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Original
 
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
1P.132/2006 /scd
Urteil vom 29. Mai 2006
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Fonjallaz,
Gerichtsschreiber Thönen.
Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Dr. Urs Oswald,
gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, 5001 Aarau,
Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau.
Gegenstand
Strafverfahren,
Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, vom 15. Dezember 2005.
Sachverhalt:
A.
Das Bezirksgericht Aarau verurteilte X.________ (geboren 1972) am 28. April 2004 wegen mehrfacher - teilweise qualifizierter - Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer unbedingten Zuchthausstrafe von 2 ½ Jahren, unter Anrechnung der Untersuchungshaft von 62 Tagen, und zu einer Busse von Fr. 100.--. Zudem erklärte es eine mit früherem Urteil ausgesprochene bedingte Landesverweisung für 4 Jahre als vollziehbar.
Nach der Anklageschrift soll X.________ Anfang 2003 in Aarau A.________ und B.________ getroffen und letzterem Kokain zum Probieren gegeben haben mit der Vereinbarung, ihm 200 Gramm Kokain für Fr. 11'000.-- zu verkaufen. Nachdem es X.________ am folgenden Tag bei einem Treffen mit B.________ in Aarau und später in Buchs nicht gelungen war, das Kokain zu organisieren, sei das Geschäft vertagt worden. Ende Februar 2003 soll X.________ ein Treffen von B.________ und C.________ in Zürich vermittelt haben, an dem C.________ den Preis von Fr. 11'000.-- entgegengenommen habe, ohne die vereinbarten 200 Gramm Kokain zu liefern. Anfang März 2003 soll X.________ dem B.________ ein Ersatzgeschäft in der Höhe von Fr. 35'000.-- für einen grösseren Anteil an drei Kilogramm Kokain vorgeschlagen haben. Das Geschäft sei anlässlich eines Treffens in Aarau mit B.________, der von C.________ mit dem Auto abgeholt wurde, an den Bahnhof Solothurn verlegt worden, dann aber gescheitert. X.________ bestreitet die Vorwürfe.
B.
Das Obergericht des Kantons Aargau wies die Berufung von X.________ mit Urteil vom 15. Dezember 2005 ab.
C.
X.________ führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts aufzuheben.
Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau haben auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Entscheid in seinen rechtlich geschützten Interessen betroffen (Art. 88 OG). Er macht die Verletzung verfassungsmässiger Rechte geltend (Art. 84 Abs. 1 lit. a OG). Dazu ist er befugt. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten, unter Vorbehalt der nachfolgenden Erwägungen.
2.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK. Er und sein Verteidiger hätten dem Belastungszeugen B.________ keine Zusatzfragen stellen können. B.________ sei der eigentliche Kronzeuge der Anklage, seine Aussagen bildeten die zentrale Stütze für die Verurteilung. Demzufolge unterlägen seine Aussagen einem vollständigen Verwertungsverbot.
3.
3.1 Das Bezirksgericht würdigte die Aussagen von C.________, A.________, B.________ sowie jene des Beschwerdeführers. Das Gericht habe den Umstand, dass sich der Zeuge B.________ weigere, Fragen der Verteidigung zu beantworten, frei zu würdigen. Ausnahmen vom Fragerecht seien nicht erst dann zulässig, wenn das streitige Zeugnis für einen Schuldspruch nicht benötigt würde, sondern bereits dann, wenn andere, nicht bloss nebensächliche, sondern gewichtige Beweise vorlägen. Das Bezirksgericht gelangte aufgrund der Übereinstimmung der Zeugenaussagen von A.________ und C.________ mit jenen von B.________ sowie der unschlüssigen Sachverhaltsdarstellung des Beschwerdeführers zur Überzeugung, dass dieser schuldig sei.
3.2 Auch das Obergericht verneinte ein Verwertungsverbot der Aussagen von B.________ und gelangte in freier Würdigung der Beweise zur gleichen Überzeugung wie das Bezirksgericht. A.________ und C.________ hätten im Untersuchungsverfahren glaubwürdig ausgesagt, wogegen ihre abschwächenden Aussagen vor Bezirksgericht unglaubwürdig seien. Es sei nicht nachvollziehbar, dass A.________ und C.________ im Untersuchungsverfahren falsche Aussagen gemacht hätten, mit denen sie sich selber belasteten. A.________ habe nicht nur die vorgehaltenen Aussagen von B.________ bestätigt, sondern von sich aus Angaben über die Kokainmenge gemacht. Bei C.________ sei kein Grund ersichtlich, wieso er den Beschwerdeführer, den er offenbar seit einiger Zeit kenne, hätte mit falschen Aussagen belasten sollen. Demgegenüber habe der Beschwerdeführer sich an gewisse, erst kurz zurückliegende Dinge nicht erinnern können, z.B. an den Inhalt eines Telefongesprächs mit B.________, und habe sich in Widersprüche verwickelt, etwa in der Darstellung, wie er B.________ kennen gelernt habe. Es sei unklar geblieben, wieso er sich Anfang Januar 2003 mit dem ihm damals unbekannten B.________ hätte treffen sollen, wenn nicht für Drogen.
4.
Nach den Verfahrensgarantien von Art. 6 Ziff. 1 i.V.m. Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK hat der Beschuldigte ein Recht darauf, den Belastungszeugen zu befragen. Eine belastende Zeugenaussage ist grundsätzlich nur verwertbar, wenn der Beschuldigte den Belastungszeugen wenigstens einmal während des Verfahrens in direkter Konfrontation befragen konnte. Um sein Fragerecht wirksam ausüben zu können, muss der Beschuldigte in die Lage versetzt werden, die persönliche Glaubwürdigkeit des Zeugen zu prüfen und den Beweiswert seiner Aussagen zu hinterfragen.
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kann auf eine Konfrontation des Angeklagten mit dem Belastungszeugen oder auf die Einräumung der Gelegenheit zu ergänzender Befragung des Zeugen unter besonderen Umständen verzichtet werden. So hat der Gerichtshof die fehlende Befragung unbeanstandet gelassen, wenn der Zeuge berechtigterweise das Zeugnis verweigerte (Urteil Asch gegen Österreich vom 26. April 1991, Serie A, Band 203, deutsch in: EuGRZ 1992 S. 474 f.; anders aber Urteil Unterpertinger gegen Österreich vom 24. November 1986, Serie A, Band 110, deutsch in: EuGRZ 1987 S. 147 ff.), der Zeuge trotz angemessener Nachforschungen unauffindbar blieb oder verstorben war (ausführliche Darstellung der Praxis des Gerichtshofs in BGE 131 I 476 E. 2.2 S. 481 f. und 125 I 127 E. 6c S. 133 ff.). Es ist in solchen Fällen gestützt auf Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. d EMRK erforderlich, dass der Beschuldigte dazu hinreichend Stellung nehmen kann, die Aussagen sorgfältig geprüft werden und ein Schuldspruch nicht allein darauf abgestützt wird (BGE 124 I 274 E. 5b S. 286). In diesem Sinne hat der Gerichtshof eine Konventionsverletzung bei der Verwendung einer Aussage aus einem ausländischen Gerichtsverfahren verneint, weil der Zeuge unauffindbar geworden war, die Aussage durch weitere Beweise gestützt wurde und den Gerichtsbehörden keine mangelnde Sorgfalt vorgeworfen werden konnte (Zulassungsentscheid Calabrò gegen Italien vom 21. März 2002, Recueil des arrêts et décisions 2002, Band V, S. 249).
5.
Es ist zu entscheiden, ob die kantonalen Gerichte ihr Urteil unter anderem auf die Aussagen von B.________ abstützen durften.
5.1 Erste Voraussetzung dafür ist, dass die Strafverfolgungsbehörden bei Beachtung der gehörigen Sorgfaltspflicht den Umstand nicht selber zu vertreten haben, dass der Beschwerdeführer sein Fragerecht nicht ausüben konnte.
Gemäss dem angefochtenen Urteil hat B.________ die den Beschwerdeführer belastenden Aussagen gegenüber der Kantonspolizei Bern am 10. Juni 2003 im Rahmen eines Strafverfahrens betreffend ein Tötungsdelikt gemacht. Der Beschwerdeführer wurde gemäss den kantonalen Akten am 24. Juni 2003 verhaftet und am folgenden Tag erstmals einvernommen.
Am 3. November 2003 sagte B.________ in Anwesenheit des Beschwerdführers und dessen Verteidigers vor dem Bezirksamt Aarau gemäss dem Wortprotokoll in den kantonalen Akten: "Ich habe meine Aussagen [am 10. und 11. Juni 2003] bei der Berner Polizei gemacht. Ich bestätige meine Aussagen, die ich bei der Berner Polizei gemacht habe. Ich habe nichts mehr weiteres dazu zu sagen." Anlässlich der Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht am 28. April 2004 führte er aus: "Ich habe meine Aussagen bei der Polizei gemacht. Die Aussagen stimmen. Ich habe nichts zu ergänzen." Der Beschwerdeführer und sein Verteidiger waren ebenfalls anwesend. Letzterer stellte bei beiden Einvernahmen jeweils eine Frage, worauf B.________ antwortete, er mache keine Aussagen. Auch ein Insistieren und eine Belehrung hinsichtlich des Rechts zur Zeugnisverweigerung durch die jeweils einvernehmende Person vermochten B.________ nicht zu weiteren Ausführungen zu bewegen.
Die kantonalen Behörden haben somit rechtzeitig zwei Konfrontationen des Belastungszeugen mit dem Angeschuldigten durchgeführt. Die zu beurteilende Sachlage liegt somit anders als jene der Urteile BGE 131 I 476 (E. 2.3.4 S. 486) und BGE 129 I 151 (E. 4.3 S. 158): Dort hatten die Behörden selber zu vertreten, dass der wegen Sexualdelikten Beschuldigte sein Fragerecht nicht (rechtzeitig) hatte wahrnehmen können. Im vorliegenden Fall haben die kantonalen Behörden das Scheitern der Befragung anlässlich beider Konfrontationen nicht zu vertreten.
Die zitierten Aussagen von B.________ zeigen überdies, dass er anlässlich der Konfrontationen - neben der Weigerung, Fragen zu beantworten - ausdrücklich auf seine früheren Aussagen verwies und diese bestätigte.
5.2 Sodann ist erforderlich, dass der Beschuldigte zu den belastenden Aussagen hinreichend Stellung nehmen konnte.
Der Beschwerdeführer ist anwaltlich vertreten. Er selber und sein Verteidiger wurden - wie erwähnt - zweimal mit dem Belastungszeugen B.________ konfrontiert. Beide waren gemäss den Wortprotokollen in den kantonalen Akten in der Hauptverhandlung vor Bezirksgericht und in der Berufungsverhandlung vor Obergericht anwesend, konnten sich einen persönlichen Eindruck des Zeugen B.________ machen und sich zu den Belastungen äussern. Damit hatte der Beschwerdeführer wiederholt Gelegenheit, zu den belastenden Aussagen Stellung zu nehmen.
5.3 Drittens muss sich die Verurteilung auf weitere erhebliche Beweismittel abstützen.
Die kantonalen Gerichte beurteilten die Aussagen dreier Zeugen in freier Beweiswürdigung. Nach dem Obergericht stimmen die Aussagen von A.________ und B.________ in den wesentlichen Punkten überein, jene von C.________ und B.________ hinsichtlich des Treffens in Zürich und hinsichtlich des Treffens in Aarau von Anfang März 2003, als C.________ den B.________ mit seinem Auto nach Aarau brachte. Das Obergericht stützte sich somit nicht nur auf die Aussagen von B.________, sondern auch auf jene von A.________ und C.________. Der Beschwerdeführer legt nicht dar, dass und weshalb diese beiden Zeugenaussagen unerheblich wären. Demnach stützt sich die Verurteilung auf weitere erhebliche Beweismittel.
5.4 Da der Beschwerdeführer nach dem Gesagten ein faires Verfahren hatte, seine Verteidigungsrechte wirksam wahrnehmen konnte und kein Versäumnis der Behörde vorliegt, durften die kantonalen Gerichte die Aussagen von B.________ in die freie Beweiswürdigung einbeziehen. Es liegt somit keine Verletzung des Fragerechts gemäss Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK vor.
6.
Die Beschwerde ist abzuweisen. Bei diesem Ausgang trägt der Beschwerdeführer die Kosten des Verfahrens (Art. 156 Abs. 1 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 29. Mai 2006
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: