BGE 97 I 217
 
33. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes als staatsrechtlicher Kammer vom 14. Mai 1971 i.S. Villard gegen Generalprokurator und Obergericht des Kantons Bern.
 
Regeste
Art. 4 BV; willkürliche Anwendung kantonalen Strafprozessrechts.
 
Sachverhalt


BGE 97 I 217 (217):

A.- Am 22. August 1970 sprach der Gerichtspräsident VIII von Bern Arthur Eric Villard von der Anklage der Aufforderung und Verleitung zur Verletzung militärischer Dienstpflichten frei.
Auf Appellation der Schweizerischen Bundesanwaltschaft und der Staatsanwaltschaft des Mittellandes des Kantons Bern verurteilte das Obergericht dieses Kantons Villard am 12. Januar 1971 wegen Aufforderung zur Verletzung militärischer Dienstpflichten (Art. 276 Ziff. 1 Abs. 1 StGB) zu einer Gefängnisstrafe von 30 Tagen.
B.- Diese Urteile stützen sich auf die folgenden Feststellungen:
Im Zusammenhang mit dem Besuch, den General Westmoreland, Stabschef Armee der amerikanischen Streitkräfte und früherer Oberkommandierender im Vietnamkrieg, der Schweiz vom 11. bis 14. September 1969 abstattete, riefen das Komitee gegen den Besuch Westmorelands, der Schweizer Zweig der

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Internationale der Kriegsdienstgegner und andere politisch links stehende Bewegungen für Samstag, den 13. September 1969 zu einer Demonstration in Bern auf. Die Kundgebung begann in dieser Stadt um 17 Uhr bei der Heiliggeistkirche, worauf sich der Zug der Demonstranten über die Spitalgasse und den Bundesplatz zum Sitz des Eidgnössischen Militärdepartementes und sodann zur amerikanischen Botschaft bewegte, um schliesslich gegen 19 Uhr ungefähr auf dem gleichen Weg wieder zur Heiliggeistkirche zurückzukehren.
Im Verlaufe der Kundgebung wurden verschiedene Reden gehalten, namentlich auch von Arthur Eric Villard, der zu den Demonstranten vor der Heiliggeistkirche, dem Sitz des Eidgenössischen Militärdepartementes und der amerikanischen Botschaft sprach. Nach einem in der Tribune de Genève vom 15. September 1969 erschienenen, vom Bundeshauskorrespondenten Jean Ryniker verfassten Bericht soll Villard dabei die Demonstranten aufgefordert haben, keinen Militärdienst mehr mehr zu leisten und den jungen Amerikanern nachzueifern, die ihre Militärdienstbüchlein zerrissen hatten.
Gestützt auf diesen Bericht wurde gegen Villard vom Präsidenten der Sektion Genf der Association suisse des Troupes mécanisées et légères Strafanzeige im Sinne des Art. 276 StGB erstattet.
C.- Villard führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, das ihn im Sinne der Strafanzeige verurteilende Urteil des Obergerichtes vom 12. Januar 1971 sei unter Kosten- und Entschädigungsfolge aufzuheben und die Vorinstanz anzuweisen, ihn von der genannten Anklage freizusprechen.
Obergericht und Generalprokurator des Kantons Bern haben sich mit dem Antrag auf Abweisung der Beschwerde vernehmen lassen. Die Bundesanwaltschaft hat innert Frist keine Vernehmlassung eingereicht.
Villard hat ausserdem eine eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde eingereicht.
 
Aus den Erwägungen:
4. Villard wirft dem Obergericht Willkür vor, weil es entgegen dem in Art. 247 bern. StrV vorgeschriebenen Unmittelbarkeitsprinzip drei in der Voruntersuchung einvernommene Polizisten ihm in der Hauptverhandlung nicht gegenübergestellt

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und ihm damit nicht Gelegenheit geboten habe, Fragen an sie zu stellen. Unwesentlich sei dabei, inwieweit deren Äusserungen bei der Urteilsfindung bewertet worden seien. Jedenfalls befänden sich die Protokolle der Zeugeneinvernahmen noch bei den Akten und seien deshalb den urteilenden Richtern bekannt gewesen.
Das Obergericht hat die Aussagen, welche die drei Polizisten Senn, Brenzikofer und Hug in der Voruntersuchung gemacht hatten, als nicht wesentlich ausser acht gelassen, sie also dem angefochtenen Entscheid nicht zugrunde gelegt. Angesichts dessen ist nicht ersichtlich, inwiefern es sich in dem vom Beschwerdeführer behaupteten Sinne der Willkür schuldig gemacht haben sollte. Art. 247 bern. StrV handelt vom Fragerecht der Parteien und der Gerichtsmitglieder gegenüber den in der Hauptverhandlung abgehörten Personen (s. den Titel vor den Art. 234 ff. sowie Art. 243). Die drei genannten Polizeileute wurden bloss vom Untersuchungsrichter in der Voruntersuchung einvernommen. Dass der erkennende Richter sie nochmals zur Hauptverhandlung hätte vorladen und abhören müssen, obschon er aufgrund der Akten ihre Aussagen für unwesentlich erachtete, folgt keineswegs aus dem Wortlaut des Art. 247 bern. StrV, noch vermag der Beschwerdeführer eine andere dahin lautende Verfahrensvorschrift namhaft zu machen. Sodann aber musste das Obergericht auch nicht aus dem Sinn der genannten Bestimmung zwingend folgern, dass der erkennende Richter alle vom Untersuchungsrichter zusammengetragenen Beweise zur Grundlage seiner Überzeugungsbildung zu machen habe, unbekümmert darum, ob sie hiefür erheblich oder unerheblich seien (s. auch WAIBLINGER, Das Strafverfahren des Kantons Bern, N. 1 zu Art. 89). Das genannte Fragerecht ist, soweit es dem Angeschuldigten zusteht, ein Verteidigungsrecht. Als solches fügt es sich in den verfassungsrechtlich gewährleisteten allgemeineren Anspruch auf rechtliches Gehör ein. Dieser verbietet es jedoch dem Richter nicht, das Beweisverfahren zu schliessen, wenn er den rechtlich erheblichen Sachverhalt für genügend geklärt erachtet. Vielmehr bringt es der nach Art. 249 BStP für die von den kantonalen Gerichten zu beurteilenden Bundesstrafsachen gültige Grundsatz der freien Beweiswürdigung mit sich, dass über Tatsachen, von deren Wahrheit oder Unwahrheit der Richter aufgrund bereits abgenommener Beweise überzeugt ist, kein weiterer Beweis mehr

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geführt zu werden braucht. Voraussetzung ist freilich, dass das Gericht ohne Willkür in vorweggenommener Würdigung annehmen durfte, die weiteren Beweise würden seine Überzeugung nicht beeinflussen (vgl. LEUCH, Die ZPO für den Kanton Bern, N. 3 zu Art. 213).
Im vorliegenden Fall legt der Beschwerdeführer nicht dar, inwiefern das Obergericht die Aussagen der drei in der Voruntersuchung einvernommenen Polizisten nicht als unwesentlich hätte ausser acht lassen dürfen, nachdem es seine Überzeugung bereits aufgrund anderer Beweise gebildet hatte. Ist demnach ein Verstoss gegen Art. 4 BV insoweit nicht einmal glaubhaft gemacht, so kann der Vorinstanz auch nicht deswegen Willkür vorgeworfen werden, weil sie die genannten Zeugen nicht zur Hauptverhandlung vorgeladen, abgehört und dem Beschwerdeführer gegenübergestellt hat, um diesem Gelegenheit zu geben, Fragen an sie stellen zu lassen; mit dem Wegfall der Verpflichtung des Gerichtes zu jener Weiterung des Beweisverfahrens entfiel notwendig auch das den Parteien und namentlich dem Angeschuldigten nach Art. 247 bern. StrV zustehende Fragerecht. Dieses ist somit vom Obergericht in keiner Weise willkürlich missachtet worden. Daran ändert auch nichts, dass die Einvernahmeprotokolle aus der Voruntersuchung bei den Akten blieben und dem Gericht bekannt gewesen sind. Villard führt keine Bestimmung des bernischen Strafverfahrensrechtes an, derzufolge Schriftstücke, die vom erkennenden Richter als nicht wesentlich betrachtet und deshalb seiner Überzeugungsbildung nicht zugrunde gelegt wurden, aus den Akten ausgeschieden werden müssten. Übrigens wäre eine solche Vorschrift auch sinnlos. Die Frage, ob ein Beweisstück beachtlich sei oder nicht, muss der urteilende Richter selber beantworten. Das aber kann nicht ohne Kenntnis des betreffenden Belegs geschehen. Zudem muss dieser auch deswegen weiterhin Aktenbestandteil bleiben, weil die anticipando erfolgte Beweiswürdigung des kantonalen Richters der Überprüfung durch das Bundesgericht unterliegen kann.