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Urteilskopf

101 Ia 141


25. Urteil vom 21. Mai 1975 i.S. Schwery gegen Moser und Appellationshof (III. Zivilkammer) des Kantons Bern.

Regeste

Art. 59 BV. Garantie des Wohnsitzgerichtsstandes; adhäsionsweise Geltendmachung von Zivilansprüchen im Strafprozess.
1. Der einer strafbaren Handlung Beschuldigte kann sich nicht auf die Garantie des Wohnsitzgerichtsstandes berufen, wenn er in einem ausserhalb seines Wohnortskantons gegen ihn durchgeführten Strafverfahren adhäsionsweise für solche Zivilansprüche belangt wird, die auf dem gleichen Tatbestand beruhen wie die strafrechtliche Verfolgung; doch setzt die Gutheissung der Adhäsionsklage ein verurteilendes Straferkenntnis voraus (Erw. 2).
2. Heisst der Strafrichter die Zivilansprüche gegen den strafrechtlich verurteilten Angeklagten nur "dem Grundsatze nach" gut und verweist er die Parteien zur Festsetzung der Höhe dieser Leistungen an den Zivilrichter, so gilt für dieses nachfolgende Zivilverfahren, das der Geschädigte zur vollständigen Durchsetzung seiner Ansprüche anzustrengen hat, die Gerichtsstandsgarantie des Art. 59 BV (Erw. 3).
3. Ausnahme vom Grundsatz der kassatorischen Natur der staatsrechtlichen Beschwerde (Erw. 4).

Sachverhalt ab Seite 142

BGE 101 Ia 141 S. 142

A.- Art. 3 des Gesetzes über das Strafverfahren des Kantons Bern vom 20. Mai 1928 (StrV) bestimmt, dass eine im Strafprozess adhäsionsweise anhängig gemachte Zivilklage nicht mehr vor den Zivilrichter gebracht werden kann, ausgenommen bei Einstellung der Strafverfolgung wegen Todes des Angeschuldigten usw. und vorbehältlich einer anderweitigen Vereinbarung zwischen Privatkläger und Angeschuldigtem; Art. 3 Abs. 3 Ziff. 3 StrV sieht ausserdem noch folgende Ausnahme vor:
"Wenn die zur vollständigen Beurteilung der Zivilklage notwendige Beweisführung das Verfahren unverhältnismässig verlängert, kann ausnahmsweise der Strafrichter die Zivilklage nur dem Grundsatze nach beurteilen und die Parteien zur Festsetzung der Höhe des Anspruches an den Zivilrichter verweisen."

B.- Herbert Moser wurde in Leissigen (Kt. Bern) vom Hund des in Fiesch (Kt. Wallis) wohnhaften Leo Schwery gebissen und verletzt. Er reichte bei den bernischen Behörden gegen den Hundehalter Strafanzeige ein und konstituierte sich als Privatkläger. Die II. Strafkammer des bernischen Obergerichtes erklärte am 13. März 1973 als Appellationsinstanz Leo Schwery der fahrlässigen Körperverletzung schuldig und verurteilte ihn zu 30 Tagen Gefängnis, bedingt auf zwei Jahre, sowie
"gegenüber Moser Herbert zum Ersatz des durch den Hundebiss vom 14.11.1970 verursachten Schadens, sowie zu einer angemessenen Genugtuungssumme, wobei die Parteien zur Festsetzung der Höhe dieser Leistungen an den Zivilrichter verwiesen werden."
BGE 101 Ia 141 S. 143

C.- Gestützt auf dieses in Rechtskraft erwachsene Urteil reichte Moser (Wohnhaft in Thun) gegen Schwery beim Appellationshof des Kantons Bern als erster Instanz eine entsprechende Zivilklage ein. Der Beklagte berief sich auf Art. 59 BV und beantragte Rückweisung der Klage wegen örtlicher Unzuständigkeit; es sei Sache der Gerichte seines Wohnsitzkantons, d.h. des Kantons Wallis, die Höhe der Zivilansprüche festzusetzen. Der bernische Appellationshof (III. Zivilkammer) verwarf mit Entscheid vom 27. Januar 1975 diese Einrede und beschloss, auf die Klage einzutreten.

