BGE 98 Ia 135
 
19. Urteil vom 23. Februar 1972 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft und Kantonsgerichtsausschuss des Kantons Graubünden.
 
Regeste
Art. 4 BV; kantonales Strafprozessrecht, Fristenlauf.
 
Sachverhalt


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Aus dem Tatbestand:
X., Zürich, wurde vom Kreisgerichtsausschuss Oberhalbstein mit Urteil vom 23. April 1971 wegen grober Verletzung von Verkehresregeln zu einer Busse von Fr. 350.-- verurteilt. Das Urteil wurde am 16. Juni 1971 versandt. Am 18. Juni 1971 traf es bei der Post Waldgarten 8062 ein, wo X. es am 23. Juni 1971 abholte. Am 9. Juli 1971 legte er Berufung ein. Der Kantonsgerichtsausschuss Graubünden trat jedoch mit Entscheid vom

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4. August 1971 auf die Berufung wegen Verspätung nicht ein, da seines Erachtens die 20-tägige Berufungsfrist bereits am 18. Juni 1971, dem Tage, an dem das Urteil bei normaler Postabwicklung X. spätestens erreicht hätte, zu laufen begann. X. hat dagegen staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV erhoben mit dem Antrag, den angefochtenen Entscheid aufzuheben.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Die Zustellung eingeschriebener Sendungen richtet sich nach den Vorschriften der Vollzugsverordnung I zum Postverkehrsgesetz vom 1. September 1967 (VV zum PVG) (AS 1967 S. 1457). Ist bei der Zustellung von eingeschriebenen Sendungen kein Bezugsberechtigter anzutreffen, so wird der Zustellversuch auf der Sendung vermerkt und eine Abholungseinladung mit Fristangabe hinterlassen; wird die Sendung innert sieben Tagen nicht abgeholt, gilt sie als unzustellbar (Art. 157 und 169 Abs. 1 lit. d VV zum PVG). Das Bundesgericht hat daraus stets geschlossen, dass eine eingeschriebene Sendung erst dann als zugestellt gilt, wenn sie innert Frist tatsächlich abgeholt wird (BGE 97 I 98,BGE 78 I 129je mit Verweisungen), dies allerdings im Zusammenhang mit bundesrechtlichen Fristen. Die Auffassung des KGA, die Zustellung gelte an dem Tage als erfolgt, an welchem sie erfolgt wäre, wenn der Briefträger den Adressaten an dessen Domizil angetroffen hätte, ist jedoch auch im Rahmen des bündnerischen Strafprozessrechts nicht haltbar.
2. Dass die Rechtsmittelfristen erst von der Zustellung des schriftlichen Urteils an zu laufen beginnen (Art. 128 Abs. 2 StPO), hat seinen Sinn im Anspruch auf rechtliches Gehör. Nach Art. 142 StPO ist die Berufung zu begründen. Um den Anforderungen dieser Vorschrift genügen zu können, muss der Betroffene die Gründe des anzufechtenden Urteils kennen. Von

