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Original
 
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
9C_45/2010
Urteil vom 12. April 2010
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.
Verfahrensbeteiligte
B.________, vertreten durch
Advokat Dr. Matthias Aeberli,
Beschwerdeführer,
gegen
IV-Stelle für Versicherte im Ausland, avenue Edmond-Vaucher 18, 1203 Genf,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. Dezember 2009.
Sachverhalt:
A.
Der 1961 geborene B.________ bezog Renten der Unfall- sowie der Invalidenversicherung. Er lebt seit mehreren Jahren in Brasilien. Gestützt auf eine Mitteilung der Schweizerischen Mobiliar Versicherungsgesellschaft (nachfolgend: Mobiliar) als Unfallversicherer vom 5. Dezember 2006, wonach diese ihre Rentenzahlungen endgültig eingestellt habe, weil ihr Hinweise vorlägen, dass diese nicht mehr geschuldet seien, stellte auch die IV-Stelle für Versicherte im Ausland die Zahlung der bisher ausgerichteten ganzen Invalidenrente als vorsorgliche Massnahme mit sofortiger Wirkung ein und entzog einer gegen diese Verfügung gerichteten Beschwerde die aufschiebende Wirkung (Verfügung vom 29. Dezember 2006).
B.
B.a Am 1. Februar 2007 liess B.________ Beschwerde führen und beantragen, die Verfügung sei aufzuheben, die Rentenleistungen seien weiterhin auszurichten und der Beschwerde sei wieder aufschiebende Wirkung zu erteilen. Das angerufene Bundesverwaltungsgericht lehnte das Gesuch um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ab (Zwischenverfügung vom 7. Mai 2007). Auf die Aufforderung zur Leistung eines Kostenvorschusses hin stellte B.________ am 12. März 2008 ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (Prozessführung, Verbeiständung).
B.b Als B.________ das Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 1. Dezember 2008 um Erlass des Entscheides gebeten hatte, setzte dieses der IV-Stelle mit Verfügung vom 15. Dezember 2008 Frist zur Einreichung der Akten der Mobiliar. Die IV-Stelle reichte dem Gericht am 7. Januar 2009 die ihr von der Mobiliar zugestellten Akten ein mit der Bitte, dem Versicherten bis zum Entscheid des Untersuchungsrichters bezüglich der Akteneinsicht im Strafverfahren keine Einsicht in dieselben zu gewähren. Mit Verfügung vom 12. Januar 2009 sistierte das Bundesverwaltungsgericht das Verfahren bis zur Herausgabe der vollständigen Akten durch die Mobiliar und forderte die IV-Stelle (ohne Fristansetzung) erneut auf, bei der Mobiliar die vollständigen Akten anzufordern und diese unverzüglich einzureichen.
B.c Nachdem B.________ im Mai 2009 beim Bundesgericht eine Rechtsverzögerungsbeschwerde eingereicht hatte, setzte das Bundesverwaltungsgericht der IV-Stelle mit Verfügung vom 12. Juni 2009 Frist für die Einforderung und Zustellung der vollständigen Akten. Mit Urteil 9C_463/2009 vom 8. Juli 2009 hiess das Bundesgericht die Rechtsverzögerungsbeschwerde gut, soweit sie nicht gegenstandslos geworden war, und wies das Bundesverwaltungsgericht an, über die Beschwerde vom 1. Februar 2007 im Sinne der Erwägungen unverzüglich zu entscheiden.
B.d Unter Hinweis auf ein Schreiben der Mobiliar vom 24. Juni 2009 und eine Stellungnahme des Untersuchungsrichteramtes III Bern-Mittelland vom 3. Juli 2009 teilte die IV-Stelle dem Bundesverwaltungsgericht im Verlaufe des weiteren Verfahrens mit, dass sie nicht in der Lage sei, die Akten der Mobiliar zuzustellen. Die Mobiliar verwies die IV-Stelle an das Untersuchungsrichteramt (Schreiben vom 24. Juni 2009) und dieses stellte sich auf den Standpunkt, dem Akteneinsichtsgesuch könne nicht entsprochen werden, da davon auszugehen sei, dass das Bundesverwaltungsgericht B.________ Akteneinsicht zu gewähren hätte, womit dieser erreichen würde, was ihm im Strafverfahren verweigert worden sei (Stellungnahme vom 3. Juli 2009).
Mit Verfügung vom 22. Juli 2009 hob die Instruktionsrichterin die Verfahrenssistierung auf und stellte B.________ die Stellungnahme der IV-Stelle einschliesslich Beilagen zur Kenntnisnahme zu. Mit Zwischenverfügung vom 27. Juli 2009 wies sie sodann das Gesuch des B.________ vom 12. März 2008 um unentgeltliche Rechtspflege (Prozessführung, Verbeiständung) mangels hinreichenden Nachweises der prozessualen Bedürfigkeit ab. Gleichzeitig forderte sie ihn zur Leistung eines Kostenvorschusses auf. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Bundesgericht mit Urteil 9C_690/2009 vom 8. Oktober 2009 gut, hob die Verfügung vom 27. Juli 2009 auf und gewährte B.________ für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht die unentgeltliche Rechtspflege (Prozessführung, Verbeiständung).
B.e Am 19. Oktober 2009 schrieb das Bundesverwaltungsgericht die instruktionsrichterliche Zwischenverfügung vom 27. Juli 2009 als gegenstandslos geworden ab und forderte den Rechtsvertreter des B.________ auf, innert 20 Tagen ab Erhalt der Verfügung eine detaillierte Kostennote einzureichen.
B.f Mit Entscheid vom 3. Dezember 2009 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde ab.
C.
B.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts sei insoweit aufzuheben, als ihm rückwirkend ab 30. Dezember 2006 sowie bis auf weiteres die gesetzlichen Rentenleistungen auszurichten seien. Des Weitern ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege für den letztinstanzlichen Prozess.
Die IV-Stelle beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen, und das Bundesamt für Sozialversicherungen schliesst auf Abweisung des Rechtsmittels, soweit darauf einzutreten sei.
Erwägungen:
1.
1.1 Der angefochtene Entscheid schliesst das Verfahren nicht ab; es liegt somit kein Endentscheid im Sinne von Art. 90 BGG, sondern ein Vor- oder Zwischenentscheid über die Anordnung einer vorsorglichen Massnahme im Sinne von Art. 93 BGG vor (Urteil 9C_463/2009 vom 8. Juli 2009 zwischen den gleichen Parteien E. 1). Derartige Zwischenentscheide sind beim Bundesgericht anfechtbar, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) und wenn auch in der Hauptsache die Beschwerde an das Bundesgericht offensteht (Grundsatz der Einheit des Prozesses; BGE 133 III 645 E. 2.2 S. 647 f.).
Der nicht wieder gutzumachende Nachteil im Sinne des Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG muss (im Unterschied zu Art. 46 Abs. 1 lit. a VwVG) grundsätzlich rechtlicher Natur sein, d.h. auch durch einen günstigen Endentscheid nicht mehr behoben werden können; eine rein tatsächliche oder wirtschaftliche Erschwernis genügt in der Regel nicht (BGE 134 I 83 E. 3.1. S. 87 mit Hinweisen; vgl. auch Thomas Merkli, Vorsorgliche Massnahmen und die aufschiebende Wirkung bei Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und subsidiären Verfassungsbeschwerden, ZBl 109/2008 S. 416 ff., 429).
1.2 Vorsorgliche Massnahmen begründen einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil, wenn dadurch ein bestimmtes Handeln verboten wird, welches faktisch nicht nachträglich rückgängig gemacht werden kann. Als Beispiele können etwa ein provisorischer Führerausweisentzug (Urteil 1C_420/2007 vom 18. März 2008 E. 1 [publ. in: JdT 2008 I 466]) oder allgemein Verbote, bestimmte Handlungen vorzunehmen (vgl. Urteil 4D_71/2007 vom 7. Februar 2008 E. 1.1; Urteil 5A_202/2007 vom 13. Juni 2007 E. 1.1 [Publikationsverbot]), genannt werden (vgl. auch BGE 134 I 83 E. 3.1 S. 86 f.). Demgegenüber hat der blosse vorläufige Entzug finanzieller Leistungen in der Regel keinen nicht wieder gutzumachenden Nachteil zur Folge (vgl. Urteil 8C_473/2009 vom 3. August 2009 E. 4.3 [publ. in: SJ 2010 I S. 37]; 5A_270/2008 vom 20. November 2008 E. 3, nicht publ. in: BGE 135 III 238, aber in: FamPra.ch 2009 S. 486; 2C_309/2008 vom 13. August 2008 E. 2.3). Das gilt auch für die vorsorgliche Einstellung einer Rentenzahlung (vgl. auch Urteil 9C_1016/2009 vom 3. März 2010 E. 1, wo die Frage letztlich offengelassen wurde). Denn wenn sich im Revisionsverfahren ergibt, dass die Rente nicht eingestellt wird, erfolgt für die ganze Dauer der vorsorglichen Einstellung eine Rentennachzahlung samt Zins (Hansjörg Seiler, in: Waldmann/Weissenberger [Hrsg.], VwVG, Praxiskommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren, 2009, N. 70 f. zu Art. 55 und N. 54 f. zu Art. 56 VwVG). Der Beschwerdeführer legt nicht dar, weshalb bei ihm ein nicht wieder gutzumachender Nachteil vorliegen soll. Auf das Rechtsmittel kann deshalb nicht eingetreten werden.
2.
Da der IV-Stelle im Rahmen der Anordnung der Renteneinstellung als vorsorgliche Massnahme - welches Vorgehen in analoger Anwendung von Art. 56 VwVG (vgl. auch Art. 45 Abs. 2 lit. g VwVG in der bis Ende 2006 gültig gewesenen Fassung) grundsätzlich zulässig ist (vgl. BGE 121 V 112 S. 115 f., 119 V 295 E. 4 S. 297; weitere Hinweise bei Seiler, a.a.O., N. 17 f. zu Art. 56 VwVG), indessen nicht auf eine Vorwegnahme des Endentscheids hinauslaufen darf (Urteil K 65/05 vom 21. Juli 2005 E. 3.2; weitere Hinweise bei Seiler, a.a.O., N. 41 zu Art. 56 VwVG) - gravierende Mängel unterlaufen sind, rechtfertigen sich ausnahmsweise trotz Nichteintretens einige Hinweise materieller Natur.
2.1 Die Einstellung der Rente erfolgte, ohne dass dem Beschwerdeführer - worauf im Verfahren um vorsorgliche Massnahmen (im Unterschied zu den superprovisorischen Massnahmen) ein Anspruch besteht (BGE 134 I 83 E. 4.1 S. 88 f.) - das rechtliche Gehör gewährt worden wäre. Zudem war die entsprechende Verfügung der IV-Stelle vom 29. Dezember 2006 äusserst rudimentär begründet, indem einzig angeführt war, es bestünden "schon aus wirtschaftlichen Gründen erhebliche Zweifel" am weiteren Rentenanspruch, weil die Mobiliar die Rentenzahlungen endgültig eingestellt habe und der Versicherte nach den Angaben des Unfallversicherers in Brasilien eine Tätigkeit ausübe und seiner Meldepflicht nicht nachgekommen sei. In materieller Hinsicht stützten sich die erwähnten Verdachtsmomente (Ausübung einer Erwerbstätigkeit unter Verletzung der Meldepflicht) auf unbestätigte Meldungen des Unfallversicherers; sie wurden nach Lage der Akten bis heute nicht zu Tatsachen erhärtet. Grundlage bildete ein zweizeiliges Schreiben vom 5. Dezember 2006, in welchem die Mobiliar der IV-Stelle mitteilte, dass sie ihre Rentenzahlungen endgültig eingestellt habe und ihr (nicht näher ausgeführte) Hinweise vorlägen, dass diese nicht mehr geschuldet seien, ohne dass sie angegeben hätte, worauf sie sich dabei stützte. Nur vage Anhaltspunkte lassen sich sodann auch den von der IV-Stelle in ihrer Vernehmlassung vom 20. März 2007 als weitere "Belege" genannten IV-Akten 104 und 107 entnehmen, bei welchen es sich um Notizen über Telefongespräche zwischen der IV-Stelle und der Mobiliar handelt.
2.2 Grosse Bedenken erweckt auch das Verhalten der IV-Stelle im Verlaufe des weiteren Verfahrens. Denn diese hat, seit der Beschwerdeführer den ihm von der Verwaltung zugestellten Revisionsfragebogen innert erstreckter Frist am 1. Februar 2007 zurückgesandt hat, nach Lage der Akten und nach der von der IV-Stelle nicht bestrittenen Darstellung des Beschwerdeführers nichts mehr unternommen, obwohl der Devolutiveffekt der an das Bundesverwaltungsgericht erhobenen Beschwerde sich nur auf die vorsorgliche Massnahme bezieht und die Verwaltung nicht gehindert hätte, in der Hauptsache das Revisionsverfahren voranzutreiben (Seiler, a.a.O., N. 29 zu Art. 54 VwVG). Es geht nicht an, vorsorglich eine Rente einzustellen, dann jahrelang untätig zu bleiben und dem Versicherten auf diese Weise ohne materiellen Sachentscheid die (allenfalls geschuldete) Rente vorzuenthalten. Die Anordnung einer vorsorglichen Massnahme, die zwar nicht einen rechtlichen Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG, aber doch eine erhebliche faktische Beeinträchtigung mit sich bringt, rechtfertigt sich nur, wenn das Hauptverfahren speditiv weitergeführt und innert nützlicher Frist abgeschlossen wird. Angesichts der Untätigkeit der IV-Stelle wäre denn auch einer Rechtsverzögerungsbeschwerde ohne weiteres Erfolg beschieden gewesen. In diesem Sinne wird die IV-Stelle das Revisionsverfahren unverzüglich fortzuführen haben. Sollte sie dieses nicht innert nützlicher Frist abschliessen können, droht die weitere Aufrechterhaltung der vorsorglichen Renteneinstellung rechtswidrig zu werden.
3.
Umständehalber werden keine Gerichtskosten erhoben (Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BGG). Damit ist das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung (Befreiung von den Gerichtskosten) gegenstandslos.
Dem Beschwerdeführer kann die unentgeltliche Verbeiständung gewährt werden, da die entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu in der Lage ist.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Auf die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen nicht eingetreten.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Verbeiständung gewährt.
4.
Advokat Dr. Matthias Aeberli, Basel, wird als unentgeltlicher Anwalt des Beschwerdeführers bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2800.- ausgerichtet.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bundesverwaltungsgericht und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 12. April 2010
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
Meyer Keel Baumann