BGer 6B_1114/2016
 
BGer 6B_1114/2016 vom 21.04.2017
6B_1114/2016
 
Urteil vom 21. April 2017
 
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichter Rüedi,
Bundesrichterin Jametti,
Gerichtsschreiber Traub.
 
Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Yetkin Geçer,
Beschwerdeführer,
gegen
1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8090 Zürich,
2. A.________,
Beschwerdegegnerinnen.
Gegenstand
Einstellungsverfügung (Ehrverletzung, Beschimpfung),
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, III. Strafkammer, vom 25. August 2016.
 
Sachverhalt:
A. X.________ erstattete am 6. November 2015 bei der Staatsanwaltschaft Baden Strafanzeige gegen mehr als 60 Facebook-Nutzer wegen Drohung, Anstiftung zu Körperverletzung bzw. Mord, Ehrverletzung, übler Nachrede und Beschimpfung. Gleichzeitig konstituierte er sich als Privatkläger. Unter den Angezeigten befindet sich A.________.
Mit Verfügung vom 21. Juni 2016 stellte die Staatsanwaltschaft Winterthur / Unterland das Strafverfahren gegen A.________ betreffend Beschimpfung gestützt auf Art. 177 Abs. 2 StGB (Provokation) ein und auferlegte ihr die Verfahrenskosten.
B. Gegen diesen Einstellungsbeschluss erhob X.________ beim Obergericht des Kantons Zürich Beschwerde mit dem Antrag, die Sache sei an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen, damit diese ergänzende Ermittlungen unter Beteiligung der Privatklägerschaft tätige. Das Obergericht wies die Beschwerde ab (Beschluss vom 25. August 2016).
Dem angefochtenen Beschluss liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Am 12. September 2015 fanden in Bern eine Demonstration von türkischen und eine Gegendemonstration von kurdischen Aktivisten statt. X.________, der sich seinen Angaben zufolge bedroht fühlte, überfuhr mit seinem Auto mehrere Gegendemonstranten. Filmaufnahmen dieses Geschehens wurden auf die Videoplattform YouTube hochgeladen und im sozialen Netzwerk Facebook heftig diskutiert. A.________ kommentierte den Vorgang in einem Facebook-Eintrag mit den Worten "2te hurensohn des jahres ncnc".
C. X.________ führt gegen den Beschluss vom 25. August 2016 Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, die Sache sei, unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, an das Obergericht zurückzuweisen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege.
 