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dem ihm von Gesetzes wegen zustehenden Rechtsmittel der Berufung kann er somit nur dann gehörig Gebrauch machen, wenn er das schriftliche Urteil tatsächlich erhalten hat. Darum sieht die Strafprozessordnung auch die Zustellung durch eingeschriebene Postsendung vor, welche entweder dem Adressaten oder einem Bezugsberechtigten tatsächlich ausgehändigt wird oder dann eben als unzustellbar zurückgeht (Art. 157 und 169 Abs. 1 lit. d VV zum PVG). Ist die Übermittlung durch die Post nicht möglich, so ist nach der Vorschrift von Art. 64 Satz 2 StPO die Urkunde der Kantonspolizei zu übergeben, welche die Zustellung gegen Empfangsbestätigung besorgt. Das bedeutet, dass das schriftliche Urteil so lange nicht als zugestellt gelten kann, als es dem Betroffenen nicht tatsächlich ausgehändigt worden ist. Würde ungeachtet der tatsächlichen Inempfangnahme des Urteils die Rechtsmittelfrist bereits mit dem Zustellversuch des Briefträgers ausgelöst, so hätte die polizeiliche Zustellung wohl wenig Sinn mehr.
Die vom KGA vertretene Auffassung steht auch nicht im Einklang mit den massgebenden Vorschriften über den Postverkehr, denen der Kanton sich unterstellt, wenn er die Gerichtsurkunden durch die Post übermitteln lässt. Denn wenn auf der Abholungseinladung dem Adressaten mitgeteilt wird, dass er die eingeschriebene Sendung innert sieben Tagen auf der Post abholen kann, andernfalls sie als unzustellbar zurückgeht, so heisst das, dass die Sendung nur als zugestellt gilt, wenn er sie entgegennimmt.
Wer die Rechtsmittelfrist zu berechnen hat, kann sich somit weder auf den Wortlaut der Strafprozessordnung noch auf die Vorschriften über den Postverkehr verlassen, was jedenfalls für denjenigen, der ausserhalb des Kantons wohnt und von dem nicht verlangt werden kann, dass er mit der Praxis der Bündner Behörden zur Strafprozessordnung vertraut ist, stossend wirkt.
Vor allem aber wird dem Betroffenen die Rechtsmittelfrist, die schon zu laufen beginnt, bevor er den anzufechtenden Entscheid in Händen hat, verkürzt, oder sie kann sogar ablaufen, ohne dass er darum gewusst und Gelegenheit zu deren Nutzung gehabt hätte. Darin liegt eine Beschränkung des mit dem Rechtsmittel eingeräumten Anspruchs auf Rechtswahrung, die offensichtlich gegen die der Sicherung des rechtlichen Gehörs dienenden kantonalen Prozessvorschriften verstösst, darüberhinaus aber auch den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt,

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wie ihn unmittelbar Art. 4 BV gewährleistet (BGE 96 I 36, BGE 96 I 21). Die Annahme, dass schon der Zustellversuch die Rechtsmittelfrist auslöse, liesse sich mit Art. 4 BV nur im Falle einer Annahmeverweigerung vereinbaren oder allenfalls dann, wenn vom Betroffenen nach den Umständen hätte verlangt werden können, dass er eine längere Ortsabwesenheit der Poststelle oder der Behörde, deren Entscheid er erwartet, melde (vgl.BGE 78 I 129). Im Falle des Beschwerdeführers, der sich nach seiner unwiderlegten Darstellung nur kurze Zeit geschäftlich im Ausland aufhielt, kann nicht die Rede davon sein, dass er eine solche Einschränkung seines gesetzlichen Anspruchs auf gehörige Rechtswahrung auf sich zu nehmen habe.
4. Auch mit dem Hinweis auf das Interesse der Rechtssicherheit lässt sich die Auffassung des KGA nicht halten. Das Strafurteil zeitigt kaum Wirkungen, die über die Person des Verurteilten und einiger weiterer Betroffener hinausgehen. Mithin bleibt auch das Interesse an der Rechtskraft des Urteils vornehmlich auf diesen Personenkreis beschränkt. Demgegenüber ist das Interesse daran, dass der durch das Urteil in seiner Rechtsstellung Betroffene, wie insbesondere der Verurteilte, seinen Anspruch auf rechtliches Gehör wahrnehmen kann, von elementarer Bedeutung. Im übrigen ist kaum einzusehen, inwiefern ein Abstellen auf die tatsächliche Inempfangnahme des Entscheides die Rechtssicherheit gefährden sollte; es fragt sich vielmehr, ob nicht Unsicherheit geschaffen wird, wenn der Entscheid bei der effektiven Aushändigung bereits seit einiger Zeit als zugestellt gilt.
Zwar anerkennt auch die bisherige bundesgerichtliche Rechtsprechung - mit Rücksicht auf die Rechtssicherheit - ein

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fingiertes Zustelldatum, indem die eingeschriebene Sendung, die innert Frist auf der Post nicht abgeholt wird, mit dem letzten Tag der Abholfrist als zugestellt gilt. Für denjenigen, der die Sendung innert dieser siebentägigen Frist nicht abholen kann, was bei den heutigen Verhältnissen nicht ungewöhnlich ist, ergeben sich daraus die gleichen Konsequenzen, wie wenn die Sendung schon mit dem Tage des Zustellversuches als zugestellt zu betrachten wäre. Ob nach dem Gesagten an dieser Rechtsprechung festgehalten werden kann, steht hier jedoch nicht in Frage, da der Beschwerdeführer die Sendung innert Frist auf der Post geholt hat.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen und das Urteil des Kantonsgerichtsausschusses von Graubünden vom 4. August 1971 aufgehoben.