D.- Leo Schwery führt wegen Verletzung von Art. 59 BV staatsrechtliche Beschwerde.
Das Bundesgericht zieht in

Erwägungen

Erwägung:

1. Laut Art. 59 Abs. 1 BV muss der "aufrechtstehende Schuldner, welcher in der Schweiz einen festen Wohnsitz hat, für persönliche Ansprachen vor dem Richter seines Wohnortes gesucht" werden.
Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer zahlungsfähig ist und in der Schweiz, nämlich im Kanton Wallis, einen festen Wohnsitz hat; ebenso steht fest, dass es sich bei der vor dem bernischen Appellationshof gegen ihn eingeleiteten Zivilklage um eine "persönliche Ansprache" im Sinne von Art. 59 Abs. 1 BV handelt. Es kann sich nur fragen, ob die in dieser Verfassungsbestimmung enthaltene Gerichtsstandsgarantie hier deshalb eine Einschränkung erleidet, weil der streitige Zivilanspruch zuvor adhäsionsweise im Strafverfahren vor den bernischen Behörden geltend gemacht worden ist.

2. Ob und unter welchen Voraussetzungen Zivilansprüche im Strafverfahren gegen den Angeschuldigten geltend gemacht und beurteilt werden können, ist in erster Linie eine Frage des kantonalen Prozessrechtes (BGE 63 I 60 Nr. 14). Der Adhäsionsprozess ist eine Einrichtung zugunsten des durch die strafbare Handlung geschädigten Privaten; er will dem Verletzten auf möglichst einfachem und sicherem Weg die Durchsetzung seiner zivilrechtlichen Ansprüche gegen den Täter ermöglichen. Das Bundesgericht hat dieser besonderen Interessenlage bei der Auslegung von Art. 59 Abs. 1 BV Rechnung getragen und seit jeher anerkannt, dass sich der einer
BGE 101 Ia 141 S. 144
strafbaren Handlung Beschuldigte nicht auf die Garantie des Wohnsitzrichters berufen kann, wenn er in einem ausserhalb seines Kantons gegen ihn durchgeführten Strafverfahren adhäsionsweise für solche Zivilansprüche belangt wird, die auf dem gleichen Tatbestand beruhen wie die strafrechtliche Verfolgung (BGE 90 I 108; BGE 53 I 53; BGE 31 I 4; BGE 27 I 324; BGE 24 I 240f; 17 S. 64; 13 S. 386 mit Hinweisen auf noch ältere Urteile; vgl. auch BURCKHARDT, Komm. BV, 3. A. S. 549 f.). Die Ausnahme Wurde damit begründet, dass die Zivilklage in einem solchen Fall lediglich als Akzessorium der Strafklage erscheine und Art. 59 Abs. 1 BV nur die Verfolgung selbständiger Zivilansprüche im Auge habe (BGE 13 S. 386; 8 S. 691). Voraussetzung für eine Gutheissung der Adhäsionsklage gegen den nicht im Strafverfolgungskanton wohnenden Angeschuldigten ist jedoch ein verurteilendes Straferkenntnis. Wird er freigesprochen oder die Strafverfolgung gegen ihn fallen gelassen, so greift hinsichtlich der allenfalls verbleibenden Zivilansprüche Art. 59 Abs. 1 BV Platz. Der Strafrichter ist in diesem Fall nicht befugt, den in einem andern Kanton wohnenden Angeschuldigten zu Schadenersatz zu verurteilen (BGE 13 S. 386 f.; 9 S. 142; 5 S. 301). Häufig ergibt sich eine entsprechende Beschränkung der strafrichterlichen Kompetenzen schon aus dem positiven Prozessrecht; sie gilt dann auch im innerkantonalen Verhältnis.

3. Die dargelegte Rechtsprechung gibt keine unmittelbare Antwort auf die Frage, wie sich Art. 59 Abs. 1 BV auswirkt, wenn der Strafrichter den Angeklagten zwar strafrechtlich verurteilt, die adhäsionsweise erhobene Zivilklage jedoch, wie dies Art. 3 Abs. 3 Ziff. 3 bern. StrV vorsieht, "nur dem Grundsatz nach" beurteilt und die Parteien zur Festsetzung der Höhe der Leistungen an den Zivilrichter verweist.
Ob und wieweit eine derartige Aufteilung des Entscheides über die Zivilansprüche zweckmässig ist, kann dahingestellt bleiben. Sie ist jedenfalls nicht bundesrechtswidrig; auch Art. 175 Abs. 1 BStP sieht diese Möglichkeit vor (zu den Rechtswirkungen solcher Adhäsionsurteile vgl. THEODOR WEISS, Die Behandlung connexer Civil- und Strafsachen, Diss. Zürich 1893, S. 150-52). Aus der erwähnten Rechtsprechung folgt sodann, dass die grundsätzliche Gutheissung der Zivilansprüche durch den bernischen Strafrichter nicht gegen Art. 59 Abs. 1 BV verstiess. Da dieser im vorliegenden Fall sogar zu
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einer abschliessenden Beurteilung der Zivilansprüche befugt gewesen wäre, kann auch der Erlass eines blossen Grundsatzurteils im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Ziff. 3 StrV zu Art. 59 Abs. 1 BV nicht in Widerspruch stehen. Streitig ist lediglich, ob die Ausnahme von der Garantie des Wohnsitzgerichtsstandes auch für das nachfolgende Verfahren vor dem Zivilrichter gilt, in dem die Höhe der Leistungen festgesetzt wird.
Hätte der Strafrichter - was im vorliegenden Fall nach dem Wortlaut von Art. 3 StrV allerdings nicht zulässig gewesen wäre - von einer materiellen Beurteilung der Zivilansprüche überhaupt abgesehen und diese vollständig ad separatum verwiesen, so käme bei einem allfälligen Zivilprozess zwischen Geschädigtem und Angeschuldigtem, gleichgültig wie das Strafverfahren für diesen ausgegangen ist, klarerweise die Regel des Art. 59 Abs. 1 BV zum Zuge. Die Lage wäre dieselbe, wie wenn ein Strafverfahren mit adhäsionsweiser Geltendmachung der Zivilansprüche gar nicht stattgefunden hätte. Es verhält sich nicht so, dass mit der strafrechtlichen Verurteilung für die aus dem Delikt entstandenen Zivilansprüche im Strafverfolgungskanton ein neuer, vor Art. 59 Abs. 1 BV zulässiger Gerichtsstand begründet wird und der verurteilte Täter der Garantie des Wohnsitzgerichtsstandes ein für allemal verlustig geht. Nach der angeführten Rechtsprechung sind die mit einer strafbaren Handlung zusammenhängenden Zivilforderungen der Regel des Art. 59 Abs. 1 BV vielmehr nur insoweit entzogen, als sie auch ausserhalb des Wohnsitzkantons des Schuldners im Strafprozess gegen diesen adhäsionsweise geltend gemacht und, bei strafrechtlicher Verurteilung des Beschuldigten, vom Strafrichter zugesprochen werden können. Wird der Schuldner vom Geschädigten ausserhalb eines Strafprozesses, d.h. in einem Zivilverfahren belangt, findet Art. 59 Abs. 1 BV Anwendung.
Geht man aber hievon aus, so erweist sich die vorliegende Beschwerde als begründet. Das im Kanton Bern gegen den Beschwerdeführer durchgeführte Strafverfahren hat mit dem Appellationsentscheid der II. Strafkammer vom 13. März 1973, in dem auch die prinzipielle Schadenersatz- und Genugtuungspflicht des Angeklagten rechtskräftig festgestellt wurde, seinen Abschluss gefunden. Damit ist das akzessorische Verhältnis der Zivilklage zum Strafverfahren, welches allein die Ausnahme von Art. 59 Abs. 1 BV zu rechtfertigen vermochte,
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beendet worden, weshalb sich der Beschwerdeführer im nachträglichen Zivilverfahren, das der Geschädigte zur Durchsetzung seiner Ansprüche noch anzustrengen hat, auf die Garantie des Wohnsitzgerichtsstandes berufen kann (gl. M. Jean Bassegoda, L'action civile en procédure pénale bernoise, Diss. Bern 1943, S. 161). Dass dieses Zivilverfahren durch das ergangene Adhäsionsurteil des Strafrichters teilweise bereits präjudiziert ist, ändert nichts; massgebend ist, dass es sich nicht mehr um ein Adhäsionsverfahren handelt. Anders wäre die Lage, wenn der Strafrichter nach Ausfällung des Straferkenntnisses, aber noch im Rahmen des Strafprozesses nachträglich über die adhäsionsweise geltend gemachten Privatansprüche befinden würde (vgl. § 165 Abs. 3 aarg. StPO sowie PETER CONRAD, Die Adhäsion im aargauischen Strafprozess, Diss. Zürich 1972, S. 72 ff.). Dies trifft hier nicht zu. Mit der beim bernischen Appellationshof eingereichten Klage vom 19. September 1974 wurde vielmehr ein selbständiger neuer Zivilprozess eröffnet, der der Gerichtsstandsgarantie des Art. 59 Abs. 1 BV unterworfen ist.
Wohl mag es aus der Sicht des Geschädigten unbefriedigend erscheinen, dass er zur vollständigen Durchsetzung seiner privatrechtlichen Ansprüche ausserhalb des Kantons Bern im Wohnortskanton des Beschwerdeführers einen Zivilprozess einzuleiten hat. Dies ist jedoch die Folge der verfassungsmässigen Garantie des Wohnsitzgerichtsstandes, auf die sich, von bestimmten Ausnahmen abgesehen, auch der strafrechtlich verfolgte Schuldner berufen kann. Rechtlich entsteht dem Geschädigten in der Sache selber kein Nachteil. Der Walliser Zivilrichter ist an das im Strafprozess ergangene rechtskräftige Adhäsionsurteil ebenso gebunden, wie es allenfalls der bernische Zivilrichter wäre (Art. 61 BV; AUBERT, Traité de droit constitutionnel suisse, I, N. 863 ff., insbes. N. 865 und 868), und es stehen diesbezüglich dem Geschädigten die erforderlichen eidgenössischen Rechtsmittel zur Verfügung. Schliesslich ist auch der Hinweis auf die Ausführungen in BGE 31 I 402f., BGE 33 I 87 und BGE 36 I 597 unbehelflich. Es wurde hier der Grundsatz aufgestellt, dass die Anerkennung der örtlichen Zuständigkeit oder die vorbehaltlose Einlassung auf einen Prozess gegebenenfalls auch für einen anschliessenden zweiten Prozess gilt, wenn dieser lediglich als Fortsetzung des früheren Verfahrens erscheint, und Art. 59 BV daher nachträglich nicht mehr
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angerufen werden kann. Im vorliegenden Fall liegen die Verhältnisse jedoch anders. Da der bernische Strafrichter zur Beurteilung der privatrechtlichen Adhäsionsklage zum vornherein grundsätzlich zuständig war, stellte sich die Frage der stillschweigenden oder ausdrücklichen Prorogation eines von Art. 59 BV abweichenden Gerichtsstandes im Strafverfahren noch gar nicht. Es kann dem Beschwerdeführer daher nicht zum Nachteil gereichen, dass er die Einrede der örtlichen Unzuständigkeit erst erhob, als feststand, dass der bernische Strafrichter die Zivilklage nicht abschliessend beurteilt hatte, und gegen ihn vor dem bernischen Zivilrichter ein neuer Prozess eingeleitet wurde.

4. Die staatsrechtliche Beschwerde ist somit gutzuheissen. Der Beschwerdeführer verlangt nicht nur die Aufhebung des angefochtenen Entscheides, sondern auch die ausdrückliche Feststellung, dass die Walliser Gerichte an seinem Wohnsitz zur Beurteilung der Streitsache zuständig seien. Ein derartiges Feststellungsbegehren ist bei einer Beschwerde wegen Verletzung von Art. 59 BV zulässig (BGE 93 I 326, BGE 91 I 13). Es kann jedoch nur dahin lauten, dass die Zuständigkeit des bernischen Zivilrichters, vor dem der Beschwerdeführer in Verletzung von Art. 59 BV belangt werden soll, verneint wird.

Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Beschluss der III. Zivilkammer des bernischen Appellationshofes vom 27. Januar 1975 aufgehoben; es wird festgestellt, dass die bernischen Zivilgerichte zur Behandlung der Zivilklage des Beschwerdegegners gegen den Beschwerdeführer nicht zuständig sind.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3 4

Dispositiv

Referenzen

BGE: 90 I 108, 93 I 326, 91 I 13

Artikel: Art. 59 Abs. 1 BV, Art. 59 BV, Art. 175 Abs. 1 BStP, Art. 61 BV