Erwägungen:
1. Die Privatklägerschaft ist zur Beschwerde in Strafsachen berechtigt, wenn der angefochtene Entscheid sich auf die Beurteilung ihrer Zivilansprüche - namentlich Schadenersatz und Genugtuung (Art. 41 ff. OR) - auswirken kann (Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG). Der Beschwerdeführer, der sich mit seiner Strafanzeige gegen A.________ als Privatkläger konstituiert hat (Art. 118 Abs. 1 StPO), macht keine Angaben darüber, inwiefern sich der angefochtene Entscheid auf seine zivilrechtlichen Forderungen auswirken könnte. Damit fehlt es ihm an der Beschwerdelegitimation in der Sache. Jedoch kann die Privatklägerschaft auch bei fehlender Beschwerdebefugnis in der Sache selbst eine Verletzung von Verfahrensrechten geltend machen, wenn deren Missachtung eine formelle Rechtsverweigerung darstellte. Das nach Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG erforderliche rechtlich geschützte Interesse ergibt sich dann aus der Berechtigung, am Verfahren teilzunehmen. Rügen formeller Natur sind indessen nur zulässig, wenn sie von der materiellen Prüfung getrennt werden können. Nicht zu hören sind Rügen, die im Ergebnis auf eine materielle Überprüfung des angefochtenen Entscheids abzielen (BGE 141 IV 1 E. 1.1 S. 5; 138 IV 248 E. 2 S. 250).
2. Der Beschwerdeführer rügt, die vorinstanzliche Bestätigung der Einstellungsverfügung verletze seine Parteirechte. Die Staatsanwaltschaft habe seine Teilnahmebefugnisse im Zusammenhang mit der Einvernahme der Beschuldigten A.________ in doppelter Hinsicht missachtet.
2.1. Zum einen macht der Beschwerdeführer geltend, bei Einstellung des Verfahrens am 21. Juni 2016 sei die in der Ankündigung des Verfahrensabschlusses am 10. Juni 2016 gesetzte behördliche Frist für allfällige Beweisanträge (Art. 318 Abs. 1 zweiter Satz StPO) noch nicht abgelaufen gewesen. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers wurde ihm jedoch nicht eine zehntägige Frist ab Empfang dieser Mitteilung gesetzt; die Staatsanwaltschaft hat vielmehr den Endtermin 20. Juni 2016 festgelegt. Nach Angaben des Beschwerdeführers ging ihm das Schreiben vom 10. Juni am 13. Juni 2016 zu. Damit verblieb ihm eine Reaktionszeit von sieben Tagen für seine auf elektronischem Weg erfolgende Eingabe an die Staatsanwaltschaft. Eine solche Frist ist - jedenfalls für einfachere Fälle - nicht von vornherein zu kurz (vgl. etwa Urteil 6B_1247/2015 vom 15. April 2016 E. 2.3), zumal die Frist verlängerbar ist (Art. 92 StPO). Der Umstand, dass ihm die Akten auf sein Gesuch hin erst am 17. Juni 2016 zugegangen sind, ändert daran nichts, stand für den Beschwerdeführer doch im Vordergrund, eine Wiederholung der Einvernahme zu erreichen. Ohnehin können Beweisanträge nach Bedarf auch noch im Beschwerdeverfahren (Art. 393 ff. StPO) vorgebracht resp. spezifiziert werden (vgl. Silvia Steiner, in: Basler Kommentar zur Strafprozessordnung [StPO], Niggli et al. [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 7 f. zu Art. 318 StPO).
Die Beweisanträge des Beschwerdeführers datieren vom 22. Juni 2016, also zwei Tage nach Ende der gesetzten Frist. Mithin ist die Vorinstanz zu Recht davon ausgegangen, die Eingabe sei verspätet gewesen. Entsprechend hat die Staatsanwaltschaft die Einstellungsverfügung nicht verfrüht erlassen und es dem Beschwerdeführer dadurch verunmöglicht, die betreffenden Verfahrensrechte wirksam wahrzunehmen.
2.2. Zum andern rügt der Beschwerdeführer, dass er nicht zur Einvernahme der Beschuldigten vom 10. Juni 2016 geladen worden ist, um bei dieser Gelegenheit seine Frage- und weiteren Teilnahmerechte (Art. 147 StPO) wahrzunehmen.
2.2.1. Die Staatsanwaltschaft hatte die Nichtvorladung des Beschwerdeführers und seines Rechtsvertreters unter anderem damit begründet, vor der Einvernahme der Beschuldigten sei noch nicht klar gewesen, ob sie die Verfasserin des Facebook-Eintrags gewesen sei. Als zusätzlichen Grund führt die Vorinstanz an, vor der Befragung der Beschuldigten sei auch nicht auszuschliessen gewesen, dass der Beschwerdeführer später - im Hinblick auf die Klärung der Frage, in welchem Verhältnis er zur Beschuldigten stehe - noch als Zeuge oder Auskunftsperson zu befragen sein würde. Nach Art. 146 Abs. 4 lit. b StPO dürfe eine Person aus diesem Grund vorübergehend von einer Verhandlung und damit auch von einer Einvernahme ausgeschlossen werden. Mit der Zustellung des Einvernahmeprotokolls und dem Ansetzen einer Frist für allfällige Beweisanträge (Art. 318 Abs. 1 StPO) habe die Staatsanwaltschaft dem Beschwerdeführer die Möglichkeit eröffnet, eine Wiederholung der Beweiserhebung im Sinne von Art. 147 Abs. 3 StPO zu beantragen (vgl. Daniel Häring, in: Basler Kommentar zur StPO, N. 24 zu Art. 146 StPO). Nach der Rechtsprechung ist eine vorläufige Beschränkung der Parteiöffentlichkeit vor der ersten staatsanwaltlichen Einvernahme der beschuldigten Person unter anderem dann zulässig, wenn der Betroffene noch als Gewährsperson einzuvernehmen sein wird (BGE 139 IV 25 E. 5.5.1 S. 35).
Der Beschwerdeführer macht geltend, aus den Akten gehe hervor, dass er weder die Beschuldigte noch die anderen Kommentatoren kenne. Daher könne das Vorgehen der Staatsanwaltschaft nicht durch den Einvernahmevorbehalt von Art. 146 Abs. 4 lit. b StPO gerechtfertigt werden. In der Tat ist nicht klar, ob das Vorgehen der Staatsanwaltschaft gemäss dieser Bestimmung nach dem damaligen Kenntnisstand begründet gewesen ist. Die Frage kann aber mit Blick auf das Folgende dahingestellt bleiben.
2.2.2. Die Voraussetzungen, unter denen das Bundesgericht auf die Beschwerde betreffend eine Verfahrenseinstellung eintritt, wenn die Privatklägerschaft Verfahrensrechtsverletzungen rügt (oben E. 1), tragen der sog. formellen Natur des rechtlichen Gehörs und anderer Beteiligungsrechte Rechnung. Danach kommt es auf die materielle Begründetheit des Rechtsmittels nicht an (BGE 137 I 195 E. 2.2 S. 197). Insofern spielt die hypothetische Auswirkung des (als ausgeübt gedachten) Verfahrensrechts auf das Beweisergebnis, dessen rechtliche Würdigung und letztlich auf die Entscheidung als solche keine Rolle. Sind wesentliche Verfahrensgarantien missachtet worden, ist der Entscheid grundsätzlich unabhängig von solchen Überlegungen aufzuheben und die Sache an die betreffende Instanz zurückzuweisen, damit sie die Beweisvorkehr unter Beteiligung des Privatklägers wiederhole. Diese Praxis nimmt Rücksicht auf den Eigenwert von Verfahrensrechten; die Beteiligung der Privatklägerschaft soll nicht bloss Mittel zum Zweck sein ("Legitimation durch Verfahren"; Dorrit Schleiminger Mettler, in: Basler Kommentar zur StPO, N. 3 Fn. 5 zu Art. 147 StPO). Sie darf jedoch keine prozessualen Leerläufe verursachen. Die formelle Natur des Mitwirkungsrechts kommt daher nicht zum Tragen, wenn, wie hier, nach der fraglichen Einvernahme sämtliche Sachverhaltselemente zur Strafbarkeit der einvernommenen Person, gegebenenfalls auch zur adhäsionsweise geltend gemachten zivilrechtlichen Haftung, erstellt sind, soweit sie im Rahmen der betreffenden Beweiserhebung erstellbar waren.
Die Ergebnisse der Einvernahme zum strafbarkeitsbegründenden Sachverhalt wären aus der Sicht des Beschwerdeführers keinesfalls günstiger ausgefallen, wenn er daran teilgenommen hätte. Der für die strafrechtliche Beurteilung einschlägige Sachverhalt - hier namentlich die Identität der Beschuldigten und ihre Urheberschaft der (feststehenden) Tathandlung - ist soweit vollständig geklärt. Im Ergebnis scheidet daher eine formelle Rechtsverweigerung aus.
2.2.3. Der Beschwerdeführer bringt ein weiterreichendes Klärungsinteresse zum Ausdruck. Die namhaft gemachten Vorgänge sind aber nicht geeignet, die Strafbarkeit der Beschuldigten zu beeinflussen: Selbst wenn die Beschuldigte den inkriminierten Facebook-Kommentar im Rahmen einer Kampagne - nämlich des vom Beschwerdeführer beklagten " 
2.3. Die Beschwerde ist somit abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.
3. Der Beschwerdeführer ersucht um unentgeltliche Rechtspflege. Er bezieht eine Invalidenrente sowie Ergänzungsleistungen und verfügt nicht über die erforderlichen Mittel für ein Verfahren vor Bundesgericht (vgl. die mit dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege eingereichte Budgetaufstellung des Kindes- und Erwachsenenschutzdienstes Baden vom 29. September 2015). Hinsichtlich der Rüge, das Verfahren leide an einem erheblichen Mangel, weil ihm nicht ermöglicht worden sei, gemäss Art. 147 Abs. 1 StPO an der Einvernahme der Beschuldigten teilzunehmen, war das Rechtsmittel jedenfalls unter einem bestimmten Aspekt nicht von vornherein aussichtslos (vgl. oben E. 2.2.1 a.E.). Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist somit zu entsprechen (Art. 64 Abs. 1 BGG; zum Grundsatz, wonach die unentgeltliche Rechtspflege in der Regel vollständig zu gewähren oder abzulehnen ist, vgl. Urteil 5D_76/2015 vom 5. Oktober 2015 E. 7.1). Die Entschädigung geht praxisgemäss an den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers. Es sind keine Gerichtskosten zu erheben.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen.
3. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
4. Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Yetkin Geçer, Luzern, wird aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 3'000.-- entschädigt.
5. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 21. April 2017
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Denys
Der Gerichtsschreiber: Traub