BGer 8C_773/2016
 
BGer 8C_773/2016 vom 20.03.2017
{T 0/2}
8C_773/2016
 
Urteil vom 20. März 2017
 
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,
Gerichtsschreiber Hochuli.
 
Verfahrensbeteiligte
Erben des A.________ sel., bestehend aus:
1. B.________,
2. C.________,
beide vertreten durch Rechtsanwalt Alois Kessler,
Beschwerdeführerinnen,
gegen
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Unfallversicherung (Hinterlassenenrente),
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Schwyz vom 21. Oktober 2016.
 
Sachverhalt:
A. Der 1958 geborene A.________ war seit 1. Februar 2002 als Agenturleiter der F.________ Versicherung angestellt und dadurch bei der CONCORDIA Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung AG (nachfolgend: Concordia oder Beschwerdegegnerin) obligatorisch unfallversichert. Am 24. März 2015 wurde er von seiner Ehefrau und seiner Tochter leblos in der Garage ihres Hauses aufgefunden. Als Todesursache wurde ein hämorrhagischer Schock durch Verbluten nach einem Messerstich in die linke Oberschenkelvorderseite unterhalb der Leiste mit Eröffnung der Oberschenkelschlagader (A. femoralis) festgestellt. Mit Verfügung vom 19. November 2015 und Einspracheentscheid vom 28. April 2016 lehnte es die Concordia ab, Leistungen im Zusammenhang mit dem Ableben des A.________ auszurichten. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Versicherte habe sich die Stichverletzung am Oberschenkel absichtlich zugefügt, sodass kein Unfall vorliege.
B. Die von B.________ als Ehefrau und C.________ als Tochter des Verstorbenen hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz mit Entscheid vom 21. Oktober 2016 ab.
C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen B.________ und C.________, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei die Leistungspflicht der Beschwerdegegnerin zu bejahen.
Die Concordia schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Die Vorinstanz und das Bundesamt für Gesundheit verzichten auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).
1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).
2. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz zu Recht verneinte, dass der Versicherte als Folge eines versicherten Ereignisses verstorben ist.
 
3.
3.1. Die Zusprechung von Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung setzt grundsätzlich das Vorliegen eines Berufsunfalles, eines Nichtberufsunfalles oder einer Berufskrankheit voraus (Art. 6 Abs. 1 UVG). Unfall ist die plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper, die eine Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit oder den Tod zur Folge hat (Art. 4 ATSG).
3.2. Hat der Versicherte den Gesundheitsschaden oder den Tod absichtlich herbeigeführt, so besteht gemäss Art. 37 Abs. 1 UVG kein Anspruch auf Versicherungsleistungen, mit Ausnahme der Bestattungskosten. Wollte sich der Versicherte nachweislich das Leben nehmen oder sich selbst verstümmeln, so findet nach Art. 48 UVV Art. 37 Abs. 1 UVG keine Anwendung, wenn der Versicherte zur Zeit der Tat ohne Verschulden gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln, oder wenn die Selbsttötung, der Selbsttötungsversuch oder die Selbstverstümmelung die eindeutige Folge eines versicherten Unfalles war.
3.3. Rechtsprechungsgemäss ist aufgrund der Macht des Selbsterhaltungstriebes in der Regel von einer natürlichen Vermutung der Unfreiwilligkeit einer Selbsttötung und damit vom Vorliegen eines Unfalles auszugehen, wenn Zweifel bestehen, ob der Tod eines Versicherten durch Unfall oder Suizid herbeigeführt worden ist. Dass der Versicherte willentlich aus dem Leben geschieden ist, darf daher nur dann als nachgewiesen gelten, wenn gewichtige Indizien jede andere den Umständen angemessene Deutung ausschliessen. Deshalb ist in solchen Fällen zunächst von der durch den Selbsterhaltungstrieb gegebenen Vermutung auszugehen, es liege keine Selbsttötung vor, und sodann zu fragen, ob derart überzeugende Umstände vorliegen, dass diese Vermutung widerlegt wird (Urteil 8C_550/2010 vom 6. September 2010 E. 2.3 mit Hinweis auf RKUV 1996 Nr. U 247 S. 168 E. 2b). Eine solche Vermutung führt faktisch zu einer Umkehr der Beweislast (vgl. Urteil 8C_271/2012 vom 17. Juli 2012 E. 3.2.1 mit weiteren Hinweisen). Damit ist im Falle einer Beweislosigkeit zur Frage, ob eine versicherte Person eine Selbsttötung beging oder ob sie unfreiwillig verstorben ist, von einem unfreiwilligen Tod auszugehen. Die Vermutung verbietet aber nicht, aus dem Umstand, dass aufgrund der Sachlage ein unfreiwilliger Tod als weniger wahrscheinlich als ein Suizid erscheint, auf das Vorliegen einer Selbsttötung zu schliessen. So bejahte das Bundesgericht etwa trotz fehlender vorgängiger Hinweise auf eine Suizidalität des Versicherten eine Selbsttötung bei einem Mann, der trotz eines einfahrenden Zuges auf dem Gleis verharrte, da sein Verhalten sich nur mit suizidalen Absichten erklären liess und die möglichen Sachverhaltsalternativen als unplausibel erschienen (vgl. erwähntes Urteil 8C_550/2010 vom 6. September 2010 E. 4.3).
4. Es steht fest und ist unbestritten, dass der Versicherte durch Verbluten nach einem Messerstich in die linke Oberschenkelvorderseite unterhalb der Leiste mit Eröffnung der Oberschenkelschlagader (A. femoralis) verstorben ist. Eine Dritteinwirkung konnte ausgeschlossen werden (vgl. Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin vom 4. Juni 2015). Umstritten ist indessen, ob sich der Versicherte die zum Tode führende Stichverletzung absichtlich zufügte.
4.1. Die Vorinstanz hat sich mit den Polizeiberichten, den Aussagen der befragten Personen sowie den medizinischen Berichten eingehend auseinandergesetzt und diese zutreffend wiedergegeben, weshalb darauf verwiesen werden kann. Sie gelangte gestützt auf die den Vorfall vom 24. März 2015 betreffenden Umstände zum Schluss, dass der Versicherte sich den tödlichen Messerstich in den linken Oberschenkel absichtlich zugefügt hatte. Sie erwog insbesondere, aufgrund des Verletzungsbildes mit einer Wundtiefe von 6 cm sei davon auszugehen, dass das Messer mit erheblicher Gewalt in die linke Leiste gestossen worden sei. Der Messerstich sei durch die Anzugshose hindurch erfolgt. Nach Feststellung des Bezirksarztes müsse der Versicherte sich die Stichverletzung wahrscheinlich im Stehen zugefügt haben. Eine mit dem Küchenmesser ausgeführte Reparaturhandlung in stehender Position, die zu einem unbeabsichtigten Messerstich in die linke Leistengegend geführt hätte, sei mit allergrösster Wahrscheinlichkeit auszuschliessen. Selbst wenn davon ausgegangen werde, dass der Versicherte versucht habe, mit dem Messer die Hülle des Mobiltelefons zu lösen oder das Gerät zu öffnen, sei auszuschliessen, dass in stehender Position ein Abrutschen oder eine andere unbeabsichtigte Bewegung zum 6 cm tiefen Messerstich geführt habe. Es lägen keine Hinweise auf irgendwelche Reparaturhandlungen, wie etwa Kratzspuren am Mobiltelefon oder an der Hülle, vor. Aufgrund des Verletzungsbildes sei deshalb ein nicht beabsichtigter Messerstich auszuschliessen. Auch sei nicht erklärbar, weshalb der Versicherte die Reparaturhandlung mit dem Küchenmesser nicht gleich in der Küche vorgenommen, sondern sich dazu in die Garage begeben habe. Ebenfalls für einen beabsichtigten Messerstich spreche die Tatsache, dass gemäss Gutachten des Instituts D.________ vom 4. Juni 2015 keine Hinweise für aktive Körperbewegungen nach der Verletzung vorlägen. Es sei davon auszugehen, dass der Verstorbene nach einem versehentlichen Messerstich versucht hätte, die Blutung zu stoppen, sich ins Freie zu begeben, um sich bemerkbar zu machen, oder mit dem eingeschalteten Mobiltelefon in der rechten Hand über einen Notruf Hilfe anzufordern.
4.2. Die Vorinstanz führte im angefochtenen Entscheid überzeugende Umstände an, welche die durch den Selbsterhaltungstrieb gegebene Vermutung, der Versicherte sei unfreiwillig aus dem Leben geschieden, widerlegen. Daran vermögen die Einwendungen der Beschwerdeführerinnen nichts zu ändern.
4.2.1. Es trifft zu, dass im Gutachten des Instituts D.________ ausgeführt wurde, die Verletzungsart sei für einen Suizid recht untypisch. Die Gutachterin hielt aber auch fest, dass derartige Handlungen aufgrund der nicht zu vernachlässigenden psychischen Ausnahmesituation der Betroffenen stets zurückhaltend zu interpretieren seien. Sie gelangte zum Schluss, dass, so lange sich keine Hinweise für Reparaturhandlungen ergäben, eine suizidale Handlung eindeutig im Vordergrund stünde (Gutachten des Instituts D.________ S. 5). Da keine solchen Reparaturhandlungen festgestellt werden konnten (insbesondere auch nicht am Mobiltelefon des Versicherten), steht somit eine suizidale Handlung eindeutig im Vordergrund. Die Schlussfolgerungen der Gutachterin sind nachvollziehbar. Gemäss Ausführungen des Bezirksarztes Dr. med. E.________ fügte sich der Versicherte die Stichverletzung wahrscheinlich im Stehen zu. Dafür spreche die grosse Blutansammlung in der Hose und in den Schuhen. Bei einer Wundtiefe von ca. 6 cm ist mit der Vorinstanz von einem kräftigen Zustechen auszugehen und ein Abrutschen mit dem Messer im Rahmen einer allfälligen Reparatur ist auszuschliessen. Wie das kantonale Gericht zutreffend erwog, ist auch nicht ersichtlich, weshalb der Versicherte die Reparatur mit dem Küchenmesser nicht gleich in der Küche vornahm, wenn er eine solche beabsichtigt hätte. Entgegen den Ausführungen in der Beschwerde spricht der Umstand, dass der Versicherte im Zeitpunkt des Vorfalls mit Anzug und Krawatte bekleidet war, nicht gegen einen Suizid. Wie sich aus den Akten ergibt, ist dies vielmehr darauf zurückzuführen, dass der Versicherte noch die selben Kleider trug wie bereits am Morgen bei der Arbeit. Schliesslich kam die Kantonspolizei Schwyz aufgrund der getätigten Ermittlungshandlungen in ihrem Bericht vom 17. Juni 2015 in Übereinstimmung mit dem Gutachten ebenfalls zum Schluss, dass ein Suizid im Vordergrund stehe.
4.2.2. Die Beschwerdeführerinnen machen geltend, es habe keine psychische Diagnose vorgelegen, die als Indiz für einen Suizid des Versicherten gedeutet werden könne. Dem ist entgegenzuhalten, dass der Versicherte im Herbst 2014 unter einem Burnout-Syndrom litt und nach einer sukzessiven Steigerung der Arbeitsfähigkeit erst ab März 2015 wieder zu 100 % arbeitsfähig war. Auch nahm er an Medikamenten ein Antidepressivum, ein Beruhigungsmittel und ein Schlafmittel ein. Für den Hausarzt stand aufgrund des Typs Menschen des Versicherten ein möglicher Suizid im Vordergrund.
4.2.3. Dass der Versicherte keinen Abschiedsbrief hinterliess und zuvor niemandem gegenüber Suizidgedanken geäussert hatte, schliesst eine Selbsttötung ebenfalls nicht aus. Ein Suizid erfolgt aus Sicht der Hinterlassenen nicht selten völlig unerwartet und unerklärlich (vgl. z.B. die Tatumstände gemäss SVR 2016 UV Nr. 31 S. 102, 8C_662/2015 E. 4.2). Entgegen den Vorbringen der Beschwerdeführerinnen lässt sich aus dem Fundort des Verstorbenen nichts gegen das Vorliegen einer Selbsttötung ableiten. Dieser spricht weder für noch gegen einen Suizid. Dasselbe gilt auch hinsichtlich des Fundortes des Mobiltelefons, das eingeschaltet neben dem Verstorbenen lag. Selbst wenn der Versicherte noch versucht hätte, jemanden zu alarmieren, wie dies von den Beschwerdeführerinnen geltend gemacht wirdspräche dieser Umstand nicht gegen eine absichtlich zugefügte Stichverletzung. Der Versicherte hätte sich nach zugefügter Verletzung immer noch anders entschieden haben können. Möglich ist zudem, dass der Versicherte es bewusst als Unfall aussehen lassen wollte, musste ihm als Agenturleiter einer Versicherung doch bewusst gewesen sein, dass bei einem Suizid die Unfallversicherung keine Leistungen an die Hinterbliebenen erbringen würde.
4.2.4. Was den Einwand der Beschwerdeführerinnen anbelangt, wonach die Lebensversicherung ihnen das Todesfallkapital ausbezahlt habe, was diese bei einer Selbsttötung des Versicherten nicht getan hätte, kann dazu auf die zutreffenden vorinstanzlichen Ausführungen verwiesen werden. Mit dem kantonalen Gericht ist festzuhalten, dass der Entscheid der Lebensversicherung weder für die Beschwerdegegnerin noch für die Vorinstanz bindend ist.
4.3. Zusammenfassend ist festzustellen, dass das kantonale Gericht im angefochtenen Entscheid überzeugende Umstände angeführt hat, welche die durch den Selbsterhaltungstrieb gegebene Vermutung widerlegen, wonach keine Selbsttötung vorliege. Ist somit davon auszugehen, dass sich der Versicherte selber getötet hat, so setzt eine Leistungspflicht der Unfallversicherung für dessen Tod unter anderem voraus, dass der Versicherte zur Zeit der Tat ohne Verschulden gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln, oder dass die Selbsttötung die eindeutige Folge eines versicherten Unfalls war. Beide Tatbestandsvarianten sind vorliegend unbestrittenermassen zu verneinen. Die Vorinstanz hat eine Leistungspflicht der Beschwerdegegnerin für den Tod des Versicherten somit zu Recht verneint. Demnach ist die Beschwerde abzuweisen.
 
5.
5.1. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten den Beschwerdeführerinnen aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
5.2. Der in ihrem amtlichen Wirkungskreis obsiegenden, mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betrauten Beschwerdegegnerin (vgl. Art. 68 Abs. 3 BGG) wird praxisgemäss keine Parteientschädigung zugesprochen (BGE 126 V 143 E. 4a S. 150 mit Hinweisen; Urteil 8C_407/2013 vom 8. November 2013 E. 5.2).
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden den Beschwerdeführerinnen auferlegt.
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 20. März 2017
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Maillard
Der Gerichtsschreiber: Hochuli