BGer 9C_531/2017
 
BGer 9C_531/2017 vom 15.09.2017
9C_531/2017, 9C_532/2017
 
Urteil vom 15. September 2017
 
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichterin Glanzmann, Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiber Fessler.
 
Verfahrensbeteiligte
Bundesamt für Sozialversicherungen, Effingerstrasse 20, 3003 Bern 3,
Beschwerdeführer,
gegen
9C_531/2017
Medizinische Begutachtungsstelle A.________,
Beschwerdegegner,
und
9C_532/2017
Medizinische Begutachtungsstelle B.________,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerden gegen die Zwischenentscheide des Schiedsgerichts in Sozialversicherungssachen des Kantons Basel-Stadt vom 19. Juli 2017.
 
Sachverhalt:
A. Seit dem 4. April 2012 besteht zwischen dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) und den Medizinischen Begutachtungsstellen A.________ und B.________ eine Vereinbarung über die "Durchführung von polydisziplinären Gutachten zur Beurteilung von Leistungsansprüchen in der Invalidenversicherung (gestützt auf Art. 72bis IVV) ". Beide Gutachterstellen lassen seit Jahren ihre neuropsychologischen Teilgutachten durch C.________, Fachpsychologe für Psychotherapie FSP, erstellen.
Mit Schreiben vom 22. Februar 2017 informierte das BSV die Gutachterstellen darüber, dass die bisher geltenden Mindestanforderungen (Masterabschluss in Psychologie) für Begutachtungen in Neuropsychologie nicht mehr genügten. Entsprechend dem neuen auf den 1. Juli 2017 in Kraft tretenden Art. 50b der Verordnung über die Krankenversicherung gälten ab diesem Zeitpunkt für neuropsychologische Begutachtungen im Rahmen polydisziplinärer Gutachten, welche über die webbasierte Plattform SuisseMED@P vergeben würden, folgende fachliche Mindestanforderungen:
a. Eidgenössisch anerkannter Abschluss in Psychologie und privatrechtlicher Fachtitel in Neuropsychologie der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen FSP oder
b. Eine gemäss Tarifvertrag zwischen H+ und SVNP sowie BSV (IV), MTK (UVG) und BAMV (MV) vom Dezember 2003 zugelassene äquivalente Aus- und Weiterbildung oder
c. Eidgenössisch anerkannter Abschluss in Psychologie und ein eidgenössischer oder als gleichwertig anerkannter Weiterbildungstitel in Neuropsychologie gemäss dem Psychologieberufegesetz (der Erwerb des eidgenössischen Weiterbildungstitels wird erst mit der Akkreditierung des Weiterbildungsgangs möglich sein).
B. Am 26. bzw. 28. Juni 2017 reichten die Medizinischen Begutachtungsstellen A.________ und B.________ beim Schiedsgericht in Sozialversicherungssachen des Kantons Basel-Stadt ein Gesuch um vorsorgliche Massnahmen ein, wonach das BSV zu verpflichten sei, ihnen über den 30. Juni 2017 hinaus, vorläufig und bis auf Weiteres zu ermöglichen, die über die webbasierte Plattform SuisseMED@P vergebenen Gutachten mit Neuropsychologinnen und Neuropsychologen zu erstellen, welche die bis anhin geltenden fachlichen Anforderungen erfüllen und/oder deren Äquivalenzprüfung noch nicht erfolgt oder rechtskräftig abgeschlossen ist. Der Gesuchsgegner liess sich in abweisendem Sinne vernehmen.
Mit zwei Zwischenentscheiden vom 19. Juli 2017 erkannte das Schiedsgericht in Sozialversicherungssachen des Kantons Basel-Stadt Folgendes:
1. Das BSV wird verpflichtet, der Gesuchstellerin zu ermöglichen, weiterhin über die webbasierte Plattform SuisseMED@P vergebenen Gutachten mit Herrn C.________ zu erstellen.
2. Diese Massnahme wird befristet, vorerst bis zum 21. August 2017.
3. Die Gesuchstellerin muss bis zum 21. August 2017(nicht verlängerbar) eine Klage einreichen.
4. (...).
C. Das BSV führt gegen beide Entscheide Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Verfahren 9C_531/2017 und   9C_532/2017) mit den Rechtsbegehren:
1. Der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
2. Die Beschwerde sei gutzuheissen und die Dispositiv-Ziffern 1 und 2 des Entscheides des Schiedsgerichts in Sozialversicherungssachen des Kantons Basel-Stadt vom 19. Juli 2017 seien aufzuheben.
D. Die Medizinischen Begutachtungsstellen A.________ und B.________ haben am 18. bzw. 21. August 2017 Klage beim Schiedsgericht in Sozialversicherungssachen des Kantons Basel-Stadt eingereicht mit dem hauptsächlichen Rechtsbegehren, das BSV sei zu verpflichten, ihnen über den 30. Juni 2017 hinaus zu ermöglichen, über die webbasierte Plattform SuisseMED@P vergebenen Gutachten mit Herrn C.________, Neuropsychologe, zu erstellen, solange die von diesem geforderte Äquivalenzprüfung noch nicht erfolgt und rechtskräftig abgeschlossen sei.
Am 23. August 2017 hat das Schiedsgericht in Sozialversicherungssachen des Kantons Basel-Stadt u.a. verfügt, es sei vorgesehen, die mit Zwischenentscheid vom 19. Juli 2017 erlassene vorsorgliche Massnahme zu verlängern bis das Bundesgericht weitere Anordnungen getroffen habe, wozu sich die Parteien bis zum 4. September 2017 äussern könnten.
 
Erwägungen:
1. Die beiden Beschwerden richten sich gegen inhaltlich gleich lautende Entscheide derselben Vorinstanz. Rechtsbegehren und Begründung sind identisch. Es rechtfertigt sich daher, die Verfahren 9C_531/2017 und 9C_532/2017 zu vereinigen und in einem einzigen Urteil zu erledigen (vgl. Art. 24 BZP i.V.m. Art. 71 BGG).
Auf die Durchführung eines Schriftenwechsels kann verzichtet werden, da die Vorbringen der gegnerischen Gutachterstellen in ihren Klagen vom 18. und 21. August 2017 in diesem Verfahren berücksichtigt werden können (Art. 102 Abs. 1 BGG).
2. In Bezug auf die von Amtes wegen zu prüfenden formellen Gültigkeitserfordernisse des vorangegangenen Verfahrens (BGE 136 V 7 E. 2  S. 9) ist Folgendes festzuhalten:
2.1. Die Vorinstanz hat ihre Zuständigkeit (in der Hauptsache) - im Sinne der freiwillige Übernahme des Verfahrens - aufgrund von Art. 6 lit. d der Vereinbarungen vom 4. April 2012 betreffend die Durchführung von polydisziplinären medizinischen Gutachten nach Art. 72bis IVV bejaht. Danach werden Streitigkeiten zwischen den Parteien durch das zuständige kantonale Schiedsgericht am Geschäftssitz der Trägerschaft der Gutachterstelle nach Artikel 27bis IVG erledigt. Diese Bestimmung ist nach Wortlaut, Gesetzessystematik sowie Sinn und Zweck zwar für Streitigkeiten zwischen Versicherung und Leistungserbringer im Bereich Eingliederungsmassnahmen gedacht, wie die Vorinstanz zutreffend erkannt hat (vgl. auch Botschaft vom 21. Februar 2001 über die 4. Revision des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung, BBl 2001 3205 ff., 3224 und 3261 ff.). Das allein schliesst indessen die Zuständigkeit kantonaler Schiedsgerichte nach Art. 27bis IVG zum Entscheid von Streitigkeiten aus der erwähnten Vereinbarung vom 4. April 2012 nicht aus. Die Frage braucht jedoch mit Blick auf den Ausgang des Verfahrens nicht abschliessend beurteilt zu werden. Ebenfalls kann offenbleiben, ob fachliche (Mindest-) Anforderungen an Sachverständige, welche als Neuropsychologen an polydisziplinären medizinischen Gutachten nach Art. 72bis IVV mitwirken, nicht wie im Bereich der Krankenversicherung (vgl. Art. 50b KVV) in der Verordnung selber enthalten sein sollten.
Anzufügen bleibt, dass sich aus der Zuständigkeit des kantonalen Schiedsgerichts nach Art. 27bis IVG die Beschwerdeberechtigung des BSV nach Art. 89ter Abs. 2 IVV i.V.m. Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG ergibt.
2.2. Die angefochtenen Zwischenentscheide stützen sich auf § 7 und § 22 Abs. 1 des Gesetzes vom 9. Mai 2001 über das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt und über das Schiedsgericht in Sozialversicherungssachen (Sozialversicherungsgerichtsgesetz, SVGG; SG 154.200). Danach trifft die Instruktionsrichterin oder der Instruktionsrichter auf Antrag oder von sich aus die erforderlichen vorsorglichen Massnahmen. Die streitige Anordnung ist unter die Resolutivbedingung der rechtzeitigen Einreichung einer Klage gestellt. Das BSV rügt dies als bundesrechtswidrig. Zur Begründung weist es auf § 2 Abs. 1 SVGG hin, woraus sich die Anwendbarkeit von Art. 56 VwVG und daraus die Unzulässigkeit der Anordnung vorsorglicher Massnahmen vor Einreichung einer Klage ergebe. Dabei übersieht das Bundesamt, dass § 2 Abs. 1 SVGG im schiedsgerichtlichen Verfahren gerade nicht anwendbar ist (vgl. § 22 Abs. 2 SVGG). Eine andere Bestimmung, welche vorsorgliche Massnahmen vor Rechtshängigkeit der Klage in der Hauptsache ausschlösse, nennt es im Übrigen nicht (vgl. zur Regelung im Zivilprozess Art. 263 ZPO und Johann Zürcher, in: Schweizerische Zivilprozessordnung (ZPO), Brunner/Gasser/ Schwander (Hrsg.), 2. Aufl. 2016, N. 1 zu Art. 263 ZPO; ferner zur eingeschränkten Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichts in Bezug auf die Anwendung kantonalen Verfahrensrechts BGE 138 I 143 E. 2 S. 149 f. mit Hinweisen).
3. Das BSV bringt vor, mit dem Entscheid über vorsorgliche Massnahmen werde "ohne weiteres" der Entscheid in der Hauptsache vorweggenommen. Letztlich gehe es "einzig und allein um die Frage, ob eine Gutachterstelle auch nach dem 1. Juli 2017 noch einen neuropsychologischen Gutachter einsetzen kann, der nicht über die aktuell erforderlichen fachlichen Voraussetzungen verfügt". Soweit das Bundesamt damit den vorsorgliche Massnahmen-Charakter der streitigen schiedsgerichtlichen Anordnung in Frage stellen will, kann dem nicht beigepflichtet werden. Gemäss dem Eventualbegehren und der Begründung in den Klagen vom 18. und 21. August 2017 bestreiten die am Recht stehenden Gutachterstellen u.a. auch die Formgültigkeit und den Zeitpunkt des Inkrafttretens der (einseitigen) Änderung der Vereinbarung vom 4. April 2012. Die zugesprochene vorsorgliche Massnahme will den bisherigen Rechtszustand längstens bis zum rechtskräftigen Entscheid in der Hauptsache aufrechterhalten.
 
4.
4.1. Die angefochtenen schiedsgerichtlichen Entscheide sind selbständig eröffnete, das Verfahren nicht abschliessende Zwischenentscheide nach Art. 93 BGG. Die dagegen gerichteten Beschwerden sind nach Abs. 1 dieser Bestimmung somit zulässig, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können (lit. a) oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (lit. b). Aufgrund des in E. 3 hiervor Gesagten fällt der zweite Tatbestand ausser Betracht. Im Weitern muss der nicht wieder gutzumachende Nachteil im Sinne von  Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG rechtlicher Natur sein und darf auch durch einen für die Beschwerde führende Partei günstigen Endentscheid nicht mehr gänzlich behoben werden können (BGE 141 V 191 E. 1   S. 193; Urteil 4A_221/2007 vom 20. November 2007 E. 3.1 mit Hinweisen).
4.2. Das BSV bringt vor, bei einem Nichteintreten auf die Beschwerde sei die Invalidenversicherung gezwungen, polydisziplinäre Begutachtungen durchzuführen, bei welchen für das Fachgebiet Neuropsychologie eine Person tätig sei, die aktuell nicht über die erforderlichen fachlichen Voraussetzungen verfüge. Die betreffenden Expertisen würden von vielen kantonalen Versicherungsgerichten nicht als beweistauglich eingestuft. Die Folge wäre, dass ein neues Gutachten, allenfalls ein Gerichtsgutachten einzuholen wäre, was zu zusätzlichen (unnötigen und erheblichen) Kosten für die Versicherung führte. Diese Kosten seien von niemandem rückzuerstatten, sodass ihr ein nicht wieder gutzumachender Nachteil verbleibe. Ebenso werde die versicherte Person durch eine weitere Begutachtung unnötigerweise belastet. Sodann würden seine Bemühungen zur Sicherstellung der Qualität in der medizinischen Begutachtung unterlaufen. Schliesslich könne auch die Reputation der Invalidenversicherung Schaden nehmen.
4.3. Die seit 1. Juli 2017 vom BSV geforderten neuen fachlichen (Mindest-) Anforderungen an Sachverständige, die als Neuropsychologen an polydisziplinären medizinischen Gutachten nach Art. 72bis IVV mitwirken, bedeuten eine Änderung der Vereinbarung vom 4. April 2012. Sie erfolgte gemäss BSV in Nachvollzug des am 1. Juli 2017 in Kraft getretenen Art. 50b KVV, um die gleichen Qualitätsanforderungen auch in der Invalidenversicherung sicherzustellen. Diese Bestimmung sagt, was Neuropsychologen und Neuropsychologinnen, die auf Anordnung oder im Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin Leistungen erbringen (Art. 25 Abs. 2 lit. a Ziff. 3 und Art. 35 Abs. 2 lit. e KVG), nachzuweisen haben, um zur Tätigkeit zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zugelassen zu sein (Art. 46 Abs. 1 lit. f KVV, in Kraft seit 1. Juli 2017, i.V.m. Art. 38 KVG). Dabei handelt es sich um Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und deren Folgen dienen (Art. 25 Abs. 1 KVG).
Demgegenüber geht es hier um Begutachtung. Es kommt dazu, dass der neue Art. 50b KVV keine Verschärfung der Zulassungsbedingungen für Neuropsychologen und Neuropsychologinnen bringt. Im Gegenteil waren alle Angehörigen dieser Berufsgruppe, und zwar unabhängig von ihrer Qualifikation, bis Ende Juni 2017 überhaupt nicht zur (delegierten) Tätigkeit zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung berechtigt. Entgegen der Auffassung des BSV lässt sich daher auch nicht sagen, die Zulassungsbedingungen in Art. 50b KVV müssten von Gesetzes wegen zwingend auf den Zeitpunkt seines Inkrafttretens in der IV-Begutachtungspraxis übernommen werden.
Im Weitern ist unbestritten, dass der von den Gutachterstellen bisher als neuropsychologischer Experte eingesetzte C.________ als Fachpsychologe für Psychotherapie FSP die hierfür erforderlichen Voraussetzungen gemäss der Vereinbarung vom 4. April 2012 bis zu deren Änderung zum 1. Juli 2017 erfüllte. Er ist zudem Absolvent des Gutachterkurses SIM in Neuropsychologie. Das BSV stellt seine Fähigkeit und Eignung als neuropsychologischer Sachverständiger nach Art. 44 ATSG grundsätzlich nicht in Frage. Unter diesen Umständen kann jedenfalls für die Dauer der vorsorglichen Massnahme dem Risiko, kantonale Versicherungsgerichte könnten polydisziplinäre medizinische Gutachten, bei denen C.________ mitgewirkt hat, als beweisuntauglich einstufen, weil er (noch) nicht über die aktuell erforderlichen fachlichen Voraussetzungen verfüge, keine entscheidende Bedeutung beigemessen werden.
4.4. Nach dem Gesagten ist ein nicht wieder gutzumachender Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zu verneinen und demzufolge die Beschwerde unzulässig. Bei diesem Ergebnis braucht auf die Verfassungsrügen des BSV nicht eingegangen zu werden (Art. 98 BGG; Urteile 9C_38/2017 vom 21. März 2017 E. 1.1 und 2C_598/2012 vom 21. November 2012 E. 1.3).
5. Mit dem Entscheid in der Sache ist die Frage der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde gegenstandslos.
6. Das unterliegende Bundesamt hat keine Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 4 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Auf die Beschwerden wird nicht eingetreten.
2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Schiedsgericht in Sozialversicherungssachen des Kantons Basel-Stadt schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 15. September 2017
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Pfiffner
Der Gerichtsschreiber: Fessler