BGer I 112/2003
 
BGer I 112/2003 vom 11.10.2004
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
I 112/03
Urteil vom 11. Oktober 2004
III. Kammer
Besetzung
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger; Gerichtsschreiberin Durizzo
Parteien
B.________, 1973, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Roger Lippuner, St. Gallerstrasse 5, 9471 Buchs SG,
gegen
IV-Stelle des Kantons Graubünden, Ottostrasse 24, 7000 Chur, Beschwerdegegnerin
Vorinstanz
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, Chur
(Entscheid vom 21. August 2002)
Sachverhalt:
A.
B.________, geboren 1973, lebt seit 1994 in der Schweiz und arbeitete als angelernter Hilfsmetzger, als er sich am 28. Mai 1998 beim Ausbeinen eine schwere Schnittverletzung am rechten Unterarm zuzog, bei welcher der Nervus und die Arteria ulnaris sowie mehrere Beugesehnen durchtrennt wurden. Seither ist er - als Rechtshänder - im Gebrauch der rechten Hand auch zufolge einer massiven Muskelatrophie erheblich eingeschränkt und leidet an starken Schmerzen. Eine Erwerbstätigkeit hat er nicht mehr aufgenommen.
Am 26. Februar 1999 meldete er sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Graubünden zog die Unfallakten bei, holte den Bericht des behandelnden Arztes Dr. med. M.________, Handchirurgischer Dienst des Spitals X.________ vom 17. Mai 1999 ein und liess den Versicherten in der Eingliederungsstätte der Rheuma- und Rehabilitationsklinik Y.________ beruflich (Bericht vom 7. Juli 2000) und durch das Ärztliche Begutachtungsinstitut ABI medizinisch abklären (Gutachten vom 12. Februar 2001). Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens sprach sie B.________ für die Zeit vom 1. Mai 1999 bis zum 31. Januar 2001 eine ganze und vom 1. Februar 2001 bis zum 31. Juli 2001 eine Viertelsrente bzw. bei Vorliegen eines wirtschaftlichen Härtefalles eine halbe Invalidenrente zu. Ab diesem Zeitpunkt bestehe nur noch ein (rentenausschliessender) Invaliditätsgrad von 37,01 % (Verfügungen vom 10. April 2002).
B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden mit Entscheid vom 21. August 2002 ab.
C.
B.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen. Er beantragt die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Abklärung und Durchführung geeigneter Eingliederungsmassnahmen, eventualiter Rentenneuberechnung; eventualiter sei ihm ab dem 1. Februar 2001 eine volle, subeventualiter eine halbe Rente zuzusprechen. Des Weiteren ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Während die IV-Stelle des Kantons Graubünden auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zum Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG; BGE 116 V 249 Erw. 1b), zu den medizinischen Massnahmen (Art. 12 IVG in der bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen Fassung) und zur Bemessung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG in der bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen Fassung; vgl. auch BGE 104 V 136 Erw. 2a und b) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen. Bezüglich der streitigen Invalidenrente ab dem 1. Februar 2001 ist zu ergänzen, dass der Anspruch entsprechend den allgemeinen intertemporalrechtlichen Regeln für die Zeit bis 31. Dezember 2002 auf Grund der bisherigen Rechtslage und ab diesem Zeitpunkt nach den neuen Normen des auf den 1. Januar 2003 in Kraft getretenen ATSG und dessen Ausführungsverordnungen zu beurteilen ist, da keine laufenden Leistungen im Sinne der übergangsrechtlichen Ausnahmebestimmung des Art. 82 Abs. 1 ATSG, sondern Dauerleistungen im Streit stehen, über welche noch nicht rechtskräftig verfügt worden ist (noch nicht in der Amtlichen Sammlung veröffentlichtes Urteil M. vom 5. Juli 2004, I 690/03, Erw. 1 mit Hinweis auf das ebenfalls noch nicht in der Amtlichen Sammlung publizierte Urteil L. vom 4. Juni 2004, H 6/04). Keine Anwendung finden die per 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Änderungen des IVG vom 21. März 2003 und der IVV vom 21. Mai 2003 (4. IV-Revision) sowie die damit einhergehenden Anpassungen des ATSG, da rechtsprechungsgemäss der Zeitpunkt des Verfügungserlasses (hier: 10. April 2002) die zeitliche Grenze der richterlichen Überprüfungsbefugnis bildet (BGE 121 V 366 Erw. 1b mit Hinweis; vgl. auch BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1, 356 Erw. 1, je mit Hinweisen). Die gesetzlichen Regelungen von Art. 8 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG (in Kraft seit 1. Januar 2003) und Art. 4 Abs. 1 IVG in der bis Ende 2002 gültigen Fassung entsprechen sich im Wesentlichen und die zum bisherigen Begriff der Invalidität in der Invalidenversicherung ergangene Rechtsprechung (vgl. statt vieler BGE 119 V 470 Erw. 2b, 116 V 249 Erw. 1b mit Hinweisen) behält unter der Herrschaft des ATSG weiterhin ihre Gültigkeit (noch nicht in der Amtlichen Sammlung veröffentlichtes Urteil A. vom 30. April 2004, I 626/03, Erw. 3.3 und 3.4). Art. 12 Abs. 1 IVG hat bis zum 31. Dezember 2003 keine Änderung erfahren (vgl. dazu auch Urteil B. vom 27. August 2004, I 670/03, Erw. 1.3). Gleiches gilt für die beruflichen Massnahmen gemäss Art. 15 ff. IVG.
2.
2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, dass ihm nach dem Grundsatz "Eingliederung vor Rente" zunächst berufliche, aber auch medizinische Eingliederungsmassnahmen hätten gewährt werden müssen. Die IV-Stelle hat mangels Eingliederungsbereitschaft des Versicherten lediglich über die Rente verfügt, was die Vorinstanz geschützt hat.
2.2 Rentenleistungen werden nur erbracht, wenn der Versicherte nicht oder bloss in ungenügendem Masse eingegliedert werden kann. Sowohl bei einer erstmaligen Prüfung des Leistungsgesuches wie auch im Revisionsfall hat die Verwaltung von Amtes wegen abzuklären, ob vorgängig der Gewährung oder Weiterausrichtung einer Rente Eingliederungsmassnahmen durchzuführen sind (BGE 108 V 212 Erw. 1d; AHI 1997 S. 38 Erw. 4a). Kommt die Verwaltung in einem konkreten Fall zum Schluss, dass Erfolg versprechende zumutbare Eingliederungsmassnahmen in Frage kommen, sind diese nach dem Grundsatz "Eingliederung vor Rente" zwingend anzuordnen (BGE 126 V 243 Erw. 5; AHI 2001 S. 154 Erw. 3b; vgl. auch Art. 28 Abs. 2 IVG in der bis Ende 2002 gültig gewesenen Fassung und neu Art. 7 ATSG; Ulrich Meyer-Blaser, Die Tragweite des Grundsatzes "Eingliederung vor Rente", in: René Schaffhauser/Franz Schlauri [Hrsg.], Rechtsfragen der Eingliederung Behinderter, St. Gallen 2000, S. 21 ff.). Die Pflicht der IV-Stelle, vor Gewährung einer Rente von Amtes wegen die Anordnung und Durchführung von allfälligen Eingliederungsmassnahmen abzuklären, beinhaltet die Verpflichtung, diese auch tatsächlich anzuordnen, falls sie notwendig und geeignet erscheinen, die Erwerbsfähigkeit des Versicherten wieder herzustellen, zu verbessern, zu erhalten oder ihre Verwertung zu fördern.
2.3 Der Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen nach Art. 8 Abs. 1 IVG setzt unter anderem die subjektive Eingliederungsbereitschaft des Versicherten voraus (AHI 2002 S. 108, ZAK 1991 S. 180 oben). Verwaltung und Vorinstanz haben gestützt auf die Berichte ihrer Abklärungsperson (vom 13. März und 24. Juli 2000 sowie vom 20. April 2001) sowie der Gutachter der Eingliederungsstätte der Rheuma- und Rehabilitationsklinik Y.________ (vom 7. Juli 2000), aber auch wegen der Äusserungen des Beschwerdeführers anlässlich der ärztlichen Untersuchungen angenommen, dass es dem Beschwerdeführer am Willen, sich ins Erwerbsleben einzugliedern, fehlt, und aus diesem Grund keine Eingliederungsmassnahmen angeordnet. Nach den unter Erwägung 2.2 dargelegten Grundsätzen hätte die Verwaltung jedoch vor Zusprechung einer Rente ein Mahn- und Bedenkzeitverfahren im Sinne von Art. 31 Abs. 1 IVG beziehungsweise neurechtlich gestützt auf Art. 21 Abs. 4 ATSG durchführen müssen (BGE 122 V 219 Erw. 4b mit Hinweisen), zumal der Beschwerdeführer trotz der vollständigen Arbeitsunfähigkeit im angestammten Beruf als Hilfsmetzger insbesondere auch angesichts seines jugendlichen Alters objektiv eingliederungsfähig ist. Die Sache ist zu diesem Zweck an die IV-Stelle zurückzuweisen.
3.
Da zuerst über den Anspruch auf berufliche Massnahmen befunden werden muss, kann über die hier streitige Rente ab 1. Februar 2001 noch nicht entschieden werden.
4.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Ausgang des letztinstanzlichen Verfahrens entsprechend steht dem Versicherten eine Parteientschädigung zu (Art. 135 OG in Verbindung mit Art. 159 Abs. 2 OG). Das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung ist damit gegenstandslos.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 21. August 2002 und die Verfügungen der IV-Stelle des Kantons Graubünden vom 10. April 2002, soweit sie die ab 1. Februar 2001 zugesprochene Invalidenrente betreffen, aufgehoben werden, und es wird die Sache an die Verwaltung zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Die IV-Stelle des Kantons Graubünden hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 11. Oktober 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Präsidentin der III. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: