die Geschwindigkeit des herannahenden Fahrzeuges nicht richtig eingeschätzt und ihr Vorhaben zu spät verwirklicht hätte, was die Hauptursache des Unfalles war. Die Fahrlässigkeit der Beklagten 2 war somit erheblich, jedoch nicht grob.
b) Den Kläger 2 trifft kein Verschulden. Er hatte keine Veranlassung, auf der breiten und übersichtlichen Strasse mit mässiger Geschwindigkeit zu fahren und musste insbesondere nicht damit rechnen, dass die Beklagte 2 überraschend in die Fahrbahn einbiegen werde. Zudem ergeben sich aus den Feststellungen des angefochtenen Urteils keine Anhaltspunkte dafür, dass fehlerhafte Beschaffenheit des vom Kläger 2 gelenkten Fahrzeuges auf den Unfall eingewirkt hat.
7. Da sich der Kläger 2 nicht entlasten kann, ist der Schaden nach Art. 60 Abs. 2 Satz 2 zu verteilen. Diese Vorschrift beruht auf der Vermutung, dass die Betriebsgefahr der am Unfall beteiligten Fahrzeuge gleich gross ist, weshalb der Schaden von den Haltern zu "gleichen Teilen" getragen werden muss, wenn nicht "besondere Umstände, namentlich das Verschulden, eine andere Verteilung rechtfertigen". Jeder Halter muss demnach das Verschulden der Gegenpartei beweisen; dass ihn kein Verschulden treffe, hat er nicht zu beweisen; sein Verschulden wird - im Gegensatz zur Haftung im Aussenverhältnis - nicht vermutet (vgl. BGE 94 II 181 Erw. 4, OFTINGER, a.a.O. Bd. II/2 S. 655). Die Rechtslage ist gleich wie in Art. 61 Abs. 1 SVG. der sinngemäss gleich lautet und sich ebenfalls mit der Schadensverteilung zwischen Haltern befasst (vgl. OFTINGER, a.a.O. Bd. II/2 S. 675).
Die Beklagte 1 beanstandet, die Vorinstanz habe Art. 60 Abs. 2 SVG verletzt, weil sie das Verschulden der Beklagten 2

BGE 95 II 333 (344):

doppelt in Rechnung gestellt und damit die Betriebsgefahren der Fahrzeuge in den Hingergrund gerückt habe.
Diese Rüge ist unbegründet. Die Beklagte 1 übersieht, dass die Beklagte 2 ein ausschliessliches und erhebliches Verschulden trifft, ihr verkehrswidriges Verhalten somit die Hauptursache des Unfalles ist. Den konkreten Betriebsgefahren kommt daher als "besondere Umstände" (vgl. BGE 94 II 177 Erw. 2) im Rahmen der Gesamtverursachung nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Infolgedessen kann nicht gesagt werden, die Vorinstanz habe das ihr zustehende Ermessen bei der Aufteilung des Schadens im Verhältnis von 20% (Kläger 2) zu 80% (Beklagte 1) verletzt.
Demnach erkennt das Bundesgericht: Die Berufungen werden, soweit darauf eingetreten wird, abgewiesen und das Urteil des Kantonsgerichts St. Gallen vom 9. Juli 1968 wird bestätigt.