BGE 102 Ia 430
 
62. Auszug aus dem Urteil vom 17. November 1976 i.S. Mollet und Mitbeteiligte gegen Einwohnergemeinde Lostorf und Regierungsrat des Kantons Solothurn
 
Regeste
Art. 22ter BV, Gemeindeautonomie; Nichtgenehmigung eines Zonenplans.
2. Die hilfsweise Anrufung der Gemeindeautonomie ist immer dann zulässig, wenn der Beschwerdeführer legitimiert ist, eine Verletzung anderweitiger verfassungsmässiger Rechte zu rügen (E. 8a.)
3. Öffentliches Interesse an der Kleinhaltung der Bauzone (E. 4b); Überprüfung der Zonenplanung der Gemeinde Lostorf (E. 5).
4. Die Nichtgenehmigung einer kommunalen Zonenplanung, in welcher eine bereits zu grosse Bauzone zusätzlich erweitert wird, verletzt die Gemeindeautonomie nicht, auch wenn der Genehmigungsbehörde nur eine beschränkte Zweckmässigkeitskontrolle zusteht (E. 8d).
 
Sachverhalt


BGE 102 Ia 430 (431):

Die Einwohnergemeinde Lostorf erliess im Jahre 1973 einen neuen Zonenplan. Darin wurde unter anderem das im Osten der Gemeinde gelegene Gebiet "Hüslimatt-Bünten" neu der Bauzone zugeteilt. Der Hauptbestandteil dieses Gebiets wird vom Grundstück Nr. 1588 gebildet, das 402,25 Aren umfasst und der aus acht Erben bestehenden Erbengemeinschaft Mollet gehört. Im Gebiet "Hüslimatt-Bünten" liegen ferner mehrere kleinere Parzellen, die vom Grundstück Nr. 1588 durch einen Flurweg getrennt sind und Samuel Eichenberger, Otto Ritschard, Franz Pfister und Viktor Annaheim gehören. Der Regierungsrat des Kantons Solothurn erteilte gewissen Einzonungen die Genehmigung, anderen verweigerte er sie, darunter auch der Einzonung des Gebiets "Hüslimatt-Bünten", weil die Bauzone der Gemeinde schon ohne die zusätzliche Erweiterung zu gross sei. Mit staatsrechtlicher Beschwerde beantragen sieben der acht Erben Mollet sowie die anderen Grundeigentümer im Gebiet "Hüslimatt-Bünten" die Aufhebung des Regierungsratsbeschlusses. Sie rügen unter anderem eine Verletzung der Eigentumsgarantie und der Gemeindeautonomie.
 
Aus den Erwägungen:
3. Nach Art. 88 OG steht das Recht zur staatsrechtlichen Beschwerde Bürgern ("Privaten") und Korporationen zu. Beschwerdefähig sind grundsätzlich nur Einzelpersonen und Personenvereinigungen mit eigener juristischer Persönlichkeit. Ebenfalls zum Rekurs zugelassen werden jedoch die Kollektiv- und die Kommanditgesellschaft, die Konkursmasse und

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die Erbengemeinschaft, obwohl ihnen die juristische Persönlichkeit fehlt (vgl. KIRCHHOFER, Über die Legitimation zum staatsrechtlichen Rekurs, ZSR 55/1936, S. 143; BIRCHMEIER, Bundesrechtspflege, S. 360; HINDEN, Die Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde, S. 123; MACHERET, La qualité pour recourir, clef de la juridiction constitutionnelle et administrative du Tribunal fédéral, in ZSR 94/1975, II, S. 151 f.).
Die Eingabe einer Erbengemeinschaft wird grundsätzlich nur dann als staatsrechtliche Beschwerde entgegengenommen, wenn sie von sämtlichen Erben - allenfalls deren Prozessvertreter - oder von einem rechtmässig bestellten Erbenvertreter, Willensvollstrecker oder Erbschaftsverwalter eingereicht worden ist, weil nur die Gesamtheit der Erben oder deren Vertreter berechtigt ist, die der Gemeinschaft zustehenden Ansprüche geltend zu machen (TUOR/PICENONI, N. 32 ff. zu Art. 602 ZGB; ESCHER, N. 58 ff. zu Art. 602 ZGB; nicht veröffentlichtes Urteil vom 15. Januar 1976 i.S. Keller und Mitbeteiligte). Aus dem gleichen Grunde kann auch die selbständige Beschwerde eines einzelnen Erben nicht entgegengenommen werden. Anders verhält es sich bei der verwaltungsgerichtlichen Beschwerde, da Art. 103 lit. a OG im Gegensatz zu Art. 88 OG für die Beschwerdebefugnis nicht voraussetzt, dass der Beschwerdeführer in einem ihm persönlich zustehenden Recht betroffen ist (BGE 97 I 697). Wegen der unterschiedlichen Umschreibung der Beschwerdevoraussetzungen lässt sich daraus für das vorliegende Verfahren jedoch nichts ableiten. Der Grundsatz gemeinsamen Handelns erleidet für die staatsrechtliche Beschwerde gleichwohl gewisse Ausnahmen. So ist in Fällen der Dringlichkeit auch ein einzelner Erbe befugt, die Interessen der Erbengemeinschaft vorläufig zu wahren (BGE 93 II 14 f.; BGE 58 II 200). Eine Ausnahme vom Grundsatz gemeinsamen Handelns wird nach der Rechtsprechung ferner dann anerkannt, wenn ein zur Erbschaft gehörender Anspruch gegenüber einzelnen Miterben von allen übrigen Erben geltend gemacht wird (vgl. dazu und zu weiteren Ausnahmen: PIOTET, in Traité de droit privé suisse, Bd. IV, S. 594 ff.).
Im vorliegenden Fall ist der Erbe Fritz Mollet nicht als Beschwerdeführer an der staatsrechtlichen Beschwerde beteiligt. Da er das bäuerliche Heimwesen übernehmen will, ist er der Meinung, die Beschwerde solle abgewiesen werden, soweit

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sie die Einzonung des Grundstücks Nr. 1588 betrifft. Nach dem eingangs erwähnten Grundsatz kann daher auf die staatsrechtliche Beschwerde der übrigen Erben Mollet nicht eingetreten werden. Es treffen auch keine der genannten Ausnahmen vom Grundsatz gemeinsamen Handelns zu. Ob allenfalls eine weitere Ausnahme anzuerkennen wäre, kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, da jedenfalls die Beschwerdeführer Eichenberger, Ritschard, Pfister und Annaheim, die nicht der Erbengemeinschaft Mollet angehören, als Grundeigentümer im Gebiet "Hüslimatt-Bünten" zur staatsrechtlichen Beschwerde legitimiert sind. Sollte die Beschwerde in bezug auf ihre Grundstücke gutgeheissen werden, so müsste dies aus planerischen Gründen zu einer Einzonung des ganzen Gebiets "Hüslimatt-Bünten" und demnach auch der Parzelle Nr. 1588 führen. Bei der Beurteilung ihrer Beschwerde sind aus dem gleichen Grunde auch die Umstände zu berücksichtigen, die für oder gegen eine Einzonung der Parzelle Nr. 1588 sprechen.
b) Der Regierungsrat hat die Einzonung des Gebiets "Hüslimatt-Bünten" zur Hauptsache deshalb nicht genehmigt, weil die Gemeinde Lostorf schon vor der Annahme des neuen Zonenplanes eine viel zu grosse Bauzone besessen habe. Eine zusätzliche Erweiterung sei in hohem Masse unzweckmässig, mit Ausnahme einiger Arrondierungen und Einzonungen, die bereits weitgehend überbautes Land beträfen. Insoweit seien lediglich die Pläne mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung gebracht worden.
In der Schweiz ist derzeit fast überall zu viel Bauland eingezont (BGE 98 Ia 377). Besitzt eine Gemeinde bereits soviel Bauland, dass es Jahrzehnte braucht, bis es überbaut ist, besteht ein erhebliches öffentliches Interesse daran, die Bauzonen zu verkleinern. Dafür sprechen gewichtige planerische Gründe, wie die Verhinderung der Streubauweise, Erwägungen des Landschaftsschutzes, Einschränkung der Infrastrukturanlagen und -kosten usw. Hat schon der Grundsatz, dass zu grosse Baugebiete nachträglich nach Möglichkeit wieder verkleinert werden sollen, in der letzten Zeit weitgehend Anerkennung gefunden, so muss es umso eher gerechtfertigt erscheinen, bei einer Zonenplanänderung zu verhüten, dass bereits übermässig grosse Bauzonen noch weiter ausgedehnt

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werden. Massnahmen, die geeignet sind, das Entstehen überdimensionierter Bauzonen zu verhindern, liegen deshalb im öffentlichen Interesse. Im Einzelfall kann das öffentliche Interesse freilich nur durchgesetzt werden, wenn es bei einer Interessenabwägung die entgegenstehenden Interessen privater Eigentümer an der ungehinderten Ausnützung ihrer Grundstücke überwiegt. Dabei hat aber das rein finanzielle Interesse der Eigentümer an einer möglichst gewinnbringenden Verwertung ihres Landes vor dem öffentlichen Interesse in der Regel zurückzutreten, und zwar umso mehr, je grösser die bereits vorhandene Bauzone ist. Andernfalls wäre eine sinnvolle Raumplanung nicht mehr möglich.
Die Beschwerdeführer bestreiten die Gültigkeit dieser Grundsätze an sich nicht. Sie halten sie aber im zu beurteilenden Zusammenhang für nicht massgebend, weil ihre Voraussetzung - eine übergrosse Einzonung - nicht gegeben sei und sich die Einzonung von "Hüslimatt-Bünten" aus planerischen oder Gründen der Rechtsgleichheit oder des Vertrauensschutzes aufdränge.
Jahr: Einwohner:
1960 1562
1970 2053
1975 1. Jan. 2274
1976 1. Jan. 2253
Der Rückgang im Jahre 1975 ist wohl auf den rezessionsbedingten Wegzug ausländischer Arbeitskräfte zurückzuführen und dürfte vermutlich nicht weiter anhalten. Bis 1. April 1976 hat die Bevölkerung wieder auf 2266 Bewohner zugenommen.


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Davon leben ca. 200 Einwohner ausserhalb der eigentlichen Bauzone in den Gebieten Mahren und "Bad Lostorf".
Das solothurnische Amt für Raumplanung anerkennt, dass Lostorf als attraktive Wohngemeinde betrachtet werden kann. Dagegen ist die Ortschaft nach Auffassung dieses Amtes als Standort für Industriebetriebe nicht in bevorzugter Lage, da das Dorf nicht in Bahnnähe und auch nicht an einer Autobahn oder Expressstrasse liegt. Diese Bewertung ist zutreffend.
b) Hinsichtlich der Grösse der Bauzone und ihres Fassungsvermögens gehen die Auffassungen der Beteiligten auseinander. (Es folgen Ausführungen über verschiedene Berechnungen.)
Welche von den drei ernsthaft ins Gewicht fallenden Berechnungen tatsächlich zutrifft, kann offen bleiben. Die von der Gemeinde im Laufe des Verfahrens erstellte Rechnung ist für die Beschwerdeführer am günstigsten. Geht man von ihr aus und schlägt man die Gebiete, deren Einzonung der Regierungsrat nicht genehmigt hat, zur Bauzone, so ergibt sich, dass das Baugebiet ungefähr für das Dreifache der bisherigen Bevölkerungszahl ausreicht. Stellt man diese Berechnung in Beziehung zur Bevölkerungsentwicklung in der Gemeinde Lostorf, so zeigt sich ungefähr folgendes Bild: In den letzten 15 Jahren (1960-1975) hat die Bevölkerung in Lostorf um rund 50% zugenommen, d.h. von rund 1562 auf 2253 Einwohner. Rechnet man mit einer gleich starken prozentualen Zunahme in den nächsten 15 Jahren, so kommt man auf rund 3400 Einwohner. Dabei ist die Annahme, die Bevölkerung in Lostorf werde in den nächsten 15 Jahren im gleichen Masse wachsen wie in den letzten 15 Jahren, wohl zu optimistisch. Immerhin muss man berücksichtigen, dass selbst beim Beharren der schweizerischen Gesamtbevölkerung auf einem niedrigeren Wachstumsgrad das Wachstum sich nicht gleichmässig auf alle Gebiete verteilen und in Lostorf wegen der guten Wohnlage möglicherweise überdurchschnittlich ausfallen wird. Eine nähere Erörterung dieser Fragen der Bevölkerungsentwicklung erübrigt sich jedoch. Im hier zu beurteilenden Zusammenhang darf davon ausgegangen werden, dass bei Einzonung der umstrittenen Gebiete eine Bauzone entstände, die aller Voraussicht nach bis Weit über das Jahr 2000 hinaus aufnahmefähig wäre. Selbst die Bauzone im bisherigen Umfang würde bis über das Jahr 2000 hinaus ausreichen. Ein

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solches Baugebiet ist bereits zu gross. Es besteht somit kein Anlass, ohne zwingende Gründe die Bauzone zu erweitern. Es liegt im öffentlichen Interesse, die bisher bestehende Bauzone nicht in einem erheblichen Masse weiter auszudehnen. Das trifft sogar dann zu, wenn man berücksichtigt, dass verschiedene, im Baugebiet gelegene Grundstücke, die zu Landwirtschaftsbetrieben gehören, in absehbarer Zukunft nicht zur Überbauung freigegeben werden, weil ihre Eigentümer sie weiter landwirtschaftlich nutzen wollen.
a) Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts steht die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung der Gemeindeautonomie grundsätzlich nur der Gemeinde selber zu. Der Private kann die Rüge einer Autonomieverletzung nicht als selbständigen Beschwerdegrund vorbringen, da - wie das Bundesgericht in BGE 72 I 25 ausgeführt hat - Beschränkungen der Gemeindeautonomie nur die Rechtsstellung der Gemeinde selber, nicht jedoch der einzelnen Gemeindegenossen berühren. Der Private ist aber befugt, eine Verletzung der Gemeindeautonomie hilfsweise geltend zu machen, d.h. zur Unterstützung einer anderweitigen Verfassungsrüge, zu deren Erhebung er legitimiert ist (BGE 100 Ia 428 ff. mit Hinweisen). Würde man, wie in der früheren Rechtsprechung, auch Private zur eigentlichen Autonomiebeschwerde zulassen, so besässen wohl einzig die stimmberechtigten Einwohner der Gemeinde die Legitimation dazu. Kann eine Autonomieverletzung von Privaten jedoch nur im Zusammenhang mit einer anderweitigen Grundrechtsverletzung gerügt werden, so ist nicht erforderlich, dass der Beschwerdeführer in der Gemeinde wohnt und dort seine politischen Rechte ausübt. Die hilfsweise Anrufung der Gemeindeautonomie ist deswegen möglich, weil für den behaupteten Eingriff in die dem Beschwerdeführer persönlich zustehenden Grundrechte die hinreichende gesetzliche Grundlage fehlt, wenn die Beschränkung unter Verletzung der Gemeindeautonomie erfolgt ist. Die hilfsweise Anrufung der Gemeindeautonomie ist deshalb immer dann zulässig, wenn der Beschwerdeführer legitimiert ist, eine Verletzung der anderweitigen verfassungsmässigen Rechte zu rügen. Diese Voraussetzung ist im hier zu beurteilenden

BGE 102 Ia 430 (437):

Fall erfüllt. Die Beschwerdeführer Eichenberger, Ritschard, Pfister und Annaheim sind als Grundeigentümer im Gebiet "Hüslimatt-Bünten" befugt, staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung der Eigentumsgarantie und des Art. 4 BV zu erheben. Sie können deshalb auch geltend machen, der Beschluss des Regierungsrates verletze die Gemeindeautonomie. Nicht massgebend ist nach dem Gesagten, dass Samuel Eichenberger und Otto Ritschard im Gegensatz zu den beiden anderen Beschwerdeführern nicht in Lostorf, sondern in Olten wohnhaft sind.
(Es folgen Ausführungen darüber, dass der Regierungsrat ohne Willkür annehmen konnte, es stehe ihm bei der Genehmigung der kommunalen Zonenpläne eine Überprüfung auf "qualifizierte Unangemessenheit" zu.)
d) Das in Lostorf ausgeschiedene Baugebiet ist nach dem in E. 5 Gesagten geeignet, den Baulandbedarf in der Gemeinde auf Jahrzehnte hinaus zu decken. Die bestehende Bauzone ist daher nach den heute allgemein anerkannten raumplanerischen Grundsätzen offensichtlich zu gross. In einem solchen Fall kann eine zusätzliche Erweiterung mit triftigen Gründen als qualifiziert unangemessen bezeichnet werden, sofern es sich dabei nicht lediglich um eine untergeordnete Abrundung des Baugebietes oder um nachträgliche Einzonungen bereits weitgehend überbauter Flächen handelt. Dies trifft beim Gebiet "Hüslimatt-Bünten" nicht zu, wie aus den Erwägungen hervorgeht, die sich mit der behaupteten Verletzung der Eigentumsgarantie und der Rechtsgleichheit befassen. Die Einzonung des Gebiets "Hüslimatt-Bünten" kann weder als blosse Abrundung des Baugebiets bezeichnet werden, noch geht es darum, eine bestehende Überbauung mit der Zonenplanung nachträglich in Übereinstimmung zu bringen. Es erweist sich daher auch die Rüge als unbegründet, der Regierungsrat habe die Autonomie der Gemeinde Lostorf verletzt, indem er die Einzonung des Gebiets "Hüslimatt-Bünten" nicht genehmigte.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.