BGer 6B_1076/2016
 
BGer 6B_1076/2016 vom 12.01.2017
6B_1076/2016
 
Urteil vom 12. Januar 2017
 
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichter Oberholzer, Rüedi,
Gerichtsschreiber Briw.
 
Verfahrensbeteiligte
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8090 Zürich,
Beschwerdeführerin,
gegen
X.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Ursula Lang,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Häusliche Gewalt; Genugtuung bei Sicherheits- und Untersuchungshaft mit nachfolgender Verfahrenseinstellung,
Beschwerde gegen die Verfügung des Obergerichts des Kantons Zürich, III. Strafkammer, vom 22. August 2016.
 
Erwägungen:
 
1.
1.1. Die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich führte gegen X.________ (Beschuldigter) eine Strafuntersuchung wegen häuslicher Gewalt. In der Folge stellte sie das Verfahren mit Verfügung vom 10. Juni 2015 definitiv ein (Art. 55a Abs. 3 StGB e contrario). Sie auferlegte die Verfahrenskosten dem Beschuldigten, nahm die Kosten der amtlichen Verteidigung auf die Staatskasse und sprach ihm weder Entschädigung noch Genugtuung zu.
1.2. Der Beschuldigte erhob Beschwerde beim Obergericht des Kantons Zürich. Dieses hob am 22. August 2016 Dispositiv Ziff. 5 der staatsanwaltschaftlichen Verfügung auf und ersetzte sie durch die folgende Fassung:
"5. Der beschuldigten Person wird eine Genugtuung in Höhe von Fr. 2'600.-- aus der Staatskasse ausgerichtet."
1.3. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, die obergerichtliche Entscheidung aufzuheben und die Einstellungsverfügung zu bestätigen.
 
2.
Wird das Verfahren eingestellt oder die beschuldigte Person freigesprochen, so können die Verfahrenskosten ganz oder teilweise auferlegt werden, "wenn sie rechtswidrig und schuldhaft die Einleitung des Verfahrens bewirkt oder dessen Durchführung erschwert hat" (Art. 426 Abs. 2 StPO sowie Art. 430 Abs. 1 lit. a StPO zu Entschädigung und Genugtuung). Diese Bestimmung kodifiziert die Praxis des Bundesgerichts und der EMRK-Organe, wonach eine Kostenauflage möglich ist, wenn die beschuldigte Person in zivilrechtlich vorwerfbarer Weise gegen eine geschriebene oder ungeschriebene Verhaltensnorm (insbesondere im Sinne von Art. 28 ZGB oder Art. 41 OR) klar verstossen und dadurch die Einleitung des Strafverfahrens bewirkt hat.
Diese Rechtsprechung gilt in gleicher Weise bei Verfahrenseinstellungen gestützt auf Art. 55a Abs. 3 StGB (Urteil 6B_414/2016 vom 29. Juli 2016 E. 2.4 mit Hinweisen).
Die Vorinstanz führt sachverhaltlich aus, der Beschuldigte habe bestätigt, dass es in der ehelichen Wohnung zu dem von der Geschädigten geschilderten und zu weiteren Konflikten zwischen den Eheleuten gekommen sei. Die Anschuldigungen, Drohungen und Tätlichkeiten seien persönlichkeitsverletzend im zivilrechtlichen Sinne. Dass sich die Geschädigte allenfalls auch nicht rücksichtsvoller verhalten habe, ändere am Verhalten des Beschuldigten nichts. Er habe die Einleitung des Verfahrens verursacht. Das rechtfertigte die Kostenauflage gemäss Art. 426 Abs. 2 StPO durch die Staatsanwaltschaft. Diese Kostenauflage ist nicht angefochten (vgl. dazu Urteil 6B_414/2016 vom 29. Juli 2016 mit Hinweisen).
 
3.
Die Beschwerdeführerin rügt die Zusprechung einer Genugtuung.
3.1. Die Vorinstanz stellt fest, der Beschuldigte habe dreizehn Tage in Untersuchungshaft verbracht. Diese habe sich im Nachhinein infolge Einstellen des Strafverfahrens als Überhaft erwiesen. Dafür sei ihm eine Genugtuung auszurichten. Bei kürzeren Freiheitsentzügen würden in der Regel Fr. 200.-- pro Tag als angemessen gelten. Entsprechend sei ihm eine Genugtuung von Fr. 2'600.-- zuzusprechen.
Die Beschwerdeführerin wendet ein, es handle sich nicht um Überhaft und die Vorinstanz beachte nicht, dass der Kostenentscheid die Entschädigungsfrage präjudiziere. Das Selbstverschulden beurteile sich bei Art. 426 Abs. 2 und Art. 430 Abs. 1 lit. a StPO nach denselben Massstäben.
Eine Kostenauflage nach Art. 426 Abs. 1 und 2 StPO schliesst in der Regel einen Anspruch auf Entschädigung aus. Die Entschädigungsfrage ist nach der Kostenfrage zu beantworten. Insoweit präjudiziert der Kostenentscheid die Entschädigungsfrage. Es gilt der Grundsatz, dass bei Auferlegung der Kosten keine Entschädigung oder Genugtuung auszurichten sind (BGE 137 IV 352 E. 2.4.2; Urteile 6B_414/2016 vom 29. Juli 2016 E. 2.5 und 6B_948/2013 vom 22. Januar 2015).
3.2. Die Vorinstanz stützt die Genugtuung auf Art. 431 Abs. 2 StPO.
Art. 431 Abs. 2 StPO betrifft die Überhaft (den "übermässigen Freiheitsentzug"). Überhaft liegt vor, wenn die Untersuchungs- oder Sicherheitshaft formell und materiell rechtmässig angeordnet wurde, die Haft aber länger dauerte als die ausgefällte Sanktion (BGE 141 IV 236 E. 3.2). Art. 431 Abs. 2 StPO stellt die Grundregel auf, dass Überhaft nur zu entschädigen ist, wenn sie nicht angerechnet werden kann (BGE 141 IV 236 E. 3.3). Dass die beschuldigte Person in zivilrechtlich vorwerfbarer Weise gegen eine Verhaltensnorm verstiess, die Einleitung des Verfahrens schuldhaft veranlasste oder (teilweise) verurteilt wurde, ist für die Überhaftentschädigung ohne Belang. Soweit der Freiheitsentzug die tatsächlich ausgefällte Sanktion übersteigt, hat das Gericht neben der Anrechnung die Überhaft abzugelten (Urteil 6B_747/2016 vom 27. Oktober 2016 E. 3.2). Ratio legis ist der Grundsatz des Realausgleichs des Eingriffs in die persönliche Freiheit. Im Einklang mit Art. 51 StGB stellt Art. 431 Abs. 2 StPO daher die Regel auf, dass Überhaft primär an eine andere Sanktion anzurechnen ist und nur insoweit zu entschädigen ist, als keine Anrechnung erfolgen kann (Urteil 6B_747/2016 vom 27. Oktober 2016 E. 3.5.1).
Rechtswidrig im Sinne von Art. 431 Abs. 1 StPO ist eine Haftanordnung, wenn sie von allem Anfang an ungesetzlich war. Die blosse Tatsache, dass sie sich im Nachhinein als unberechtigt erweist, lässt sie als ungerechtfertigt, nicht aber als rechtswidrig erscheinen (Urteil 6B_747/2016 vom 27. Oktober 2016 E. 3.3.5). Vorliegend war eine Präventivhaft angeordnet worden (vgl. zur Veröffentlichung vorgesehenes Urteil 1B_373/2016 vom 23. November 2016 E. 2.2, 2.3.2 und 2.9 f.). Die Voraussetzungen der Haftanordnung waren unbestritten gegeben. Es konnte keine Anrechnung erfolgen, weil das Verfahren eingestellt wurde. Die Haftanordnung war für die Dauer ihrer Anordnung gerechtfertigt und stellte sich nachträglich aufgrund der Verfahrenseinstellung als ungerechtfertigt heraus (vgl. Urteil 6B_747/2016 vom 27. Oktober 2016 E. 3.6.1).
3.3.  WEHRENBERG/FRANK sind zutreffend der Ansicht, werde die Haft im Nachhinein ungerechtfertigt (nicht rechtswidrig), weil die Person freigesprochen oder das Verfahren gegen sie eingestellt wird, so komme Art. 429 StPO zur Anwendung; damit sei geklärt, dass ein Anspruch sowohl bei ungerechtfertigter (Art. 429 StPO) und rechtswidriger (Art. 431 Abs. 1 StPO) als auch bei Überhaft (Art. 431 Abs. 2 StPO) bestehe (in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, NN. 3, 3a zu Art. 431 StPO). Es ist in der Tat davon auszugehen, dass die Genugtuungsfrage nach Untersuchungs- oder Sicherheitshaft bei Verfahrenseinstellung in der Regel gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO zu beurteilen ist (NIKLAUS SCHMID, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Aufl. 2013, Rz. 1816; MOREILLON/PAREIN-REYMOND, CPP, 2. Aufl. 2016, N. 20 zu Art. 429 und N. 7 zu Art. 431 StPO).
3.4. Wird das Verfahren gegen die beschuldigte Person eingestellt, so hat sie gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO Anspruch auf Genugtuung für besonders schwere Verletzung ihrer persönlichen Verhältnisse, insbesondere bei Freiheitsentzug. Diese gesetzliche Grundlage für den Anspruch auf Schadenersatz und Genugtuung wurde im Sinne der Kausalhaftung ausgestattet. Die Genugtuung wird regelmässig gewährt, wenn sich die beschuldigte Person in Untersuchungs- oder Sicherheitshaft befand (Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1329).
Die Strafbehörde kann die Entschädigung oder Genugtuung gemäss Art. 430 Abs. 1 lit. a StPO herabsetzen oder verweigern, wenn die beschuldigte Person rechtswidrig und schuldhaft die Einleitung des Verfahrens bewirkt hat. Ein solches Verhalten schliesst im Allgemeinen jegliche Pflicht des Staates zur Gewährung einer Entschädigung oder Genugtuung aus; liegt bloss ein leichtes Verschulden vor, kann eine herabgesetzte Entschädigung oder Genugtuung in Betracht kommen (Botschaft, a.a.O., S. 1330). Es sind dies die gleichen Gründe, die nach Art. 426 Abs. 2 StPO eine Auflage der Verfahrenskosten erlauben; liegen solche Gründe vor, sind Entschädigung und Genugtuung im Regelfall ausgeschlossen (SCHMID, a.a.O., Rz. 1820, 1821).
3.5. Die Vorinstanz verletzt Bundesrecht, indem sie dem Beschuldigten eine Genugtuung gestützt auf Art. 431 Abs. 2 StPO wegen Überhaft zuspricht. Sein Antrag auf Genugtuung ist in Anwendung von Art. 429 Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 430 Abs. 1 lit. a StPO zu prüfen.
 
4.
Aufgrund klarer Rechtslage ist auf eine Vernehmlassung zu verzichten (vgl. BGE 133 IV 293 E. 3.4.2; Urteile 6B_833/2015 vom 30. August 2016 E. 5 und 6B_260/2016 vom 25. Mai 2016 E. 2). Das Gehörsrecht wird dem Beschuldigten bei der Neubeurteilung zu gewähren sein, da der Vorinstanz beim Genugtuungsentscheid (auch) aufgrund der "Kann-Vorschrift" von Art. 430 Abs. 1 Ingress StPO ein gesetzliches Ermessen zusteht. Die Beschwerde ist gutzuheissen, das Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Es sind weder Kosten zu erheben noch Entschädigungen auszurichten (Art. 68 Abs. 3 BGG).
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen, die Verfügung des Obergerichts des Kantons Zürich vom 22. August 2016 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben und keine Entschädigungen ausgerichtet.
3. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 12. Januar 2017
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Denys
Der Gerichtsschreiber: Briw