BGer 6P.91/2005
 
BGer 6P.91/2005 vom 15.11.2005
Tribunale federale
{T 0/2}
6P.91/2005 /bri
6S.260/2005
Urteil vom 15. November 2005
Kassationshof
Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Zünd,
Gerichtsschreiberin Arquint Hill.
Parteien
X.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt André Kuhn,
gegen
Y.________,
Beschwerdegegner, vertreten durch Fürsprecher Dr. Jan Kocher,
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau,
Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau.
Gegenstand
6S.260/2005
Wiederherstellung der Beschwerdefrist (Einstellung der Strafuntersuchung),
6P.91/2005
Art. 9 und 29 Abs. 2 BV sowie Art. 6 EMRK (Wiederherstellung der Frist; Willkür, rechtliches Gehör),
Nichtigkeitsbeschwerde (6S.260/2005) und Staatsrechtliche Beschwerde (6P.91/2005) gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 1. Juni 2005.
Sachverhalt:
A.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau stellte am 9. November 2004 die von X.________ angestrengte Strafuntersuchung gegen ihren ehemaligen Lebenspartner Y.________ wegen Vergewaltigung, Schändung und sexueller Nötigung ein. Gegen diese Verfügung, welche X.________ am 14. Dezember 2004 zugestellt wurde, erhob sie am 25. Januar 2005 Beschwerde. Darauf trat das Obergericht des Kantons Aargau am 23. Februar 2005 wegen Versäumens der Beschwerdefrist nicht ein. Das von X.________ eingereichte Gesuch um Fristwiederherstellung wies es am 1. Juni 2005 ab.
B.
X.________ erhebt staatsrechtliche Beschwerde und eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde. Mit beiden Rechtsmitteln beantragt sie, die obergerichtlichen Entscheide sowie die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft seien aufzuheben und die zuständige kantonale Untersuchungsbehörde sei anzuweisen, die Strafuntersuchung wieder aufzunehmen und Anklage zu erheben.
C.
Das Obergericht verzichtet auf eine Stellungnahme zu den Beschwerden. Vernehmlassungen wurden nicht eingeholt.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Beschwerdeführerin wendet sich in beiden Beschwerden gegen den in Rechtskraft erwachsenen Nichteintretensentscheid des Obergerichts. Insofern kann auf diese infolge Verspätung nicht eingetreten werden (vgl. Art. 89 Abs. 1 OG und Art. 272 Abs. 1 BStP).
Eingetreten werden kann auf die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde auch nicht, soweit sich die Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts über die Abweisung des Gesuchs um Wiederherstellung der Frist richtet. Dieser Entscheid ist ein letztinstanzlicher kantonaler Endentscheid (Art. 86 Abs. 1 OG), der sich auf kantonales Strafprozessrecht stützt, und kann daher nur mit staatsrechtlicher Beschwerde angefochten werden (Art. 269 Abs. 1 BStP, Art. 84 Abs. 1 OG).
2.
Hinsichtlich der staatsrechtlichen Beschwerde ist die Beschwerdeführerin durch die Abweisung ihres Wiedereinsetzungsgesuchs in ihren rechtlich geschützten Interessen berührt (Art. 88 OG), weshalb sie befugt ist, die Verletzung verfassungsmässiger Rechte zu rügen. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, so dass auf die Beschwerde, unter dem Vorbehalt gehörig begründeter Rügen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 127 I 38 E. 3c; 125 I 492 E. 1b), einzutreten ist.
Nicht einzutreten ist allerdings auf die Beschwerde, soweit mehr als die Aufhebung des angefochtenen Entscheids verlangt wird, da die staatsrechtliche Beschwerde grundsätzlich rein kassatorischer Natur ist (BGE 129 I 173 E. 1.5, mit Hinweis).
3.
3.1 Säumnisfolgen bei Fristen können gegebenenfalls durch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand behoben werden. An ihre Gewährung stellen die Gesetze allerdings strenge Bedingungen. So ist die Wiederherstellung gegen die Folgen der Säumnis einer Frist gemäss § 53 der Strafprozessordnung des Kantons Aargau (StPO) nur zulässig, wenn der Gesuchsteller, sein Verteidiger oder sein Vertreter durch ein unverschuldetes Hindernis abgehalten worden ist, innert Frist zu handeln, und innert 20 Tagen nach Wegfall des Hindernisses Wiederherstellung verlangt. Die Säumnis muss also "unverschuldet" sein, z.B. auf plötzlicher Erkrankung beruhen (vgl. Robert Hauser/Erhard Schweri/ Karl Hartmann, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Aufl., Basel 2005, § 43 N. 31).
3.2 Die Beschwerdeführerin bzw. ihr Rechtsanwalt haben die Frist zur Erhebung der Beschwerde gegen die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft verpasst. Diese Säumnis ist nach dem Dafürhalten des Obergerichts verschuldet, da es die anwaltliche Sorgfalt erfordert hätte, die publizierte obergerichtliche Praxis zur Frage der Anwendbarkeit der Gerichtsferienregelung auf Einstellungsentscheide der Staatsanwaltschaft gemäss § 52 Abs. 1 StPO/AG zu konsultieren. Die im Jahre 1990 veröffentlichte Praxisänderung, wonach die Frist zur Beschwerde gegen die Einstellung des Ermittlungs- oder Untersuchungsverfahrens durch die Gerichtsferien nicht unterbrochen werde, sei als solche bezeichnet worden und seit Jahren gefestigt.
3.3 Die Beschwerdeführerin macht überspitzten Formalismus und damit eine formelle Rechtsverweigerung geltend. Die vom Obergericht angerufene Praxisänderung habe sich trotz der Publikation in einem elektronisch nicht abrufbaren Medium weder ihr noch ihrem Vertreter erschlossen. Aus der einschlägigen Literatur und Judikatur, namentlich dem aktuellen Kommentar der aargauischen Strafprozessordnung, ergäben sich darauf jedenfalls keine Hinweise.
3.4 Das aus Art. 29 Abs. 1 BV fliessende Verbot des überspitzten Formalismus richtet sich gegen prozessuale Formenstrenge, die als exzessiv erscheint, durch kein schutzwürdiges Interesse gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert oder gar verhindert. Das Bundesgericht prüft frei, ob eine solche Rechtsverweigerung vorliegt (BGE 127 I 31 E. 2 a/bb; 125 I 166 E. 3a).
3.5 Die Beschwerdeführerin bzw. ihr Rechtsvertreter haben sich bei ihren Abklärungen offenbar einzig auf einen Kommentar aus dem Jahre 1980 gestützt (Beat Brühlmeier, Aargauische Strafprozessordnung, Kommentar, 2. Auflage, Aarau 1980). Die (spätere) publizierte Rechtsprechung des Obergerichts haben sie indes nicht konsultiert. Dieses hat seine Praxisänderung, wonach gemäss § 52 Abs. 1 StPO/AG für Beschwerden gegen die im Ermittlungs- oder Untersuchungsverfahren erlassenen Entscheide der Strafverfolgungsbehörden keine Gerichtsferien gelten, in der kantonalen Entscheidsammlung veröffentlicht (AGVE 1990, Nr. 27, S. 97f.). Vor diesem Hintergrund hat das Obergericht das Versäumen der Beschwerdefrist zu Recht als unentschuldbar im Sinne von § 53 StPO/AG bezeichnet. Die Beschwerdeführerin bzw. ihr Rechtsanwalt hätten sich nicht einzig auf die Angaben in einem älteren Kommentar verlassen dürfen, ohne einen Blick in die (spätere) publizierte kantonale Rechtsprechung zu werfen, welche im Übrigen auch über "Swisslex" im Internet abrufbar ist. Der Vorwurf des überspitzten Formalismus erweist sich als unbegründet.
4.
Aus diesen Gründen ist die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt die Beschwerdeführerin die bundesgerichtlichen Kosten (Art. 156 Abs. 1 OG und Art. 278 Abs. 1 BStP).
Demnach erkennt das Bundesgericht im Verfahren nach Art. 36a OG:
1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Auf die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird nicht eingetreten.
3.
Der Beschwerdeführerin wird eine Gerichtsgebühr von insgesamt Fr. 3'000.-- auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 15. November 2005
Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: