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Original
 
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
2C_542/2009
Urteil vom 15. Dezember 2009
II. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Müller, Präsident,
Bundesrichter Karlen, Bundesrichter Donzallaz,
Gerichtsschreiber Merz.
Verfahrensbeteiligte
X.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Fürsprecher Eduard Müller,
gegen
Einwohnergemeinde Thun, Einwohnerdienste,
Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern.
Gegenstand
Widerruf der Niederlassungsbewilligung,
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 27. Juli 2009.
Erwägungen:
1.
1.1 Der aus dem Kosovo stammende X.________ (geb. 1988) reiste im Mai 1999 im Rahmen des Familiennachzugs als 11-Jähriger in die Schweiz ein, wo er die Niederlassungsbewilligung erhielt. Das Kreisgericht Thun verurteilte ihn am 7. März 2008 wegen versuchter schwerer Körperverletzung sowie mehrfach begangenen Tätlichkeiten und Angriffen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten (unter Anrechnung von 600 Tagen Polizei- und Untersuchungshaft). Hierauf gestützt widerrief die Einwohnergemeinde Thun seine Niederlassungsbewilligung und wies ihn aus der Schweiz weg. Die dagegen im Kanton Bern erhobenen Rechtsmittel blieben erfolglos.
1.2 Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 3. September 2009 beantragt X.________ dem Bundesgericht, das in dieser Sache zuletzt ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern aufzuheben, die Niederlassungsbewilligung nicht zu widerrufen und ihn nicht aus der Schweiz wegzuweisen. Mit zwei Eingaben vom 4. September 2009 hat er seine Beschwerdebegründung ergänzt und zusätzlich gerügt, dass ihm die Vorinstanz die unentgeltliche Rechtspflege zu Unrecht verweigert habe. Zudem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren.
Die Polizei- und Militärdirektion sowie das Verwaltungsgericht des Kantons Bern und das Bundesamt für Migration stellen den Antrag, die Beschwerde abzuweisen. Die Einwohnergemeinde Thun hat sich nicht geäussert. Am 28. September und 12. Oktober 2009 hat X.________ ergänzende Unterlagen und Angaben zu seinem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege eingereicht.
1.3 Der Präsident der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts hat der Beschwerde mit Verfügung vom 14. September 2009 antragsgemäss aufschiebende Wirkung hinsichtlich der Ausreiseverpflichtung zuerkannt.
2.
Soweit der Beschwerdeführer pauschal auf seine Eingaben bei den Vorinstanzen verweist (vgl. insb. S. 3 der Beschwerdeschrift), sind diese aus dem Recht zu weisen. Denn die an das Bundesgericht adressierten Rechtsschriften müssen gemäss Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG die Begründung der Beschwerde enthalten, wobei sich der Beschwerdeführer mit der Argumentation im angefochtenen Entscheid auseinandersetzen muss (vgl. Urteile 4A_121/2007 vom 9. Juli 2007 E. 2.1 und 4A_56/2009 vom 11. August 2009 E. 4.1 mit Hinweisen).
3.
3.1 Der von den Vorinstanzen angenommene Widerrufsgrund der Verurteilung zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe gemäss Art. 63 Abs. 1 lit. a in Verbindung mit Art. 62 lit. b des hier bereits anwendbaren Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG; SR 142.20) ist erfüllt, da gegen den Beschwerdeführer eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr ausgesprochen wurde (BGE 2C_295/2009 vom 25. September 2009 E. 4.2; zum Übergangsrecht vgl. Art. 126 AuG und Urteil 2C_745/2008 vom 24. Februar 2009 E. 1.2). Ob der von den Vorinstanzen ebenfalls bejahte Widerrufsgrund des schwerwiegenden Verstosses gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung nach Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG gegeben ist, kann offen bleiben. Der Beschwerdeführer rügt, der Widerruf seiner Niederlassungsbewilligung sei unverhältnismässig (vgl. Art. 96 AuG). Vor allem bestehe bei ihm entgegen der Auffassung der Vorinstanz keine Rückfallgefahr.
3.2 Im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung spielt namentlich eine Rolle, ob vom Ausländer eine aktuelle Gefährdung ausgeht. Im Übrigen darf auch generalpräventiven Gesichtspunkten Rechnung getragen werden (vgl. allg. erwähnter BGE 2C_295/2009 E. 4 und 5; Urteil 2C_36/2009 vom 20. Oktober 2009 E. 2.1).
Die Vorinstanz legt ausführlich dar, warum sie beim Beschwerdeführer von einer Rückfallgefahr ausgeht. Der Beschwerdeführer kritisiert diesen Schluss durch Vorlage eines Berichts der Abteilung Bewährungshilfe vom 2. September 2009. Abgesehen davon, dass dieses Dokument schon als Novum aus dem Recht zu weisen ist (vgl. Art. 97, 99 und 105 BGG; BGE 133 IV 342 E. 2 S. 343 f.), würde sich daraus noch nicht ein anderer Schluss aufdrängen. Laut diesem Bericht habe es der Beschwerdeführer geschafft, wichtige Schritte in eine gesunde soziale und berufliche Integration zu machen; verbunden mit der intensiven und ehrlichen Auseinandersetzung mit dem Delikt habe er alle Voraussetzungen, um ein deliktfreies Leben zu führen.
3.3 Dem Beschwerdeführer ist entgegen seiner Ansicht eine berufliche Integration bisher jedoch nicht gelungen. Er verfügt bis heute nicht über eine abgeschlossene Berufsausbildung und hat auch noch immer keine solche aufgenommen. Nach seiner Haftentlassung war er einige Zeit arbeitslos. In der Folge ging er innerhalb weniger Monate nacheinander drei Arbeitsverhältnisse ein; derzeit arbeitet er nur als Hilfskraft mit einem Halbtagespensum. Jedesmal, nachdem er an einer neuen Arbeitsstelle begonnen hatte, beteuerte er, beruflich integriert zu sein. Nach dem Dargelegten trifft das aber offenbar nicht zu. Für das im Bericht vom 2. September 2009 erwähnte soziale Netz werden sodann nur die Familie und Verwandte in der Schweiz angeführt. Diese Beziehungen bestanden indes bereits, als der Beschwerdeführer die Straftaten beging; sie hatten ihn nicht von seinem überaus gefährlichen Verhalten abgehalten; im Übrigen war er zusammen mit seinem älteren Bruder strafrechtlich in Erscheinung getreten; Letzterer wurde insoweit erstinstanzlich wegen versuchter vorsätzlicher Tötung zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt.
Wie die Vorinstanz zudem richtig bemerkt, ergibt sich aus diversen Dokumenten, die aus der Zeit zwischen Juni und August 2008 stammen, dass sich der Beschwerdeführer bezüglich seiner Delikte wenig einsichtig gezeigt hatte und es ihm an einer uneingeschränkten Reue mangelte. Der Beschwerdeführer blendet das aus, wenn er darauf hinweist, dass er bereits im Strafverfahren geständig gewesen sei und bedauert habe, was zwei Opfern widerfahren sei. Zudem verschweigt er dabei, dass es sich nur um ein Teilgeständnis gehandelt und er in verschiedener Hinsicht bewusst die Unwahrheit gesagt hatte. Auch gemäss Strafurteil vom 7. März 2008 hatte er nur begrenzt Reue und Einsicht gezeigt. Dass er innert kürzester Zeit einen völligen Sinneswandel durchgemacht hat, darf daher bezweifelt werden. Hinzukommt, dass sich der Beschwerdeführer noch nicht lange in Freiheit, in die er Mitte November 2008 bedingt entlassen wurde, bewährt hat. Zudem entspricht es ständiger bundesgerichtlicher Praxis, dass dem Wohlverhalten während der Haft und während der anschliessenden Probezeit untergeordnete Bedeutung beigemessen wird (vgl. BGE 114 Ib 1 E. 3a S. 4; Urteile 2A.531/2001 vom 10. April 2002 E. 3.1.3; 2A.605/2005 vom 28. Februar 2006 E. 2.5.2, je mit Hinweisen). Schliesslich handelte es sich auch nicht um einen einzelnen Strafakt, der dem Beschwerdeführer vorgeworfen wurde. Vielmehr delinquierte er mehrmals und das sogar, nachdem er wegen des ersten Vorfalls bereits 29 Tage in Polizei- und Untersuchungshaft verbracht hatte.
Die Vorinstanzen schliessen demzufolge zu Recht, dass ein nicht zu vernachlässigendes Rückfallrisiko fortbesteht. Dieses ist umso weniger hinzunehmen, als der Beschwerdeführer - laut Strafgericht - wegen "niederträchtigen" und gefährlichen Gewalttaten verurteilt wurde (Messerstecherei und grundloses Traktieren eines wehrlosen Menschen durch Faustschläge und Fusstritte, teilweise im Kopfbereich). Es war allein dem Zufall zu verdanken, dass die Opfer nicht an lebenswichtigen Organen verletzt wurden. Der Beschwerdeführer demonstrierte durch die begangenen Straftaten seine Geringschätzung für die schweizerische Rechtsordnung im Allgemeinen und die physische Integrität anderer Menschen im Besonderen.
Damit besteht ein erhebliches Fernhalteinteresse. Der Vorwurf, das Verwaltungsgericht suggeriere, der Beschwerdeführer habe seit seiner Haftentlassung erneut delinquiert, ist unbegründet. Es ist nicht zu beanstanden, wenn im angefochtenen Urteil ausgeführt wird, seit der Haftentlassung habe sich der Beschwerdeführer - "soweit dem Verwaltungsgericht bekannt" - nichts mehr zu Schulden kommen lassen.
3.4 Mit Blick auf die Gesamtumstände geht die Vorinstanz auch zutreffend davon aus, dass beim ledigen Beschwerdeführer weder in persönlicher noch in beruflicher oder wirtschaftlicher Hinsicht von einer gelungenen Integration in der Schweiz auszugehen ist, auch wenn er nur mit geringem Akzent Schweizerdeutsch spricht. Die nicht näher begründete Behauptung, er sei auf seine Eltern angewiesen, geht fehl. Der blosse Wunsch, tägliche Kontakte zu den Eltern und Geschwistern zu pflegen, begründet jedenfalls kein entsprechendes Abhängigkeitsverhältnis. Auch wenn der Beschwerdeführer selber noch keine eigene Familie gegründet hat, ist er als gesunder Erwachsener nicht zu der von Art. 8 EMRK und Art. 13 BV geschützten Kernfamilie in Bezug auf seine Eltern zu zählen.
Eine Rückkehr in sein Heimatland mag ihn hart treffen. Diese ist jedoch nicht unzumutbar. Dass er im Kosovo keine näheren Verwandten mehr hat, ist nicht entscheidend. Er ist über 21 Jahre alt und spricht die Sprache seiner Heimat, in welcher er bereits gelebt hatte und wohin er auch später gelegentlich zurückgekehrt ist; dort besitzen seine Eltern auf dem Land ein Haus. Wie die Vorinstanz schliesslich richtig festhält, ist die wirtschaftliche Situation im Kosovo wohl schwieriger als in der Schweiz; das gilt aber für alle dort lebenden Menschen.
3.5 Demnach hat die Vorinstanz zu Recht den Widerruf der Niederlassungsbewilligung geschützt. Die Beschwerde erweist sich als offensichtlich unbegründet. Sie kann daher im vereinfachten Verfahren nach Art. 109 BGG behandelt werden, wobei ergänzend auf die Ausführungen im angefochtenen Entscheid verwiesen wird. Soweit sich die vorliegende Beschwerde auch auf die angeordnete Wegweisung bezieht, tritt das Bundesgericht darauf gemäss Art. 83 lit. c Ziff. 4 BGG nicht ein.
4.
Diesem Ausgang entsprechend hat der Beschwerdeführer die - mit Blick auf seine Situation leicht reduzierten - Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens zu tragen (Art. 65 f. BGG). Er hat zwar um unentgeltliche Rechtspflege ersucht; dieses Gesuch ist indes wegen Aussichtslosigkeit seines Rechtsbegehrens ebenfalls abzuweisen (vgl. Art. 64 BGG). Im Gegensatz zu dem vom Beschwerdeführer zitierten Fall (Urteil 2C_230/2009 vom 2. Juli 2009) erscheint der Bewilligungswiderruf vorliegend eindeutig als verhältnismässig. Mit Blick auf die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren spielt es auch keine Rolle, dass sich das Bundesgericht bei Beschwerdeeinreichung noch nicht im Einzelnen zum Begriff der längerfristigen Freiheitsstrafe im Sinne von Art. 62 lit. b AuG geäussert hatte (vgl. immerhin die Urteile 2C_65/2009 vom 17. März 2009 und 2C_793/ 2008 vom 27. März 2009 je mit Hinweisen). Vorstehende Ausführungen gelten entsprechend, soweit der Beschwerdeführer rügt, ihm sei auch bei der Vorinstanz zu Unrecht die unentgeltliche Rechtspflege für das am 3. April 2009 eingeleitete Beschwerdeverfahren verweigert worden. Im Übrigen befasst sich der Beschwerdeführer nicht mit dem Einwand der Vorinstanz, er habe sich bei ihr grossteils auf die Wiederholung seiner bisherigen Argumente (zur Verhältnismässigkeit der Massnahme) beschränkt. Eine Verletzung von Art. 29 Abs. 3 BV ist daher nicht gegeben, weshalb die Beschwerde insoweit ebenfalls abzuweisen ist.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'500.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Einwohnergemeinde Thun (Einwohnerdienste), der Polizei- und Militärdirektion sowie dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und dem Bundesamt für Migration schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 15. Dezember 2009
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Müller Merz