BGer 2P.101/2004
 
BGer 2P.101/2004 vom 14.10.2004
Tribunale federale
{T 0/2}
2P.101/2004 /zga
Urteil vom 14. Oktober 2004
II. Öffentlichrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Wurzburger, Präsident,
Bundesrichter Betschart, Hungerbühler,Bundesrichterin Yersin, Bundesrichter Merkli,
Gerichtsschreiberin Diarra.
Parteien
X.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
Dr. Andreas Brauchli,
gegen
Oberstufengemeinde Hüttwilen, 8536 Hüttwilen,
Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Markus Bürgi,
Departement für Erziehung und Kultur des Kantons Thurgau, Regierungsgebäude, 8510 Frauenfeld,
Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, Frauenfelderstrasse 16, 8570 Weinfelden.
Gegenstand
Art. 9 und 19 BV (Schülertransport),
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid
des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
vom 4. Februar 2004.
Sachverhalt:
A.
Gemäss § 34 des thurgauischen Gesetzes vom 15. November 1980 über das Unterrichtswesen (Unterrichtsgesetz/TG) können die Schulbehörden für verkehrsmässig ungünstig liegende Gebiete, bei gefährlichen Schulwegen oder um Gemeinschaftslösungen zu ermöglichen, für die Schüler unentgeltliche Schultransporte organisieren.
B.
Mit Schreiben vom 15. März 2002 stellte die Interessengruppe Schülertransport Oberstufe Dettighofen, vertreten durch X.________, bei der Oberstufengemeinde Hüttwilen (nachfolgend: OSG Hüttwilen) den Antrag, für die Oberstufenschüler und -schülerinnen der ehemaligen Ortsgemeinde Dettighofen einen Schülertransport einzurichten. Am 24. November 2002 unterbreitete die Oberstufenbehörde Hüttwilen der Gemeindeversammlung ein Kreditbegehren, wonach vorerst für zwei Jahre ein Schulbusbetrieb von anfangs Dezember 2002 bis Ende Februar 2003 und in der Folge ab den Herbstferien 2003 bis Ende Februar 2004 für die Kinder aus Dettighofen/Lanzenneunforn organisiert werden sollte. Die Stimmbürger der OSG Hüttwilen verwarfen jedoch diesen Antrag, was der Interessengruppe mit Schreiben vom 16. Dezember 2002 offiziell mitgeteilt wurde.
C.
Hiegegen erhob X.________ Rekurs beim Departement für Erziehung und Kultur des Kantons Thurgau. Mit Entscheid vom 6. Juni 2003 hiess das Departement die Beschwerde teilweise gut und entschied, die OSG Hüttwilen sei jeweils für die Zeit von Dezember bis Februar zur Bereitstellung eines Schülertransportes an denjenigen Tagen verpflichtet, an denen die Bewältigung des Schulwegs nicht möglich sei. Anstelle der Mittagstransporte könnten Mittagessen abgegeben werden.
D.
Mit Beschwerde an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau vom 27. Juni 2003 beantragte die OSG Hüttwilen die Aufhebung des Departementsentscheids. X.________ erhob ebenfalls Beschwerde und verlangte, die Beschwerdegegnerin zu verpflichten, für die Oberstufenschüler aus Dettighofen ganzjährig einen unentgeltlichen Transport nach Hüttwilen und zurück zu gewährleisten, wobei sie an Tagen mit ganztägigem Unterricht die Mittagstransporte auch durch einen organisierten Mittagstisch ersetzen könne.
Am 4. Februar 2004 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau die Beschwerde der OSG Hüttwilen ab und hiess die Beschwerde von X.________ teilweise gut. Es stellte fest, dass für das Winterhalbjahr am Morgen und am Abend ein Schülertransport einzurichten sei. Für den Mittag habe die OSG Hüttwilen während des ganzen Schuljahres entweder einen Schülertransport oder einen Mittagstisch zu organisieren.
E.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde an das Bundesgericht vom 19. April 2004 beantragt X.________ im Sinne seiner "Erwägungen" die Aufhebung des Entscheids des Verwaltungsgerichts vom 4. Februar 2004, soweit damit nicht die Beschwerde der OSG Hüttwilen abgewiesen wurde. Er beanstandet, dass das Verwaltungsgericht von den Schülern erwartet, dass sie im Sommerhalbjahr den anstrengenden und gefährlichen Schulweg wenigstens morgens und abends mit dem Fahrrad zurücklegen.
F.
Die OSG Hüttwilen und das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau beantragen, die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen. Das Departement für Erziehung und Kultur des Kantons Thurgau hat auf eine Stellungnahme verzichtet.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet ein kantonal letztinstanzlicher Endentscheid, der sich auf kantonales Recht stützt und gegen den auf Bundesebene nur die staatsrechtliche Beschwerde offen steht (Art. 86 Abs. 1 und Art. 87 in Verbindung mit Art. 84 Abs. 2 OG).
2.
2.1 Der Beschwerdeführer beruft sich in erster Linie auf Art. 19 BV und auf dessen Konkretisierung in der Thurgauer Schulgesetzgebung. Art. 19 BV ist im Zusammenhang mit Art. 62 BV zu lesen; diese Bestimmung übernimmt den bereits in Art. 27 Abs. 2 aBV enthaltenen Anspruch auf genügenden und unentgeltlichen Primarschulunterricht. Die bisherige Zuständigkeit des Bundesrates als eidgenössische Rechtsmittelinstanz für Streitigkeiten über die Unentgeltlichkeit des Primarunterrichtes (Art. 73 Abs. 1 lit. a Ziff. 2 VwVG, Fassung vom 20. Dezember 1968) ist per 1. März 2000 dahingefallen (AS 2000 416). Verletzungen des erwähnten Grundrechts sind heute mit staatsrechtlicher Beschwerde beim Bundesgericht geltend zu machen.
3.
3.1 Art. 19 BV gewährleistet als Grundrecht einen Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht. Nach Art. 62 BV sorgen die für das Schulwesen zuständigen Kantone für den ausreichenden, allen Kindern offen stehenden und an öffentlichen Schulen unentgeltlichen obligatorischen Grundschulunterricht. Der Unterricht muss grundsätzlich am Wohnort der Schüler erteilt werden; die räumliche Distanz zwischen Wohn- und Schulort darf den Zweck der ausreichenden Grundschulausbildung nicht gefährden. Aus dem in Art. 19 BV verankerten Anspruch ergibt sich, wie das Verwaltungsgericht in Anlehnung an die bisherige Rechtsprechung des Bundesrates zu Art. 27 Abs. 2 aBV und in Übereinstimmung mit der Lehre zutreffend angenommen hat, auch ein Anspruch auf Übernahme der Transportkosten, wenn der Schulweg wegen übermässiger Länge oder Gefährlichkeit dem Kind nicht zugemutet werden kann (Auer/Malinverni /Hottelier, Droit constitutionnel suisse, Bd II, NN 1523-25; Regula Kägi-Diener, St. Galler Kommentar zu Art. 19 BV, N 16, S. 280; Aubert/Mahon, Petit commentaire de la Constitution fédérale de la Confédération suisse du 18 avril 1999, 2003,N. 8, S.179; Häfelin/Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 5. Auflage, Zürich 2001, N. 926, S. 260; Herbert Plotke, Schweizerisches Schulrecht, 2. Auflage, 2003, S. 225 ff.; Urteil 2P.296/2000 vom 13. März 2001).
3.2 Es ist vorab Sache des kantonalen Gesetzgebers, die Voraussetzungen zu bestimmen, unter denen die Gemeinden einen Transportdienst zu organisieren oder Transportkosten ganz oder teilweise zu übernehmen haben. Das Unterrichtsgesetz des Kantons Thurgau enthält in § 34 eine entsprechende Regelung. Danach können die Schulbehörden für verkehrsmässig ungünstig liegende Gebiete, bei gefährlichen Schulwegen oder um Gemeinschaftslösungen zu ermöglichen für die Schüler unentgeltliche Zubringerdienste organisieren. Die Auslegung dieser kantonalen Gesetzesbestimmung wird vom Bundesgericht nur unter dem Gesichtspunkt der Willkür überprüft. Dass die vom Verwaltungsgericht festgelegte Lösung in willkürlicher Weise gegen die Normen des kantonalen Gesetzesrechtes verstosse, wird in der staatsrechtlichen Beschwerde indessen nicht, jedenfalls nicht mit einer Art. 90 Abs. 1 lit. b OG genügenden Begründung, geltend gemacht.
3.3 Zu prüfen bleibt, ob die mit dem angefochtenen Entscheid getroffene Regelung vor den unmittelbar aus Art. 19 BV folgenden minimalen Garantien standhält. Soweit Fragen des Sachverhaltes streitig sind, prüft das Bundesgericht die Feststellungen des Verwaltungsgerichts nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür. Mit freier Kognition entscheidet es dagegen, ob der von den Kindern zurückzulegende Schulweg diesen zumutbar ist oder ob aufgrund von Art. 19 BV die Gemeinde eine Transportmöglichkeit organisieren oder die Kosten des Transportes übernehmen muss. Soweit die Beurteilung von den besonderen örtlichen Verhältnissen abhängt, über welche die zuständigen kantonalen Behörden besser im Bilde sind, auferlegt sich das Bundesgericht allerdings Zurückhaltung und belässt den zuständigen Organen bei der Konkretisierung der Ansprüche aus Art. 19 BV einen gewissen Spielraum.
4.
4.1 Die Zumutbarkeit eines Schulweges bestimmt sich nach seiner Länge und der zu überwindenden Höhendifferenz, nach der Beschaffenheit des Weges und den damit verbundenen Gefahren sowie nach Alter und Konstitution der betroffenen Kinder (Plotke, a.a.O., S. 226; VPB 2000/64 Nr. 1 S. 17 E. 2.3 S. 25, mit Hinweisen). Das Verwaltungsgericht hat diese Kriterien im vorliegenden Fall in seine Beurteilung einbezogen und in zulässiger Weise gewürdigt.
4.2 Dass die Schüler aus der ehemaligen Ortsgemeinde Dettighofen für den Schulbesuch in Hüttwilen kein öffentliches Verkehrsmittel benützen können, wird von keiner Seite in Abrede gestellt. Sie müssen, soweit für sie kein besonderer Transportdienst eingerichtet wird, den Weg mit dem Fahrrad zurücklegen. Die Strecke beträgt gemäss Feststellung des Verwaltungsgerichts 8 km (nach Angabe der Gemeinde 7,2 km) und weist eine Höhendifferenz von 100 m auf. Die Schüler benötigen nach Schätzung des Verwaltungsgerichts für den Rückweg rund 40 Minuten, während der Hinweg zur Schule aufgrund des Gefälles schneller bewältigt werden kann. Das Verwaltungsgericht hat aufgrund der Länge des Weges sowie der witterungsbedingten Hindernisse im Winter den Schulweg für das Winterhalbjahr generell als unzumutbar erachtet und die Gemeinde verpflichtet, für diesen Zeitraum am Morgen und am Abend einen Schülertransport zu organisieren und während des ganzen Schuljahres am Mittag entweder ebenfalls einen Schülertransport oder den Schülern ein Mittagessen an der Schule anzubieten. Für das Sommerhalbjahr dagegen erachtete es das Verwaltungsgericht aufgrund der besseren Witterungs- und Lichtverhältnisse als den Schülern zumutbar, wenigstens einmal am Tage bzw. am Morgen und am Abend den Hin- und den Rückweg mit dem Fahrrad zurückzulegen. Da die Hinfahrt nach Hüttwilen aufgrund des Gefälles leichter und kürzer sei als der Rückweg, kämen die Schüler im Übrigen nicht allzu verschwitzt in der Schule an.
4.3 Der Beschwerdeführer erachtet vor allem die Länge der zu bewältigenden Wegstrecke von 8 km als unzumutbar und beruft sich auf eine nach seiner Auffassung in der Rechtsprechung festgelegte Obergrenze von 5 km, die vorliegend massiv überschritten werde. Das angerufene Werk von Plotke (S. 229 f.) erwähnt zwar eine Reihe von Beispielen, die sich mit dem vorliegenden Fall aber kaum vergleichen lassen. Der Regierungsrat des Kantons Aargau ist in einem Entscheid aus dem Jahre 1983 davon ausgegangen, dass ein Schulweg von etwa 5 km (zu Fuss oder mit dem Fahrrad) in der Regel noch als zumutbar erscheint (AGVE 1983 Nr. 19 S. 485 E. 3b S. 488). Dies wurde vom Verwaltungsgericht des Kantons Aargau in einem späteren Entscheid, jedenfalls bezüglich Schüler der Mittel- oder Oberstufe, bestätigt. Die Schulweglänge von 5 km gilt allenfalls nach aargauischer Praxis als Richtwert für die Anerkennung "notwendiger" Transportkosten im Sinne des kantonalen Schulgesetzes (AGVE 1986 Nr. 1986 S. 143 E. 1c S. 147; 1997 Nr. 50 S. 166 E. II/3b S. 167). Von einer in der Rechtsprechung allgemein festgelegten Obergrenze von 5 km kann jedoch nicht die Rede sein.
4.4 Zudem hängt die Zumutbarkeit des Schulweges, wie erwähnt, nicht allein von der Länge, sondern ebenfalls von der Höhendifferenz, der sonstigen Beschaffenheit des Weges, von dessen Gefährlichkeit und insbesondere auch vom Alter der Schüler ab. Der vom Beschwerdeführer geltend gemachte Höhenunterschied von rund 100 m fällt bei einer Strecke von 8 km, wenn sich die Steigung wie vorliegend ziemlich regelmässig auf die gesamte Länge des Schulweges verteilt, wenig ins Gewicht. Ferner besteht Einigkeit darüber, dass der fragliche Schulweg von den Kindern nicht zu Fuss, sondern mit dem Fahrrad zu bewältigen ist. Auch vom zeitlichen Aufwand her (40 Minuten für den beschwerlicheren Heimweg) kann der Schulweg nicht als unzumutbar erachtet werden, nachdem selbst für Kinder im Kindergartenalter ein halbstündiger Fussmarsch als zumutbar gilt (Plotke, a.a.O., S. 227). Im vorliegenden Fall handelt es sich gemäss Feststellung des Verwaltungsgerichts um Schüler im Alter von 13 bis 16 Jahren, denen - auch was die Bewältigung der Gefahren des Strassenverkehrs anbelangt - entsprechend mehr zugemutet werden darf als jüngeren Kindern, auf die sich die bei Plotke erwähnten Beispiele aus der Judikatur in erster Linie beziehen. Der Beschwerdeführer vermag schliesslich auch nicht darzutun, dass im Kanton Thurgau in vergleichbaren Fällen von den Rechtsmittelinstanzen ein wesentlich günstigerer Massstab angelegt worden wäre. Wenn das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau im vorliegenden Falle die Forderung auf Einrichtung eines Transportdienstes nicht vollumfänglich, sondern nur mit den dargelegten Einschränkungen anerkannt hat, mag dieser Entscheid eher streng erscheinen, doch hält er sich noch im Rahmen des den Kantonen in dieser Frage zuzugestehenden Spielraumes. Es kann daher weder von einer Verletzung des Willkürverbotes noch von einer Missachtung von Art. 19 BV gesprochen werden.
5.
Die staatsrechtliche Beschwerde erweist sich somit als unbegründet und ist abzuweisen.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1 OG). Zudem hat er der anwaltlich vertretenen Gemeinde Hüttwilen für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 159 Abs. 1 und 2 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.
3. Der Beschwerdeführer hat die Oberstufengemeinde Hüttwilen mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Departement für Erziehung und Kultur des Kantons Thurgau und dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 14. Oktober 2004
Im Namen der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: