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Original
 
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
6S.366/2004 /pai
Urteil vom 16. Februar 2005
Kassationshof
Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Karlen, Zünd,
Gerichtsschreiber Weissenberger.
Parteien
X.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Marianne Schaerer,
gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Postfach, 8023 Zürich.
Gegenstand
Grobe Verletzung von Verkehrsregeln,
Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, II. Strafkammer, vom 30. Juni 2004.
Sachverhalt:
A.
X.________ fuhr am 8. Dezember 2002, kurz nach Mitternacht, mit seinem Taxi in Zürich beim Central in Richtung Weinbergstrasse. Er hielt unmittelbar vor dem dortigen Fussgängerstreifen an, um zwei von der Traminsel her kommenden Fussgängern den Vortritt zu gewähren. Mittels Handzeichen trieb er die Fussgänger zur Eile an. Als diese am Taxi fast vorbeigeschritten waren, beschleunigte X.________ sein Fahrzeug und fuhr mit einer Geschwindigkeit von circa 15 km/h in einem Abstand von 30 bis 40 cm hinter den Fussgängern durch.
B.
Mit Urteil vom 30. Juni 2004 sprach das Obergericht des Kantons Zürich X.________ dafür und wegen anderer Taten in zweiter Instanz der groben Verletzung von Verkehrsregeln (Art. 90 Ziff. 2 SVG i.V.m. Art. 34 Abs. 4 SVG), der mehrfachen Verletzung von Verkehrsregeln (im Sinne von Art. 90 Ziff. 1 SVG i.V.m. Art. 33 Abs. 2 SVG und Art. 6 Abs. 1 VRV sowie i.V.m. Art. 37 Abs. 2 SVG), der Tätlichkeit (Art. 126 Abs. 1 StGB), der Übertretung gegen das Waffengesetz (Art. 33 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 WG) sowie der Sachbeschädigung (Art. 144 Abs. 1 StGB) schuldig und bestrafte ihn mit einer bedingten Zusatzstrafe zu einem früheren Urteil von drei Monaten Gefängnis. Vom Vorwurf der Verletzung von Verkehrsregeln gegenüber den Fussgängern A.________ und B.________ im Sinne von Art. 90 Ziff. 1 SVG in Verbindung mit Art. 33 Abs. 1 SVG (Pflicht, Fussgängern das Überqueren der Fahrbahn in angemessener Weise zu ermöglichen) sprach ihn das Gericht frei.
C.
X.________ erhebt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit den Anträgen, er sei statt der groben Verkehrsregelverletzung der einfachen Verletzung von Verkehrsregeln nach Art. 90 Ziff. 1 SVG in Verbindung mit Art. 34 Abs. 4 SVG schuldig zu sprechen, es sei die Dauer der als Zusatzstrafe ausgefällten Gefängnisstrafe von drei Monaten angemessen zu reduzieren und eventuell nur eine Busse auszusprechen, und er sei von der Übernahme der zweitinstanzlichen Kosten zu entlasten.
Das Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, verzichtet auf eine Stellungnahme zur Beschwerde.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde ist kassatorischer Natur (Art. 277ter Abs. 1 BStP). Soweit der Beschwerdeführer mehr beantragt, als das angefochtene Urteil aufzuheben, ist er nicht zu hören.
2.
Der Beschwerdeführer macht geltend, seine Verurteilung wegen grober Verletzung von Verkehrsregeln gemäss Art. 90 Ziff. 2 SVG verletze Bundesrecht. Sein Fehlverhalten sei höchstens als mittelschwere Widerhandlung im Sinne von Art. 90 Ziff. 1 SVG zu werten.
2.1 Das Bundesgericht ist an die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz, wie sie oben (Sachverhalt, Bst. A.) wiedergegeben sind, gebunden (Art. 277bis Abs. 1 BStP).
2.2 Wer Verkehrsregeln des Strassenverkehrsgesetzes oder der Vollziehungsvorschriften des Bundesrates verletzt, wird mit Haft oder mit Busse bestraft (Art. 90 Ziff. 1 SVG). Wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt, wird mit Gefängnis oder mit Busse bestraft (Art. 90 Ziff. 2 SVG). Diese Bestimmungen sind von der Teilrevision des SVG vom 14. Dezember 2001 (AS 2002 2767, 2004 2849 und 5053) unberührt geblieben.
Der qualifizierte Tatbestand von Art. 90 Ziff. 2 SVG ist objektiv erfüllt, wenn der Täter eine wichtige Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise missachtet und die Verkehrssicherheit ernstlich gefährdet. Eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer ist nicht erst bei einer konkreten, sondern bereits bei einer erhöhten abstrakten Gefährdung gegeben (BGE 123 II 106 E. 2a; 123 IV 88 E. 3a, je mit Hinweisen). Ob eine konkrete, eine erhöhte abstrakte oder nur eine abstrakte Gefahr geschaffen wird, hängt von der Situation ab, in welcher die Verkehrsregelverletzung begangen wird. Wesentliches Kriterium für die Annahme einer erhöhten abstrakten Gefahr ist die Nähe der Verwirklichung. Die allgemeine Möglichkeit der Verwirklichung einer Gefahr genügt demnach nur zur Erfüllung des Tatbestands von Art. 90 Ziff. 2 SVG, wenn in Anbetracht der Umstände der Eintritt einer konkreten Gefährdung oder gar einer Verletzung nahe liegt (BGE 123 IV 88 E. 3a; 118 IV 285 E. 3a). Subjektiv erfordert der Tatbestand von Art. 90 Ziff. 2 SVG nach der Rechtsprechung ein rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend verkehrswidriges Verhalten, d.h. ein schweres Verschulden, bei fahrlässigem Handeln mindestens grobe Fahrlässigkeit (BGE 126 IV 192 E. 3; 123 IV 88 E. 2a und E. 4a; 118 IV 285 E. 4). Rücksichtslos ist unter anderem ein bedenkenloses Verhalten gegenüber fremden Rechtsgütern. Dieses kann auch in einem blossen (momentanen) Nichtbedenken der Gefährdung fremder Interessen bestehen (nicht veröffentlichte Urteile 6S.11/2002 vom 20. März 2002 und 6S.56/1994 vom 11. April 1994).
2.3 Die Vorinstanz wirft dem Beschwerdeführer gemäss Dispositiv des angefochtenen Urteils die Verletzung von Art. 34 Abs. 4 SVG vor. Nach dieser Bestimmung ist gegenüber allen Strassenbenützern ein ausreichender Abstand zu wahren, namentlich beim Kreuzen und Überholen sowie beim Neben- und Hintereinanderfahren. Diese Abstandsregel richtet sich sowohl an motorlose Fahrzeuge als auch an Motorfahrzeuge und gilt insbesondere auch gegenüber Fussgängern, und zwar nicht nur beim Kreuzen und Überholen derselben (BGE 72 II 132; 83 IV 35; 91 IV 86), sondern bei jeglichem Vorbeifahren. Überqueren wie hier - zum Vortritt berechtigte (vgl. Art. 33 Abs. 2 SVG) - Fussgänger einen Fussgängerstreifen, müssen die vortrittsbelasteten Fahrzeuglenker ihnen das Überqueren der Fahrbahn in angemessener Weise ermöglichen und so lange zuwarten, bis sie die Fahrbahn vollständig überquert haben bzw. eine Durchfahrt situationsgerecht mit einem genügenden Sicherheitsabstand gefahrlos möglich ist. Die Grösse des seitlichen Abstandes, der gegenüber Fussgängern einzuhalten ist, kann nicht allgemein zahlenmässig festgelegt werden. Sie richtet sich vielmehr unter anderem nach der Breite der Fahrbahn, den Verkehrs- und Sichtverhältnissen, der Geschwindigkeit des Fahrzeugs sowie dem Alter und dem Verhalten der Fussgänger (vgl. BGE 91 IV 86 E. 2 zum Überholen).
Wie die Vorinstanz zutreffend erkannt hat, ist Art. 34 Abs. 4 SVG eine zentrale Verkehrsvorschrift zum Schutze der anderen Verkehrsteilnehmer, insbesondere der nicht abgeschirmten Fussgänger. Der Beschwerdeführer hat diese Abstandsregel in nicht mehr leicht wiegender Weise missachtet. Er hat aus Ungeduld nicht abgewartet, bis die Fussgänger den Streifen ganz oder zumindest weitgehend überquert hatten, sondern ist bereits angefahren, als die Fussgänger an seinem Fahrzeug erst knapp vorbeigegangen waren. Der Abstand von 30 bis 40 cm, mit dem der Beschwerdeführer hinter den Fussgängern durchfuhr, verletzt unter den zu beurteilenden Umständen Art. 34 Abs. 4 SVG klar. Hingegen fehlt es für die Erfüllung des objektiven Tatbestandes von Art. 90 Ziff. 2 SVG am Erfordernis der ernstlichen Gefährdung der Verkehrssicherheit. Wesentlich ist, dass der Beschwerdeführer aus dem Stillstand anfuhr und die erwachsenen Fussgänger mit einer Geschwindigkeit von lediglich 15 km/h kreuzte. Zudem waren die Fussgänger bereits knapp vor seinem Fahrzeug vorbeigegangen, als der Beschwerdeführer anfuhr. Sie schritten ferner von der Fahrbahn weg auf das Trottoir zu. Der Beschwerdeführer vertraute offensichtlich als Berufsfahrer darauf, dass während der zeitlichen Verzögerung zwischen dem Anfahren und dem Befahren des Fussgängerstreifens die Fussgänger bereits eine genügende Strecke zurückgelegt hätten, um gefahrlos an ihnen vorbeizufahren. Da sich die Fussgänger vom Fahrzeug wegbewegten und sich dieses beim Kreuzen in ihrem Rücken befand, lag eine (Fehl-)Reaktion der Fussgänger, beispielsweise ein Schritt zurück, ein Drehen des Körpers oder eine Rückwärtsbewegung mit dem Arm, bei einem Abstand von 30 bis 40 cm und der gefahrenen Geschwindigkeit eher fern. Es fehlt damit an einer konkreten oder erhöht abstrakten Gefährdung der Fussgänger im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG, auch wenn eine Fehl- oder Schreckreaktion der Fussgänger unter den gegebenen Umständen allgemein möglich war (vgl. BGE 123 IV 88 E. 3a; 118 IV 285 E. 3a).
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Verurteilung wegen grober Verkehrsregelverletzung gemäss Art. 90 Ziff. 2 SVG Bundesrecht verletzt. Ausgehend vom festgestellten Sachverhalt handelt es sich beim Fehlverhalten des Beschwerdeführers um eine objektiv und subjektiv mittelschwere Widerhandlung im Sinne von Art. 90 Ziff. 1 SVG, was der Beschwerdeführer in seiner Beschwerde auch einräumt.
3.
Die Beschwerde ist gutzuheissen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben und ist dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung aus der Bundesgerichtskasse auszurichten.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist, das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, II. Strafkammer, vom 30. Juni 2004 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
2.
Es werden keine Kosten erhoben.
3.
Dem Beschwerdeführer wird eine Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- aus der Bundesgerichtskasse ausgerichtet.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich und dem Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 16. Februar 2005
Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: