Urteilskopf
120 Ia 82
12. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 18. Januar 1994 i.S. W. gegen Gerichtspräsident Aarwangen und Appellationshof des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste
Anspruch auf den verfassungsmässigen Richter;
Art. 58 Abs. 1 BV und
Art. 6 Ziff. 1 EMRK.
Es verletzt den Anspruch auf einen unvoreingenommenen Richter nach Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht, dass der Richter, der vorher ein Rechtsöffnungsbegehren abgewiesen hat, im ordentlichen Forderungsprozess (Anerkennungsprozess) mitwirkt.
In einer Forderungsstreitigkeit stellte Frau W. gestützt auf eine gerichtlich genehmigte Ehescheidungskonvention das Gesuch um definitive, evtl. um provisorische Rechtsöffnung. Der Gerichtspräsident von Aarwangen wies dieses Ersuchen mit begründetem Entscheid ab.
In der Folge erhob Frau W. Klage. Der Gerichtspräsident von Aarwangen führte seither die Instruktion und das Beweisverfahren. Im Rahmen dieses Verfahrens ersuchte Frau W. um den Ausstand des Gerichtspräsidenten und um
BGE 120 Ia 82 S. 83
Beurteilung ihres Forderungsstreites durch den Gerichtspräsidenten eines Nachbarbezirkes. Sie begründete ihr Gesuch im wesentlichen damit, dass der Gerichtspräsident angesichts seiner früheren Funktion als Rechtsöffnungsrichter im vorliegenden Anerkennungsverfahren wegen Vorbefassung nicht mehr unvoreingenommen sei und damit den Anforderungen an den verfassungsmässigen Richter nicht genüge. Der Appellationshof des Kantons Bern wies dieses Ausstandsbegehren ab.
Gegen dieses Urteil des Appellationshofes hat Frau W. staatsrechtliche Beschwerde eingereicht und im wesentlichen eine Verletzung von Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK gerügt. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
Aus den Erwägungen:
5. (Hinweise auf Bedeutung und Tragweite des Anspruchs auf einen unparteiischen, unbefangenen und unvoreingenommenen Richter nach
Art. 58 Abs. 1 BV und
Art. 6 Ziff. 1 EMRK; vgl.
BGE 119 Ia 81 E. 3 S. 83,
BGE 119 Ia 221 E. 3 S. 226.).
6. a) Im vorliegenden Falle wies der Gerichtspräsident von Aarwangen mit Entscheid vom 2. Dezember 1992 das Begehren der Beschwerdeführerin um definitive oder provisorische Rechtsöffnung ab (
Art. 80 und 82 SchKG). Die Beschwerdeführerin leitete daher den ordentlichen Forderungsprozess (Anerkennungsprozess) vor dem ordentlichen Zivilrichter ein. Aufgrund der Regeln über die sachliche und örtliche Zuständigkeit der bernischen Zivilprozessordnung (ZPO) handelte es sich beim zuständigen Richter wiederum um den Gerichtspräsidenten von Aarwangen (
Art. 2 ZPO). Im Umstand, dass der Forderungsprozess vor demselben Richter geführt wird, der vorher bereits das Rechtsöffnungsbegehren abgewiesen hat, erblickt die Beschwerdeführerin eine verfassungswidrige Vorbefassung im oben dargelegten Sinne.
b) Im Verfahren der definitiven oder der provisorischen Rechtsöffnung prüft der Richter, ob die Forderung auf einem vollstreckbaren gerichtlichen Urteil, einem gerichtlichen Vergleich oder einer gerichtlichen Schuldanerkennung (
Art. 80 SchKG) bzw. auf einer durch öffentliche Urkunde festgestellten oder durch Unterschrift bekräftigten Schuldanerkennung (
Art. 82 SchKG) beruhe. Der Schuldner kann zu seiner Verteidigung im Verfahren der definitiven Rechtsöffnung die Rechtmässigkeit des Rechtsöffnungsverfahrens in Frage stellen oder in materieller Hinsicht die
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Wirksamkeit oder die Vollstreckbarkeit der vorgelegten Urkunden bestreiten (KURT AMONN, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 5. Auflage 1993, Rz. 24 ff. zu § 19 S. 135 ff.). Im Verfahren der provisorischen Rechtsöffnung kann er neben formellen Einwänden das Fehlen eines Rechtsöffnungstitels, dessen Ungültigkeit oder Unwirksamkeit geltend machen; er braucht diese Einwendungen nicht zu beweisen, vielmehr genügt die Glaubhaftmachung (AMONN, a.a.O., Rz. 52 ff. zu § 19 S. 142 f.). Auf jeden Fall kann sich der Schuldner auf Tilgung oder Stundung berufen oder Verjährung geltend machen (
Art. 81 Abs. 1 SchKG). - Der Entscheid über die Rechtsöffnung hat rein betreibungsrechtliche Wirkung; es wird bestimmt, ob eine Betreibung fortgesetzt werden kann oder nicht (
BGE 100 III 48 E. 3 S. 50; AMONN, a.a.O., Rz. 14 zu § 19 S. 131 f.; HANS FRITZSCHE/HANS ULRICH WALDER, Schuldbetreibung und Konkurs nach schweizerischem Recht, 3. Aufl., Zürich 1984, Bd. I, Rz. 22 zu § 18 S. 230; MAX GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Auflage 1979, S. 38). Die Prüfungszuständigkeit des Rechtsöffnungsrichters umfasst ausschliesslich Fragen im Zusammenhang mit der Tauglichkeit der präsentierten Urkunden. Über die Forderung wird dagegen nur vorbehältlich der Anerkennungs- oder der Aberkennungsklage entschieden. Die Verweigerung der Rechtsöffnung zwingt den Gläubiger, wie im vorliegenden Verfahren den ordentlichen Forderungsprozess (Anerkennungsverfahren) anzustrengen.
Diesfalls wird über die materielle Begründetheit der Forderung erst im ordentlichen Verfahren entschieden. Dieses richtet sich - im Rahmen des Bundesrechts - nach dem kantonalen Verfahrensrecht. Dem Gläubiger stehen für die Begründung seiner Forderung im Rahmen des Verfahrensrechts sämtliche Angriffsmittel und sämtliche Beweismittel zur Verfügung. Auf der andern Seite kann sich der Schuldner mit allen Mitteln gegen die Forderung zur Wehr setzen. Der Richter befindet schliesslich aufgrund des vollständigen Beweisverfahrens und der umfassenden Würdigung über das Bestehen der eingeklagten Forderung und verurteilt den Schuldner zur Bezahlung oder weist die Klage des Gläubigers ab. Der Forderungsprozess findet damit, vorbehältlich des Rechtsmittelweges, seinen Abschluss.
c) Die Beschwerdeführerin macht im wesentlichen geltend, der Richter habe sich im Forderungsprozess mit grundsätzlich den gleichen Fragen auseinanderzusetzen wie bereits im vorangehenden Rechtsöffnungsverfahren und biete daher ungenügende Gewähr für eine unbefangene Beurteilung. Dabei
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übersieht sie indessen, dass das Rechtsöffnungsverfahren und das Anerkennungsverfahren unterschiedlicher Natur sind. Das Rechtsöffnungsverfahren hat ausschliesslich betreibungsrechtlichen Charakter; es wird sowohl im definitiven als auch im provisorischen Rechtsöffnungsverfahren nur darüber entschieden, ob die Betreibung weitergeführt werden kann oder ob der Gläubiger auf den ordentlichen Prozessweg verwiesen wird. Auf der andern Seite steht im Forderungsprozess die materielle Begründetheit der Forderung in Frage, mit der Folge, dass der Beklagte zur Zahlung der Schuld verurteilt oder aber die Forderung des Klägers als unbegründet befunden wird. Damit stehen in den beiden Verfahren nicht gleiche Fragen zur Diskussion. - Dies zeigt sich auch an den in den beiden Verfahren zulässigen Vorbringen. Der Gläubiger kann für die definitive bzw. provisorische Rechtsöffnung zur Begründung seiner Forderung nur die zugelassenen Urkunden vorlegen. Der Schuldner ist mit seiner Verteidigung auf formelle Rügen des Rechtsöffnungsverfahrens sowie auf die unmittelbare Bestreitung der Wirksamkeit des Rechtsöffnungstitels aufgrund von Urkunden beschränkt; im provisorischen Rechtsöffnungsverfahren genügt die Glaubhaftmachung. Der zugelassenen Beweismittel entsprechend ist auch die Prüfung des Rechtsöffnungsrichters eine beschränkte (vgl. GULDENER, a.a.O., S. 584 f.; OSCAR VOGEL, Grundriss des Zivilprozessrechts, 3. Auflage 1992, Rz. 149 ff. zu Kapitel 12 S. 301). Demgegenüber wird im ordentlichen Forderungsprozess aufgrund eines umfassenden Beweisverfahrens mit allen denkbaren Mitteln des Klägers und des Beklagten über die eingeklagte Forderung definitiv entschieden. - Diese Gegenüberstellung zeigt bereits, dass sich das Prozessthema in den beiden Verfahren der (definitiven oder provisorischen) Rechtsöffnung bzw. des Forderungsprozesses wesentlich unterscheidet. Daran vermag der Umstand nichts zu ändern, dass den beiden Verfahren dasselbe Forderungsverhältnis zwischen den Parteien zugrunde liegt.
d) Diese Überlegungen fügen sich in die bisherige Rechtsprechung zur Personalunion von Richtern unterschiedlicher Funktionen ein. Die vorliegende Angelegenheit ist insbesondere mit folgenden Konstellationen zu vergleichen und in Beziehung zu setzen.
aa) Unter dem Gesichtswinkel der Garantie auf den verfassungsmässigen Richter hat das Bundesgericht die Frage geprüft, ob derjenige Richter, der in einer Strafsache als Haftrichter tätig gewesen ist, später auch beim Sachentscheid mitwirken dürfe. Es hat dies bejaht, weil der Haftrichter
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nicht die gleichen Fragen zu behandeln hat wie der in der Sache erkennende Richter: Der Haftrichter hat die Voraussetzungen der Haft abzuklären, und der Sachrichter befindet über Schuld und Strafe. Die Unterschiedlichkeit der Sachfragen in den beiden Verfahrensstadien lässt die Personalunion grundsätzlich zu (
BGE 117 Ia 182 S. 185; vgl. auch
BGE 115 Ia 180 = EuGRZ 1989 S. 330 E. 3).
In gleicher Weise hat sich auch hinsichtlich des Rechtsöffnungs- und des anschliessenden Anerkennungsverfahrens gezeigt, dass die beiden Verfahrensstadien unterschiedlicher Natur sind und nicht direkt miteinander zusammenhängende Fragen betreffen.
bb) Das Bundesgericht hat ferner die Personalunion von Überweisungsrichter und Strafrichter geprüft. Es hat befunden, der erstinstanzliche Strafrichter am Obergericht des Kantons Zürich, der vorher als Mitglied der Anklagekammer die Anklage zugelassen und den Angeschuldigten überwiesen hat, genüge den verfassungs- und konventionsrechtlichen Anforderungen nicht. Denn mit dem Überweisungsentscheid wird nach § 166 Abs. 2 der Zürcher Strafprozessordnung über formellrechtliche Fragen hinaus aufgrund der umfassenden Erhebungen in materieller Hinsicht geprüft, ob der Angeklagte eines strafbaren Verhaltens hinreichend verdächtig erscheine und Anhaltspunkte gegeben seien, dass der Angeschuldigte die eingeklagte Tat wirklich begangen hat (
BGE 114 Ia 50 E. 5 S. 66). Demgegenüber hat das Bundesgericht im Umstand der Überweisung durch den zürcherischen Bezirksgerichtspräsidenten und dessen nachfolgende Beurteilung der Strafsache keine Verfassungs- oder Konventionsverletzung erblickt, weil in diesem Überweisungsverfahren lediglich formelle Aspekte im Vordergrund sind und der Tatverdacht nicht in Frage steht (nicht publiziertes Urteil vom 11. November 1993 i.S. G.). Ebenso hat es eine Verfassungs- oder Konventionsverletzung im Fall von bernischen Oberrichtern verneint, welche als Mitglieder der Anklagekammer nur indirekt an einer Überweisung beteiligt waren, da in den beiden Verfahrensstadien unterschiedliche Fragen streitig waren (BGE
BGE 114 Ia 139 S. 142).
Im Vergleich dazu ist für den vorliegenden Fall entscheidend, dass, wie oben dargelegt, im Rechtsöffnungsverfahren und im anschliessenden Forderungsprozess nicht die gleichen Fragen entschieden werden und das Rechtsöffnungsverfahren nur einen beschränkten Prozessgegenstand aufweist. Die differenzierte Rechtsprechung zur strafrechtlichen Überweisung bestätigt, dass der Ausgang des Forderungsprozesses auch bei der
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Beurteilung durch denselben Richter als durchaus offen erscheint und die Personalunion mit der Garantie auf einen unvoreingenommenen Richter vereinbar ist.
cc) Das Bundesgericht hat ferner erkannt, dass die Personalunion von Strafmandatsrichter und Strafrichter mit den Garantien auf einen unvoreingenommenen Richter nicht vereinbar sei. Hierfür war entscheidend, dass sowohl im Strafbefehlsverfahren als auch im darauffolgenden Einsprache- bzw. ordentlichen Strafverfahren materiell die gleichen Fragen geprüft werden. Daran änderte der Umstand nichts, dass im Strafbefehlsverfahren vorerst nur eine summarische Prüfung aufgrund der Akten und ohne Anhörung des Angeschuldigten vorgenommen wird. Für den Angeklagten erwächst der Strafbefehl gleich einem Strafurteil in Rechtskraft, wenn dagegen nicht Einsprache erhoben wird. Aus dessen Sicht hat zudem die Einsprache die Bedeutung eines Rechtsmittels, das dann von demselben Richter beurteilt wird (
BGE 114 Ia 143, EuGRZ 1992 S. 548).
Auch mit dieser Konstellation lässt sich der vorliegende Fall nicht vergleichen. Denn das Rechtsöffnungsverfahren ist anderer Natur als der anschliessende Forderungsprozess. Mit der Verweigerung der Rechtsöffnung wird kein definitiver Entscheid in der Sache selbst getroffen; der Gläubiger kann auch bei Abweisung des Rechtsöffnungsgesuches erneut Betreibung einleiten (
BGE 100 III 48 E. 3 S. 50). Der Entscheid wird insofern - anders als das Strafmandat, gegen das keine Einsprache erhoben wird - nicht definitiv. Es kann daher - im Gegensatz zur Personalunion von Strafmandats- und Strafrichter - auch nicht gesagt werden, der Richter des ordentlichen Forderungsprozesses habe den vorgängigen Entscheid gewissermassen in einem Rechtsmittelverfahren selbst zu überprüfen. Daran vermag im vorliegenden Fall der Umstand nichts zu ändern, dass in beiden Verfahren von den indexierten Unterhaltsbeiträgen und der Bedingung der entsprechenden Erhöhung des Einkommens des Beklagten die Rede war bzw. noch ist.
e) Diese Beurteilung der Personalunion von Rechtsöffnungs- und Anerkennungsrichter wird durch die Rechtsprechung der Europäischen Kommission für Menschenrechte bestätigt. In einem die Schweiz betreffenden Nichtzulassungsentscheid hat die Kommission festgehalten, die nur summarische und formelle Prüfung des Rechtsöffnungsrichters vermöchten keine berechtigten Zweifel an der Unparteilichkeit des Richters des ordentlichen Verfahrens zu begründen (Entscheid i.S. S. c. Schweiz vom 8. April 1991, VPB 55/1991 Nr. 50).
f) In Anbetracht dieser Erwägungen kann nicht gesagt werden, der Prozessgegenstand von Rechtsöffnungs- und anschliessendem ordentlichem Zivilverfahren glichen sich derart, dass der Ausgang des Forderungsprozesses bei Mitwirkung desselben Richters in beiden Verfahren weitgehend vorbestimmt sei und nicht mehr als hinreichend offen erscheine. Die Befürchtung der Beschwerdeführerin, der Forderungsprozess könne vom Richter nicht mehr unvoreingenommen geführt werden, erweist sich bei objektiver Betrachtung als unbegründet. Die Mitwirkung des Richters im Forderungsprozess, welcher vorgängig die (definitive oder provisorische) Rechtsöffnung verweigert hat, verstösst daher nicht gegen die Garantien von Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK.