BGer 2C_640/2008
 
BGer 2C_640/2008 vom 29.01.2009
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
{T 0/2}
2C_640/2008
Urteil vom 29. Januar 2009
II. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Müller, Präsident,
Bundesrichter Merkli, Karlen, Zünd, Donzallaz,
Gerichtsschreiber Hugi Yar.
Parteien
Bundesamt für Migration,
Beschwerdeführer,
gegen
X.________,
Beschwerdegegner,
vertreten durch Advokat Guido Ehrler,
Amt für Migration Basel-Landschaft,
Parkstrasse 3, 4402 Frenkendorf.
Gegenstand
Verlängerung der Durchsetzungshaft,
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Verfassungs- und Verwaltungsrecht, vom 3. Juli 2008.
Sachverhalt:
A.
X.________ (geb. 1978) stammt nach eigenen Angaben aus Algerien. Er durchlief in der Schweiz erfolglos ein Asylverfahren. Zur Sicherstellung des Vollzugs seiner Wegweisung befand er sich vom 21. April bis 20. Juli 2005 sowie vom 15. Januar bis zum 15. Mai 2007 in Ausschaffungshaft. Hernach wurde er in den Strafvollzug versetzt. Am 11. Juni 2007 nahm das Amt für Migration Basel-Landschaft X.________ in Durchsetzungshaft, die es in der Folge regelmässig verlängerte (vgl. BGE 134 I 92 ff.).
B.
Mit Urteil vom 3. Juli 2008 wies der Einzelrichter für Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht den Antrag des Amts für Migration Basel-Landschaft ab, die Durchsetzungshaft von X.________ um weitere zwei Monate zu verlängern und ordnete an, ihn unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Die Verlängerung sei zwar - so führte der Haftrichter aus - "grundsätzlich rechtmässig", da der Vollzug der rechtskräftigen Wegweisung nach wie vor allein am persönlichen Verhalten von X.________ scheitere, doch erweise sie sich als unverhältnismässig, da davon ausgegangen werden müsse, dass er seiner gesetzlichen Ausreise- und Mitwirkungspflicht in der verbleibenden zulässigen Gesamthaftdauer nicht mehr nachkommen werde; an seinem renitenten Verhalten habe sich während den rund zwanzig Monaten, in denen er sich in Ausschaffungs- bzw. Durchsetzungshaft befunden habe, nichts geändert; weitere Fortschritte seien nicht mehr zu erwarten.
C.
Das Bundesamt für Migration ist am 9. September 2008 mit dem Antrag an das Bundesgericht gelangt, den Entscheid des Einzelrichters für Zwangsmassnahmen aufzuheben; dieser habe nicht ausschliessen können, dass sich X.________ "doch noch eines Besseren besinnen" und "der ihm gesetzlich auferlegten Mitwirkungspflicht aufgrund der administrativen Inhaftierung" nachkommen werde, weshalb seine Durchsetzungshaft ein weiteres Mal hätte verlängert werden müssen. Das Amt für Migration Basel-Landschaft beantragt, die Beschwerde gutzuheissen. Das Kantonsgericht Basel-Landschaft hat darauf verzichtet, sich vernehmen zu lassen.
D.
X.________ hat am 18. September 2008 um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren ersucht. Mit Beschluss vom 23. September 2008 wurde er von der Bezahlung allfälliger Gerichtskosten befreit; hingegen wurde sein Ersuchen abgelehnt, ihm einen unentgeltlichen Rechtsanwalt beizugeben. Am 17. November 2008 beantragte der Rechtsvertreter von X.________, die Beschwerde des Bundesamts abzuweisen; gleichzeitig kritisierte er den Beschluss vom 23. September 2008.
Erwägungen:
1.
Das Bundesamt für Migration ist im Bereich der ausländerrechtlichen Zwangsmassnahmen zur Behördenbeschwerde legitimiert, falls es ihm darum geht, konkrete Rechtsfragen eines tatsächlich bestehenden Einzelfalls mit Auswirkungen auf künftig ähnlich gelagerte Sachverhalte zu klären (vgl. Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG in Verbindung mit Art. 14 Abs. 2 OV-EJPD [SR 172.213.1]); die Behördenbeschwerde darf nicht der Behandlung einer vom konkreten Fall losgelösten abstrakten Frage des objektiven Rechts dienen (vgl. BGE 134 II 201 E. 1.1 S. 203; 129 II 1 E. 1.1 S. 4). Das Bundesgericht hat sich inzwischen wiederholt zur Verhältnismässigkeit einzelner Durchsetzungshaften geäussert (vgl. BGE 134 I 92 ff., 134 II 201 ff.); dabei hatte es jedoch nie einen Fall wie den vorliegenden zu prüfen, in dem die ausländerrechtlich begründete Festhaltung insgesamt schon zwanzig Monate gedauert hatte. Auf die frist- und formgerecht eingereichte Beschwerde, an deren Beurteilung ein hinreichendes Interesse besteht, ist somit einzutreten.
2.
2.1 Sowohl das Bundesamt für Migration als auch das Amt für Migration Basel-Landschaft und der Einzelrichter für Zwangsmassnahmen gehen davon aus, dass der Beschwerdegegner an sich die Voraussetzungen für eine weitere Verlängerung der Durchsetzungshaft erfüllt (vgl. Art. 78 Abs. 1 und 2 AuG [SR 142.21]): Er ist rechtskräftig aus der Schweiz weggewiesen worden, weigert sich jedoch nach wie vor, das Land zu verlassen, und kann zurzeit nur in seine Heimat verbracht werden, falls er bereit ist, freiwillig dorthin zurückzukehren, da (im Moment) keine Sonderflüge nach Algerien durchgeführt werden können. Umstritten ist, ob der Einzelrichter für Zwangsmassnahmen davon ausgehen durfte, dass eine weitere Verlängerung der Festhaltung mit Blick auf die Umstände unverhältnismässig gewesen wäre. Die Frage ist entgegen den Ausführungen des Bundesamts zu bejahen, auch wenn in der Regel die Weigerung zu kooperieren für sich allein die Durchsetzungshaft bzw. deren allfällige Verlängerung noch nicht als unverhältnismässig erscheinen lässt, da es sich dabei um eine Haftvoraussetzung handelt (vgl. BGE 134 I 92 E. 2.3; 134 II 201 E. 2.2.4 S. 205).
2.2
2.2.1 Zweck der Durchsetzungshaft ist es, die ausreisepflichtige Person in jenen Fällen zu einer Verhaltensänderung zu bewegen, in denen nach Ablauf der Ausreisefrist der Vollzug der rechtskräftig gegen sie angeordneten Weg- oder Ausweisung - trotz entsprechender behördlicher Bemühungen - ohne ihre Kooperation nicht (mehr) möglich erscheint (vgl. Art. 78 AuG). Der damit verbundene Freiheitsentzug stützt sich auf Art. 5 Ziff. 1 lit. f EMRK (Haft zur Sicherung eines schwebenden Ausweisungsverfahrens) und dient in diesem Rahmen zur Erzwingung einer durch das Gesetz vorgeschriebenen Verpflichtung des Betroffenen (Art. 5 Ziff. 1 lit. b EMRK; vgl. BGE 134 I 92 E. 2.3.1). Die Durchsetzungshaft bildet das letzte Mittel, wenn und soweit keine andere Massnahme (mehr) zum Ziel führt, den illegal anwesenden Ausländer auch gegen seinen Willen in seine Heimat verbringen zu können. Sie darf nach dem Willen des Gesetzgebers maximal 18 Monate dauern (BGE 134 I 92 E. 2.1 und 2.3.1; 133 II 97 E. 2.2 S. 99 f. [zu Art. 13g ANAG]), muss aber in jedem Fall verhältnismässig sein. Die Vorbereitungs-, Ausschaffungs- und Durchsetzungshaft dürfen zusammen eine Höchstdauer von 24 Monaten nicht überschreiten (vgl. Art. 79 AuG). Es ist jeweils aufgrund der Umstände im Einzelfall zu prüfen, ob die ausländerrechtliche Festhaltung insgesamt (noch) geeignet bzw. erforderlich erscheint und nicht gegen das Übermassverbot verstösst (BGE 134 I 92 E. 2.3.2; 133 II 97 E. 2.2 S. 100 [zu Art. 13g ANAG]).
2.2.2 Bei dieser Beurteilung ist dem Verhalten des Betroffenen, den die Papierbeschaffung allenfalls erschwerenden objektiven Umständen (ehemalige Bürgerkriegsregion usw.) sowie dem Umfang der von den Behörden bereits getroffenen Abklärungen Rechnung zu tragen und zu berücksichtigen, wieweit der Ausländer es tatsächlich in der Hand hat, die Festhaltung zu beenden, indem er seiner Mitwirkungs- bzw. Ausreisepflicht nachkommt (BGE 134 I 92 E. 2.3.2 S. 97). Von Bedeutung können zudem seine familiären Verhältnisse sein sowie der Umstand, dass er allenfalls wegen seines Alters, Geschlechts oder Gesundheitszustands als "besonders schutzbedürftig" gelten muss (vgl. BGE 134 II 201 E. 2.2.3 S. 205). Das mutmassliche künftige Verhalten des Betroffenen ist jeweils aufgrund sämtlicher Umstände abzuschätzen. Hierbei kommt dem Haftrichter wegen der Unmittelbarkeit seiner Kontakte mit dem Betroffenen ein gewisser Beurteilungsspielraum zu. Ein erklärtes konsequent unkooperatives Verhalten stellt in diesem Rahmen nur einen - allenfalls aber gewichtigen - Gesichtspunkt unter mehreren dar (BGE 134 II 201 E. 2.2.4; 134 I 92 E. 2.3.2 S. 97). Je länger die ausländerrechtlich motivierte Festhaltung dauert und je weniger die Ausschaffung absehbar erscheint, desto strengere Anforderungen sind an die fortbestehende Hängigkeit des Ausweisungsverfahrens im Sinne von Art. 5 Ziff. 1 lit. f EMRK zu stellen und desto kritischer ist die jeweilige Haftverlängerung zu hinterfragen (BGE 134 II 201 E. 2.2.5 S. 206).
2.3
2.3.1 Der Beschwerdeführer hat sich - trotz seiner wiederholten ausländerrechtlichen Festhaltungen - geweigert, mit den Behörden bei der Papierbeschaffung sinnvoll zusammenzuarbeiten und das Land freiwillig zu verlassen (vgl. BGE 134 I 92 E. 2.2). Seine Identität ist nach wie vor nicht erstellt. Er kann nicht gegen seinen Willen - und damit zwangsweise - nach Algerien verbracht werden; die Behörden können nichts mehr vorkehren, um seine Ausschaffung weiter voranzutreiben und dem konventionsrechtlichen Beschleunigungsgebot von Art. 5 Ziff. 1 lit. f EMRK nachzukommen (vgl. BGE 134 II 201 E. 2.2.5; 134 I 92 E. 2.3.1 S. 96; Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte i.S. Singh gegen Tschechien vom 25. Januar 2005 [No 60538/00], § 61 ff.). Wenn der Einzelrichter für Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht mit Blick auf die bereits ausgestandenen Festhaltungen von insgesamt zwanzig Monaten unter diesen Umständen davon ausgegangen ist, es sei unverhältnismässig, die Durchsetzungshaft weiter aufrechtzuerhalten, hielt er sich im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens.
2.3.2 Der vorliegende Fall kann nicht mit dem in BGE 134 II 201 ff. beurteilten Sachverhalt verglichen werden: Dort befand sich der Betroffene "erst" seit dreizehn Monaten in Haft. Es konnte deshalb nicht ausgeschlossen werden, dass er seine Haltung während der verbleibenden Maximaldauer doch noch ändern und sich bereit erklären würde, das Land zu verlassen. Hier erschien dies aufgrund des vom Einzelrichter für das Bundesgericht grundsätzlich verbindlich festgestellten Sachverhalts (vgl. Art. 118 BGG) praktisch als ausgeschlossen. Sollten sich die Verhältnisse künftig derart verändern, dass die Ausschaffung des Beschwerdegegners wieder absehbar erscheint (neue Erkenntnisse, Abschluss der Verhandlungen mit dem algerischen Behörden), wird er allenfalls für die restlichen vier Monate erneut ausländerrechtlich festgehalten werden können. In der Zwischenzeit ist seine weitere Anwesenheit illegal und könnte zu strafrechtlichen Sanktionen führen (Art. 115 AuG; vgl. BGE 6B.114/2008 vom 4. November 2008); ausländerrechtlich bleibt lediglich noch seine Ein- oder Ausgrenzung möglich (vgl. Art. 74 Abs. 1 lit. b AuG).
2.3.3 Zwar mag es stossend erscheinen, dass der Beschwerdegegner letztlich wegen seines renitenten Verhaltens vor Ablauf der in Art. 79 AuG vorgesehenen Festhaltungsdauer wieder auf freien Fuss gesetzt werden muss; bei den dort genannten 24 Monaten handelt es sich jedoch um eine Maximalfrist, die nur im Rahmen des konventions- und verfassungsmässig Zulässigen ausgeschöpft werden darf. Dies setzt unter anderem voraus, dass die Festhaltung mit einer minimalen Wahrscheinlichkeit nach wie vor geeignet erscheint, ihren Zweck zu erfüllen, und nicht gegen das Übermassverbot verstösst. Dessen war sich der Gesetzgeber bewusst, wurde doch in den parlamentarischen Beratungen - auch von den Befürwortern der Verschärfung der Zwangsmassnahmen - zugestanden, "dass nicht in jedem Fall eine Haft über die ganze Dauer ausgesprochen werden kann und wird". Wer "sich weigert, ein Formular auszufüllen", könne nicht monatelang in Haft genommen werden; das sei "klar". Die Haftdauer müsse nach der "Schwere der Mitwirkungsverweigerung" bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit durch den Richter berücksichtigt werden (vgl. AB 2005 N 1209 f. [Votum von Kommissionssprecher Müller]). Ergänzend ist schliesslich darauf hinzuweisen, dass die EU-Rückführungsrichtlinie, welche Teil des Schengen-Besitzstands bildet und von der Schweiz innert einer Übergangsfrist von 24 Monaten umzusetzen sein wird, eine Abschiebehaft von bloss sechs Monaten vorsieht, die maximal bis zu 18 Monaten verlängert werden kann, falls der Betroffene nicht kooperiert oder es zu Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten kommt (vgl. Art. 15 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. 2008 L 348 vom 24. Dezember 2008 S. 98 ff.).
3.
Die Beschwerde ist somit unbegründet. Das unterliegende Bundesamt hat für das vorliegende Verfahren keine Kosten zu tragen (vgl. Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Beschwerdegegner ist anwaltlich vertreten. Es ist ihm deshalb eine dem Aufwand entsprechende Parteientschädigung zuzusprechen (vgl. Art. 68 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Der Beschwerdeführer hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 500.-- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Verfassungs- und Verwaltungsrecht, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 29. Januar 2009
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Müller Hugi Yar