BGer 5C.208/2005
 
BGer 5C.208/2005 vom 14.02.2006
Tribunale federale
{T 0/2}
5C.208/2005 /bnm
Urteil vom 14. Februar 2006
II. Zivilabteilung
Besetzung
Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Hohl,
Gerichtsschreiber Möckli.
Parteien
X.________,
Kläger und Berufungskläger,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Kurt Pfau,
gegen
Y.________,
Beklagte und Berufungsbeklagte,
vertreten durch Rechtsanwalt Jean-Christophe Schai,
Gegenstand
Abänderung eines Scheidungsurteils,
Berufung gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Zivilkammer, vom 8. Juni 2005.
Sachverhalt:
A.
Am 16. Mai 1990 wurde die Ehe zwischen X.________ und Y.________ geschieden und der gemeinsame Sohn U.________, geb. 1989, unter die elterliche Sorge der Mutter gestellt. Gemäss gerichtlich genehmigter Scheidungsvereinbarung hat X.________ einen Kinderunterhaltsbeitrag von Fr. 600.-- bis zum zehnten Altersjahr und anschliessend von Fr. 700.-- zu bezahlen. Zufolge Indexierung beträgt der geschuldete Unterhaltsbeitrag aktuell Fr. 840.--.
B.
Am 13. Juni 2002 verlangte X.________ die gerichtliche Herabsetzung dieses Unterhaltsbeitrags. Mit Urteil vom 11. August 2004 wies die Einzelrichterin der 6. Abteilung des Bezirksgerichts Zürich die Klage ab.
Mit Urteil vom 8. Juni 2005 setzte das Obergericht des Kantons Zürich, I. Zivilkammer, die Unterhaltspflicht ab 1. Januar 2005 auf Fr. 600.-- herab, wobei die ursprüngliche Verpflichtung gemäss Scheidungsurteil vom 16. Mai 1990 wieder auflebe, sobald X.________ wieder ein monatliches Nettoeinkommen von Fr. 3'000.-- erziele.
C.
Gegen dieses Urteil hat X.________ am 30. August 2005 Berufung erhoben mit den Begehren um dessen Aufhebung und um Rückweisung der Sache, eventualiter um Festsetzung des Unterhalts auf Fr. 350.-- für den Monat Juli 2004, auf Fr. 372.-- für die Monate August bis November 2004 und auf Fr. 0.-- ab Dezember 2004. Mit Berufungsantwort vom 4. November 2005 stellt die Beklagte die Begehren, auf die Berufung sei nicht einzutreten, eventualiter sei sie abzuweisen. Beide Parteien verlangen die unentgeltliche Rechtspflege.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Beklagte begründet ihren Nichteintretensantrag damit, dass der Kläger seit Jahren keinen Rappen an Unterhaltszahlungen überweise und er deshalb gar kein Rechtsschutzinteresse an einem abändernden Entscheid habe. Dem ist entgegenzuhalten, dass sich der Kläger aufgrund der gerichtlich festgesetzten Unterhaltsverpflichtungen jedenfalls potentiell mit Nachforderungen der Klägerin bzw. Rückforderungen der Behörden aus Alimentenbevorschussung konfrontiert sieht. Insofern hat er ein Interesse an der materiellen Herabsetzung bzw. Aufhebung der Unterhaltspflicht. Auf die Berufung ist somit einzutreten.
2.
Das Obergericht hat u.a. festgehalten, der Kläger habe im Scheidungszeitpunkt über ein Bruttoeinkommen von Fr. 3'500.-- verfügt und sowohl an seinen (inzwischen erwachsenen) Sohn in Frankreich Unterhalt bezahlen als auch Schulden tilgen müssen. Der Kläger rügt diesbezüglich, die finanziellen Verhältnisse im Jahr 1990 seien nur sehr allgemein abgeklärt und erfasst worden; so lasse sich den Akten weder das damalige effektive Nettoeinkommen noch der tatsächlich zu leistende Unterhaltsbeitrag für sein Kind in Frankreich entnehmen.
Abgesehen davon, dass nach den obergerichtlichen Ausführungen die Zahl von Fr. 3'500.-- aus dem Parteiverhör mit dem Kläger stammt, beschlagen seine Rügen die kantonalen Sachverhaltsfeststellungen, weshalb sie mit staatsrechtlicher Beschwerde hätten vorgetragen werden müssen (Art. 43 Abs. 1 i.V.m. Art. 55 Abs. 1 lit. c und Art. 63 Abs. 2 OG). Ohnehin wären sie für das vorliegende Verfahren gar nicht relevant oder jedenfalls nicht ausschlaggebend, hat doch das Obergericht nicht die Abänderungsklage mit der Begründung abgewiesen, es mangle an veränderten Verhältnissen; vielmehr hat es für die einzelnen Monate durch Subtraktion der zu berücksichtigenden effektiven Ausgaben vom jeweiligen tatsächlichen Einkommen die für die Unterhaltszahlungen verfügbare Summe eruiert und sein Urteil auf diese konkreten Berechnungen gestützt.
3.
Soweit der Kläger geltend macht, zufolge des schwankenden Umfangs seiner Erwerbstätigkeit beim Hotel S.________ sei auf die konkreten Einkünfte abzustellen, fordert er nichts anderes, als was das Obergericht mit seinen konkreten Berechnungen für die einzelnen Monate getan hat. Ob der Kläger mit seiner Folgerung, wegen des schwankenden Einkommens sei auf einen Durchschnittswert abzustellen, sinngemäss eine andere Vorgehensweise als die vom Obergericht gewählte fordert (gleichmässiges Abstellen auf einen langjährigen Durchschnittswert statt Einzelbetrachtung der jeweiligen Einkommensperioden), kann offen gelassen werden, weil die Wahl der konkreten Berechnungsmethoden und -modalitäten im Ermessen der kantonalen Gerichte steht (BGE 128 III 411 E. 3.2.2 S. 414).
4.
Das Obergericht hat festgehalten, dass der Kläger dem aus zweiter Ehe stammenden Sohn V.________, geb. 1998, Unterhaltsbeiträge von Fr. 550.-- pro Monat schuldet. Es hat jedoch im klägerischen Existenzminimum nicht diesen Betrag, sondern nur die jeweils getätigten (tieferen bzw. teilweise gar nicht erfolgten) Zahlungen berücksichtigt. Der Kläger hält dies für bundesrechtswidrig, weil ein Unterhaltsschuldner erfahrungsgemäss für die Restanz betrieben werde.
Nach der neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung findet die Unterhaltspflicht ihre Grenze am Existenzminimum des Verpflichteten; diese Rechtsprechung erstreckt sich namentlich auch auf Kinderalimente (BGE 123 III 1 3b/bb S. 5; 127 III 68 E. 2c S. 70; 128 III 411 E. 3.2.1 S. 414). Demnach ist vorliegend zu entscheiden, ob der Schuldner angesichts der tatsächlichen Verhältnisse auf der Einkommens- und Ausgabeseite den rechtskräftig festgesetzten Unterhalt für U.________ unter Wahrung des Existenzminimums nach wie vor bezahlen kann. Ist jedoch für die Berechnung des Existenzminimums von den tatsächlichen Verhältnissen auszugehen, sind nicht die gesetzlichen oder vertraglichen Verpflichtungen des Schuldners massgeblich, sondern ist auf das an den Tag gelegte effektive Zahlungsverhalten abzustellen; diese Grundsätze gelten insbesondere auch für Unterhaltsbeiträge (BGE 121 III 20 E. 3a S. 22 f.). Hat aber die Vorinstanz bei der Berechnung des klägerischen Existenzminimums die einschlägige bundesgerichtliche Rechtsprechung befolgt, kann diesbezüglich von vornherein keine Verletzung von Bundesrecht gegeben sein.
5.
Das Obergericht hat weiter festgestellt, dass sich der Kläger inzwischen zum dritten Mal verheiratet hat, und in diesem Zusammenhang erwogen, die neue Ehefrau sei aufgrund ihrer ehelichen Beistandspflicht gehalten, den Kläger bei der Erfüllung seiner unterhaltsrechtlichen Pflichten zu unterstützen oder jedenfalls nicht zu behindern. Angesichts der zur Verfügung stehenden Mittel bedeute dies, dass sie wenigstens für ihren eigenen Unterhalt aufkommen müsse. Als Folge könne im Existenzminimum des Klägers nur der hälftige Grundbetrag für ein Ehepaar und nur die Hälfte des Mietzinses berücksichtigt werden.
Der Kläger wendet dagegen ein, seine Frau, die vorher in der Romandie um Asyl nachgesucht habe, über keine Deutschkenntnisse verfüge und ihre berufliche Ausbildung in der Schweiz nicht ohne weiteres verwerten könne, sei objektiv nicht in der Lage, an den ehelichen Unterhalt beizutragen, weshalb die vom Obergericht genannten Grundsätze im vorliegenden Fall nicht zum Tragen kommen könnten.
Mit seinen Vorbringen versucht der Kläger neue Tatsachen einzuführen, die sich im angefochtenen Urteil nicht finden. Dies ist im Berufungsverfahren unzulässig (Art. 55 Abs. 1 lit. c und Art. 63 Abs. 2 OG); der Kläger hätte diesbezüglich staatsrechtliche Beschwerde erheben und vorbringen müssen, das Obergericht habe es in willkürlicher Weise unterlassen, entsprechende Tatsachenfeststellungen zu treffen (Art. 43 Abs. 1 i.V.m. Art. 84 Abs. 1 lit. a OG). Dass die neue Ehefrau objektiv gar nicht in der Lage wäre, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und so an den ehelichen Unterhalt beizutragen, lässt sich entgegen den sinngemässen Vorbringen des Klägers auch nicht aus dem Umstand ableiten, dass sie offenbar durch die Fürsorge unterstützt wird, wird doch bei den Fürsorgeleistungen gerade kein hypothetisches Einkommen angerechnet und hängen diese mit anderen Worten nicht von einer objektiven Erwerbsunmöglichkeit, sondern von den tatsächlichen Einkommens- und Vermögensverhältnissen ab. Ob es vertretbar wäre, wenn Fürsorgeleistungen bei objektiv unmöglicher Erwerbsarbeit letztlich indirekt zum Unterhalt eines vorehelichen Kindes des anderen Ehegatten dienen würden, kann demnach ebenso offen bleiben wie die in der Lehre umstrittene Frage, ob die neue Ehefrau gegenüber Kindern aus früherer Ehe den Vorzug geniesst, ob umgekehrt der Kinderunterhalt dem Ehegattenunterhalt generell vorgeht oder ob beide Ansprüche gleichwertig sind (vgl. zur Kontroverse: Hegnauer, Berner Kommentar, N. 10 f. zu Art. 285 ZGB; Hausheer/Spycher, Handbuch des Unterhaltsrechts, Bern 1997, Rz. 08.28 f.).
Die rechtliche Erwägung, wonach die neue Ehefrau aufgrund der ehelichen Beistandspflicht mehr an den gemeinsamen Unterhalt beitragen (und hierfür je nach Umständen sogar eine Erwerbstätigkeit aufnehmen oder die bestehende ausdehnen) müsse, um dem Ehemann die Zahlung des geschuldeten Unterhalts an sein voreheliches Kind zu ermöglichen, wird vom Kläger als solche nicht in Frage gestellt, beschränkt er doch seine Rügen auf tatsächliche Vorbringen, die nach dem Gesagten im Berufungsverfahren unzulässig sind; im Übrigen entspricht die obergerichtliche Erwägung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (127 III 68 E. 3 S. 72; vgl. auch Bühler/ Spühler, Berner Kommentar, N. 105 zu Art. 157 aZGB).
Vor diesem Hintergrund und angesichts des den kantonalen Instanzen bei der Unterhaltsfestsetzung zukommenden weiten Ermessens (Art. 4 ZGB; BGE 127 III 136 E. 3a S. 141; zur diesbezüglich zurückhaltenden Überprüfung durch das Bundesgericht: BGE 128 III 161 E. 2c/aa S. 162), lässt sich jedenfalls nicht von Ermessensmissbrauch sprechen, wenn das Obergericht als Folge seiner Überlegungen im schuldnerischen Existenzminimum nur den hälftigen Ehepaaransatz und die Hälfte des Mietzinses berücksichtigt und somit dem Kläger im Ergebnis ein tieferes Existenzminimum zugestanden hat, als wenn er sich nicht neu verheiratet hätte.
6.
Hält jedoch die Berücksichtigung des Unterhaltes für den Sohn V._______ nur in der Höhe der effektiven Zahlungen sowie die Berücksichtigung der Beistandspflicht der neuen Ehefrau vor Bundesrecht stand, fällt die Berufung in sich zusammen, werden doch die konkreten Berechnungen des Obergerichts einzig vor diesem Hintergrund kritisiert. Weitergehende Beanstandungen würden ohnehin die für das Bundesgericht im Berufungsverfahren verbindlichen kantonalen Sachverhaltsfeststellungen betreffen (Art. 63 Abs. 2 OG) und wären deshalb unzulässig (Art. 55 Abs. 1 lit. c OG).
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Berufung abzuweisen ist, soweit auf sie eingetreten werden kann.
7.
Die Berufung kann nicht geradezu als von vornherein aussichtslos bezeichnet werden, weshalb den offensichtlich prozessarmen Parteien die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren ist, je unter Beiordnung des sie vertretenden Anwalts (Art. 152 OG). Die Gerichtsgebühr, welche nach dem Verfahrensausgang dem Kläger aufzuerlegen ist, wird demzufolge einstweilen auf die Gerichtskasse genommen und beide Parteivertreter sind aus der Gerichtskasse angemessen zu entschädigen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Berufung wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Beiden Parteien wird die unentgeltliche Rechtspflege erteilt, je unter Beiordnung des sie vertretenden Anwalts.
3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Kläger auferlegt, jedoch einstweilen auf die Gerichtskasse genommen.
4.
Dr. Kurt Pfau und RA Jean-Christophe Schai werden für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Gerichtskasse mit je Fr. 1'000.-- entschädigt.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 14. Februar 2006
Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: