BGE 99 Ib 51
 
6. Auszug aus dem Urteil vom 2. Februar 1973 i.S. Touring Club der Schweiz und Konsorten gegen Unfalldirektoren-Konferenz und Konsorten und Eidg. Justiz- und Polizeidepartement
 
Regeste
Staatsaufsicht über das private Versicherungswesen
2. Beschwerdelegitimation der Personenwagenhalter und der Vereinigungen von Personenwagenhaltern (Erw. 1 b).
3. Parteirechte bei Beizug von Sachverständigen durch die Vorinstanz; Abgrenzung des Sachverständigen von der Auskunftsperson (Erw. 3 a).
4. Bedeutung und Umfang der staatlichen Aufsicht über die privaten Versicherungsunternehmen; besondere Ausgestaltung der Aufsicht über die obligatorische Motorfahrzeughaftpflichtversicherung? (Erw. 4).
5. Ausschluss neuer Tatsachen (Erw. 5).
 
Sachverhalt


BGE 99 Ib 51 (52):

Aus dem Sachverhalt:
A.- Die Unfalldirektoren-Konferenz (UDK), ein Verein im Sinne von Art. 60 ff. ZGB, umfasst mit Ausnahme der Altstadt Versicherungs-AG, der Lloyd's und der Secura alle Versicherer, die in der Schweiz auf dem Gebiete der Motorfahrzeug-Haftpflichtversicherung (MHV) tätig sind. Im Sommer 1971 unterbreitete sie dem Eidg. Versicherungsamt (EVA) ihre Berechnungen der MHV-Prämien für das Jahr 1972 zur Genehmigung. Die Prämien für die Haftpflichtversicherung von Personenwagen sollten danach im Durchschnitt um rund 18% erhöht werden. Am 14. September 1971 genehmigte das EVA den neuen Prämientarif. Die drei der UDK nicht angeschlossenen Versicherer erklärten in Zuschriften vom 21. und 24. September 1971 ihr Einverständnis mit den bewilligten Tarifänderungen.
B.- Der Touring-Club der Schweiz (TCS), Dr. W. Müller, Dr. J. Bühler und Dr. W. Renschler, der Automobil-Club der Schweiz (ACS), die Sozialdemokratische Partei der Schweiz und zwei ihrer Mitglieder, der Landesverband Freier Schweizer Arbeiter und drei seiner Mitglieder, der Schweizerische Abstinenten-Verkehrsverband (SAV) und Erwin Wittker fochten die Verfügung des EVA mit Beschwerden beim Eidg. Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) an. Das EJPD entschied am 13. September 1972 gestützt auf einen Bericht der von ihm als Experten beigezogenen Professoren M. H. Amsler, Pully, W. Bickel, Zürich, und L. Schürmann, Olten, auf die Beschwerden der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, des Landesverbandes Freier Schweizer Arbeiter und des ACS nicht einzutreten und die anderen Beschwerden abzuweisen, soweit auf sie eingetreten werden konnte.
C.- Gegen den Entscheid des EJPD erhoben der Touring-Club der Schweiz, Dr. W. Müller, Dr. J. Bühler und Dr. W.

BGE 99 Ib 51 (53):

Renschler sowie der Schweizerische Abstinenten-Verkehrsverband Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
D.- Die UDK, die Altstadt Versicherungs-AG, Lloyd's und Secura wie auch das EJPD beantragen in ihren Vernehmlassungen die Abweisung der drei Beschwerden.
E.- Der Präsident der verwaltungsrechtlichen Kammer stellte auf entsprechende Gesuche der Beschwerdeführer am 18. Oktober 1972 in drei Verfügungen fest, den drei Verwaltungsgerichtsbeschwerden komme nach Art. 111 Abs. 1 OG aufschiebende Wirkung zu. Die UDK reichte hiezu am 27. Oktober ein Wiedererwägungsgesuch ein mit dem Antrag, "zu erkennen, dass der eingereichten Beschwerde gestützt auf Art. 111 Abs. 2 OG keine aufschiebende Wirkung zukommt". Da das EJPD in der Folge im Zusammenhang mit dem bei ihm angefochtenen Prämientarif 1973 eine ähnliche Frage zu entscheiden hatte und zu erwarten war, dass gegen diesen Zwischenentscheid des Departements Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben würde, verfügte der Präsident der verwaltungsrechtlichen Kammer am 23. November 1972, den Entscheid über das Wiedererwägungsgesuch auszusetzen, bis die verwaltungsrechtliche Kammer die in Aussicht stehende Verwaltungsgerichtsbeschwerde beurteilt habe.
F.- Der Bundesrat beschloss am 10. November 1971, losgelöst vom Beschwerdeverfahren betreffend den Prämientarif 1972, die schweizerische Kartellkommission mit einer allgemeinen Erhebung über die Wettbewerbsverhältnisse in der MHV beauftragen zu lassen. Die Erhebung sollte in erster Linie der Orientierung einer zuvor vom EJPD eingesetzten Ad-hoc-Studiengruppe dienen, der die Überprüfung aller mit der MHV zusammenhängenden grundsätzlichen Fragen obliegt. In ihrem Bericht, der am 24. Juli 1972 abgeschlossen wurde und am 19. Oktober 1972 im Buchhandel erschien, regt die Kartellkommission u.a. an, den Kreis der an der Gemeinschaftsstatistik beteiligten Versicherer auszuweiten, ohne aber die Aussenseiter dabei zu verpflichten, sich wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen anzuschliessen. Ausserdem hält sie zur Vermeidung überhöhter Tarife für nötig, dass die Kontrolle der Tarifgestaltung und der Prämienfestsetzung verstärkt wird.
 
Aus den Erwägungen:
1. a) Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht

BGE 99 Ib 51 (54):

ist zulässig gegen Verfügungen im Sinne von Art. 5 VwG (Art. 97 Abs. 1 OG), die von einer der in Art. 98 OG aufgezählten Instanzen stammen und unter keine der Ausnahmebestimmungen der Art. 99 - 102 OG fallen. Die beiden letzten dieser drei Voraussetzungen sind im vorliegenden Falle offensichtlich erfüllt: Der angefochtene Entscheid stammt von einem Departement des Bundesrates (Art. 98 lit. b OG). Art. 99 lit. b OG, die einzige Ausnahmebestimmung, die hier in Betracht fallen könnte, erklärt zwar die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen Verfügungen über Tarife für unzulässig, nimmt aber Verfügungen über Tarife auf dem Gebiete der Privatversicherung ausdrücklich hievon aus. Der angefochtene Entscheid betrifft nun aber gerade Tarife auf dem Gebiete der Privatversicherung. Zu prüfen bleibt somit lediglich, ob er auch eine Verfügung im Sinne von Art. 5 VwG ist. Verfügungen im Sinne von Art. 5 VwG sind nach dem Wortlaut dieser Bestimmung Anordnungen der Behörden im Einzelfall, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen. Der angefochtene Beschwerdeentscheid des EJPD stützt sich, wie schon das Erkenntnis der ersten Instanz, auf das Bundesgesetz betreffend die Beaufsichtigung von Privatunternehmungen im Gebiete des Versicherungswesens vom 25. Juni 1885 (VAG), also auf öffentliches Recht des Bundes. Hingegen könnte auf den ersten Blick fraglich scheinen, ob er auch als Anordnung im Einzelfall gelten kann, betrifft er doch eine schwer bestimmbare Vielzahl von Motorfahrzeughaltern als Versicherungsnehmer. Abgesehen davon, dass er sich auf die Prämien für ein bestimmtes Jahr bezieht, richtet er sich als Bestätigung der vom EVA ausgesprochenen Genehmigung aber rechtlich nur an die UDK, der als Verein im Sinne von Art. 60 ff. ZGB eigene Rechtspersönlichkeit zukommt. Er regelt mithin einen Einzelfall im Sinne von Art. 5 VwG. Die vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerden sind somit zulässig.
b) Zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den angefochtenen Entscheid sind zunächst auf Grund von Art. 103 lit. a OG, wie die UDK anerkennt, alle Halter von Personenwagen berechtigt. Der Entscheid berührt sie, wenn auch bloss indirekt, als Versicherungsnehmer, lässt er doch für 1972 eine Erhöhung der Versicherungsprämie zu. Ihr Interesse an seiner Aufhebung oder Änderung erscheint schutzwürdig. Sowohl Dr. Müller und Konsorten als auch der TCS sind Halter von Personenwagen und als solche somit zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde berechtigt.


BGE 99 Ib 51 (55):

Dem SAV hingegen fehlt nach Ansicht der UDK die Legitimation zur Beschwerde, da er anscheinend nicht Halter eines Personenwagens ist und ihn auch keine Spezialvorschrift des Bundesrechts im Sinne von Art. 103 lit. c OG zur Beschwerdeführung ermächtigt. Das Bundesgericht hat aber in Anlehnung an seine Rechtsprechung zur staatsrechtlichen Beschwerde (BGE 93 I 127) entschieden, dass Vereinigungen, die nach ihren Statuten die Interessen ihrer Mitglieder zu wahren haben, zu diesem Zwecke in eigenem Namen Verwaltungsgerichtsbeschwerde erheben können, sofern der angefochtene Entscheid in schutzwürdige Interessen der Gesamtheit oder doch der Mehrheit ihrer Mitglieder eingreift (BGE 97 I 593, BGE 98 Ib 70). Der SAV bezweckt nach Art. 2 seiner Statuten nicht nur allgemein die Wahrung der Interessen und Rechte der abstinenten Fahrzeugführer, sondern auch die "Erreichung möglichst günstiger Versicherungsprämien für Motorfahrzeugführer" (lit. c und f). Zwar geht aus den Akten nicht hervor, dass tatsächlich die Mehrheit seiner Mitglieder Halter von Personenwagen und somit Versicherungsnehmer sind. Dies darf aber bei der heutigen Verbreitung des Automobils ohne weiteres angenommen werden. Auch der SAV ist somit zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde legitimiert. Aus denselben Gründen wäre übrigens der TCS selbst dann zur Beschwerde legimiert, wenn er nicht als Halter von Personenwagen auftreten würde.
Auf die im übrigen frist- und formgerecht eingereichten Beschwerden ist somit grundsätzlich einzutreten. Allerdings kann auf sie nur soweit eingetreten werden, als sie sich auf den Prämientarif 1972 der MHV beziehen. Ausserdem kann die Beschwerde des SAV - was praktisch jedoch bedeutungslos ist - nicht als selbständige Beschwerde entgegengenommen werden, soweit sie sich einfach der Beschwerde von Dr. Müller und Konsorten anschliesst. Hingegen ist der SAV, entgegen der Ansicht der UDK, auch insofern zu hören, als er zur Begründung seiner Beschwerde lediglich auf seine Eingaben an die Vorinstanzen verweist, eröffnet doch die Verwaltungsgerichtsbeschwerde, anders als die staatsrechtliche Beschwerde, auf die sich die von der UDK zitierten Entscheide beziehen, kein unabhängiges, neues Verfahren. Schliesslich kann auf die Beschwerden von Dr. Müller und Konsorten und des SAV nicht eingetreten werden, soweit sie die Frage der Angemessenheit des angefochtenen Entscheids aufwerfen. Art. 104 lit. c OG lässt die Rüge der

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Unangemessenheit abgesehen von zwei hier ohnehin nicht interessierenden Fällen nur zu, wo sie das Bundesrecht ausdrücklich vorsieht (BGE 98 Ib 3). Im Gebiete der Aufsicht des Bundes über die privaten Versicherungsunternehmen besteht keine entsprechende Bestimmung. Das Bundesgericht kann den angefochtenen Departementsentscheid deshalb nur auf Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Missbrauch und Überschreitung des Ermessens (Art. 104 lit. a OG) sowie auf unrichtige und unvollständige Feststellung des Sachverhaltes (Art. 104 lit. b OG) prüfen. Art. 105 Abs. 2 OG findet im vorliegenden Falle keine Anwendung.
a) Zwar wird in keiner der drei Beschwerden ausdrücklich geltend gemacht, das EJPD habe im Zusammenhang mit der Bestellung der Expertengruppe einen Verfahrensfehler begangen, der zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids führen müsse. Das Bundesgericht ist aber nicht an die Begründung der Verwaltungsgerichtsbeschwerden gebunden (Art. 114 Abs. 1 OG). Das EJPD äussert sich denn auch vorsorglich zu dieser Frage. Es erklärt, es habe sich angesichts der Dringlichkeit der Beschwerdeerledigung die für die Abklärung des Sachverhalts nötigen Fachkenntnisse gestützt auf Art. 12 lit. c VwG beschafft. Die drei Professoren hätten nicht als Sachverständige im Sinne von Art. 12 lit. e VwG, sondern als blosse Auskunftspersonen im Sinne von Art. 12 lit. c VwG geantwortet. Damit habe sich aber auch die Beachtung der nach Art. 19 VwG in Verbindung mit Art. 57, 58 und 60 BZP bei Einholung eines eigentlichen Sachverständigengutachtens bestehenden Parteirechte erübrigt. Für den Fall, dass eine Verfahrensverletzung angenommen würde, führt das EJPD an, deren Heilung sei im vorliegenden Falle "möglich und... gerechtfertigt"; nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts könne im Verwaltungsverfahren überdies bei besonderer zeitlicher Dringlichkeit ausnahmsweise vom strengen Wortlaut der Vorschriften über die Beweiserhebung abgewichen werden.
Die Auffassung des Departements, der Expertenbericht vom 8. Juni 1972 sei lediglich eine Auskunft von Drittpersonen im Sinne von Art. 12 lit. c VwG, ist unhaltbar. Dies ergibt sich schon aus der Gegenüberstellung von lit. c und lit. e des Art. 12

BGE 99 Ib 51 (57):

VwG. Wer in einem Verwaltungsverfahren allein um seiner besonderen Fachkenntnis willen zur Abklärung des Sachverhaltes beigezogen wird, wirkt daran als Sachverständiger und nicht als blosse Auskunftsperson mit. Beim Beizug von Sachverständigen hat die Behörde aber auf Grund der Verweisung von Art. 19 VwG die Art. 57, 58 und 60 BZP zu beachten, die insbesondere vorschreiben, dass den Parteien Gelegenheit zu geben ist, zur Ernennung der Sachverständigen Stellung zu nehmen und sich zu den Fragen zu äussern, deren Begutachtung beabsichtigt ist. Diese Verfahrensvorschriften hat das EJPD verletzt. Immerhin hat es am 13. Juni 1972 den Beschwerdeführern den Expertenbericht übermittelt und ihnen dabei eine Frist zur Einreichung von "Bemerkungen" angesetzt. Sowohl der TCS als auch Dr. Müller und Konsorten und der SAV haben diese Gelegenheit zur Stellungnahme wahrgenommen, dabei jedoch weder die Auswahl der Experten noch die Formulierung der Expertenfragen gerügt. Zu Recht machen sie deshalb keine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend. Eine allfällige Verletzung dieses Anspruchs wäre übrigens ohnehin im Verfahren vor Bundesgericht geheilt worden, kann das Gericht doch im vorliegenden Falle den angefochtenen Entscheid in rechtlicher wie in tatsächlicher Hinsicht frei überprüfen (vgl. BGE 93 I 656; BGE 96 I 188).
4. a) Die Verfügung des EVA vom 14. September 1971 stützt sich auf Art. 2, 4 und 9 Abs. 1 VAG. Der Bundesrat hat verschiedene der Befugnisse, die ihm diese Bestimmungen einräumen, gestützt auf Art. 23 des BG über die Organisation der Bundesverwaltung vom 26. März 1914 in Art. 20 des BRB betreffend die Zuständigkeit der Departemente und der ihnen unterstellten Amtsstellen zur selbständigen Erledigung von Geschäften vom 17. November 1914 dem EVA übertragen. Nach Art. 2 und 4 VAG haben die privaten Versicherungsunternehmen der Aufsichtsbehörde von jeder Änderung ihrer allgemeinen Versicherungsbedingungen und ihrer Prämientarife Kenntnis zu geben. Nach der Rechtsprechung müssen solche Änderungen von der Aufsichtsbehörde genehmigt werden, bevor sie angewendet werden dürfen (BGE 80 I 70 ff.). Art. 9 Abs. 1 VAG ermächtigt die Aufsichtsbehörde, jederzeit die ihr durch das allgemeine Interesse und dasjenige der Versicherten geboten erscheinenden Verfügungen zu treffen.
b) Im vorliegenden Falle fragt sich, welches der Zweck und

BGE 99 Ib 51 (58):

die Grenzen dieser Befugnisse des EVA sind. Verfassungsmässige Grundlage des Versicherungsaufsichtsgesetzes bildet Art. 34 Abs. 2 BV. Diese Vorschrift ermächtigt den Bund auf dem Gebiete des Versicherungswesens zu gewerbepolizeilichen Einschränkungen der Handels- und Gewerbefreiheit (BURCKHARDT, Komm. BV 3. A. S. 283/286; FLEINER/GIACOMETTI, Schweiz. Bundesstaatsrecht S. 304). Nach einhelliger Auffassung von Lehre und Rechtsprechung kommt dem VAG dementsprechend ausschliesslich gewerbepolizeilicher Charakter zu (ROELLI/KELLER, Komm. zum VVG Bd. I S. 27; KOENIG, Schweizerisches Privatversicherungsrecht S. 53 ff.; HAYMANN, La surveillance des sociétés d'assurance en Suisse, Diss. Genf 1932 S. 34; LOCHER, Die Gesetzgebung betreffend die staatliche Beaufsichtigung der privaten Versicherungsunternehmungen in der Schweiz, Diss. Leipzig 1934 S. 17; HATZ, Entwicklung, Aufgaben und Abgrenzung der Staatsaufsicht über die privaten Versicherungsunternehmungen in der Schweiz, Diss. Zürich 1951 S. 13; WYRSCH, Die schweiz. Staatsaufsicht über die Rückversicherung, Diss. Zürich 1957 S. 43 ff.; BGE 76 I 239; vgl. auch Art. 1 des Vorentwurfs vom 2. Dezember 1971 für ein neues Versicherungsaufsichtsgesetz). Sein Zweck beschränkt sich somit auf den Schutz der öffentlichen Ordnung, die Wahrung von Sicherheit, Ruhe, Gesundheit und Sittlichkeit und von Treu und Glauben im Geschäftsverkehr. Ursprünglich stand dabei der Schutz der Versicherten vor Insolvenz des Versicherers im Vordergrund (vgl. Art. 9 Abs. 2 VAG). Schon bei der Ausarbeitung des Gesetzes kam aber zum Ausdruck, dass die Staatsaufsicht über die privaten Versicherungsunternehmen auch der Verhinderung von Missbräuchen der Versicherer dienen müsse. In Anknüpfung an diesen Gedanken hat das Bundesgericht in der Folge erklärt, das EVA habe vor der Genehmigung von Prämientarifen nicht nur zu prüfen, ob die vorgesehenen Prämiensätze das versicherungstechnisch erforderliche Minimum nicht unterschritten, sondern auch darüber zu wachen, dass das Publikum nicht übervorteilt werde (BGE 76 I 242; BGE 84 I 145). Im Unterschied zur älteren Literatur (HAYMANN, a.a.O. S. 63) teilen verschiedene neuere Autoren grundsätzlich diese Auffassung (HATZ, a.a.O. S. 20; WYRSCH, a.a.O. S. 46-51; HUNGERBÜHLER, Die Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung im Versicherungsvertrag, Diss. Bern 1972 S. 59). An ihr ist im vorliegenden Falle festzuhalten. Dabei versteht sich, dass die Pflicht der

BGE 99 Ib 51 (59):

Aufsichtsbehörde, den Versicherten vor Übervorteilung zu schützen, nicht etwa die Kompetenz einschliesst, die "gerechte" Prämie zu ermitteln und verbindlich festzulegen. Die Aufsichtsbehörde hat nur gerade soweit in das privatrechtliche Verhältnis zwischen Versicherer und Versichertem einzugreifen, als dies der Schutz des Versicherten vor Übervorteilung erfordert. Weitergehende Eingriffe lassen sich vor der Handels- und Gewerbefreiheit nicht halten. Zwischen der versicherungstechnisch gerade noch genügenden und der übersetzten Prämie besteht ein Spielraum, den der Versicherer nach dem heute geltenden Recht bei der Prämienfestlegung frei benützen darf.
c) Nach Ansicht des TCS rechtfertigen der obligatorische Charakter der MHV, ihr sozialpolitisches Ziel und die Konzentration des MHV-Geschäfts auf wenige Versicherer, der Aufsichtsbehörde hier weitergehende Befugnisse zuzuerkennen, als in den anderen Versicherungssparten. Auf den obligatorischen Charakter der MHV weisen auch Dr. Müller und Konsorten hin.
Bereits in BGE 76 I 245 hat das Bundesgericht festgehalten, dass das Obligatorium der MHV keine besonderen Befugnisse der Aufsichtsbehörde in diesem Versicherungszweig begründet, dass Wesen und Zweck der Aufsicht hier nach dem geltenden Recht dieselben sind wie in allen anderen Versicherungssparten und dass das Obligatorium seinen Zweck - dem Geschädigten einen leistungsfähigen Schuldner zu stellen - bereits erreicht, wenn die Solidität des Versicherers gesichert ist. Dies gilt nach wie vor. Der Gesetzgeber hat die Aufsicht über die MHV in keiner Weise strenger ausgestaltet als die Aufsicht über die anderen Versicherungszweige. Es ist nicht Sache des Gerichts, sie an Stelle des Gesetzgebers weiter auszubauen; dies um so weniger, als gegenwärtig eine Revision des Versicherungsaufsichtsgesetzes in Aussicht steht. Auch die vom TCS angerufene sozialpolitische Zielsetzung der obligatorischen MHV und die Marktkonzentration in dieser Versicherungssparte begründen keine Ausdehnung der Aufsicht über den Rahmen der ihr zugrundeliegenden gewerbepolizeilichen Vorschriften hinaus, solange Verfassung und Gesetz nichts anderes bestimmen. Zur Wahrung privater und öffentlicher Interessen, die durch die "oligopolistische" Marktstruktur der MHV (vgl. Bericht der Kartellkommission S. 157) beeinträchtigt werden, bestehen übrigens auf Grund des Kartellgesetzes besondere Klagemöglichkeiten, die

BGE 99 Ib 51 (60):

für Eingriffe der Aufsichtsbehörde keinen Raum lassen (Art. 6 und 22 KG). Wenn die Kartellkommission in ihrem Bericht anregt, die Überprüfung der Tarifgestaltung und der Prämienfestsetzung in der MHV zu verstärken, so redet sie damit nicht einer Ausdehnung der Aufsichtsbefugnisse das Wort. Offenbar geht es ihr, jedenfalls de lege lata, nur darum, die technische Kontrolle so zu verbessern, dass überhöhte Prämien wirklich verhindert werden können (S. 168). Damit geht sie aber nicht über das hinaus, was hier zum Umfang der Aufsicht über die MHV gesagt worden ist.
Im Verfahren der Verwaltungsgerichtsbeschwerde können grundsätzlich auch neue Tatsachen berücksichtigt werden, selbst solche, die erst seit Fällung des angefochtenen Entscheides eingetreten sind. Im vorliegenden Falle, wo es um die Prüfung des Prämientarifs für ein bestimmtes bereits abgelaufenes Jahr geht, dürfen dem Entscheid des Bundesgerichts im Hinblick darauf, dass er in der Sache Rückwirkung entfaltet, jedoch nur diejenigen Tatsachen zugrundegelegt werden, die bereits im Zeitpunkt des erstinstanzlichen Entscheides bekannt waren.