BGer C 205/2003
 
BGer C 205/2003 vom 24.05.2004
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
C 205/03
Urteil vom 24. Mai 2004
III. Kammer
Besetzung
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger; Gerichtsschreiber Ackermann
Parteien
M.________, 1972, Beschwerdeführer,
gegen
Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA) des Kantons Aargau, Rain 53, 5000 Aarau, Beschwerdegegner
Vorinstanz
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau
(Entscheid vom 12. August 2003)
Sachverhalt:
A.
M.________, geboren 1972 und im Wertschriftenhandel bei einer Bank tätig, meldete sich am 11. März 2002 wegen Multipler Sklerose bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau nahm Abklärungen in medizinischer und erwerblicher Hinsicht vor (unter anderem Beizug mehrerer Berichte der Neurologischen Klinik des Spitals A.________) und sprach M.________ mit Verfügung vom 17. September 2002 bei einem Invaliditätsgrad von 100% mit Wirkung ab dem 1. April 2002 eine ganze Rente der Invalidenversicherung zu.
Am 8. Juli 2002 meldete sich M.________ bei der Arbeitslosenversicherung zum Taggeldbezug an. Unter Hinweis auf die ganze Rente der Invalidenversicherung überwies die Öffentliche Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau am 1. Oktober 2002 das Dossier an das Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Aargau (AWA), damit es über die Vermittlungsfähigkeit und die Anspruchsberechtigung befinde; Taggelder wurden nicht ausbezahlt. Nachdem das AWA die Akten der Invalidenversicherung beigezogen hatte, verneinte es den Taggeldanspruch, da M.________ wegen des Invaliditätsgrades von 100% nicht vermittelbar sei (Verfügung vom 27. November 2002).
Die Arbeitslosenkasse ihrerseits stellte M.________ mit zwei Verfügungen vom 30. Januar 2003 ab dem 1. September resp. dem 1. Oktober 2002 für jeweils fünf Tage in der Anspruchsberechtigung ein, da er sich nicht genügend um Arbeit bemüht habe, was durch Einspracheentscheid vom 10. März 2003 bestätigt worden ist.
B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau vereinigte die gegen die Verfügung von November 2002 und den Einspracheentscheid von März 2003 erhobenen Beschwerden; mit Entscheid vom 12. August 2003 wies es die Beschwerde gegen die Verfügung von November 2002 (Vermittlungsfähigkeit) ab und schrieb in der Folge die Beschwerde gegen den Einspracheentscheid von März 2003 (Einstellung in der Anspruchsberechtigung) als gegenstandslos ab.
C.
M.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und der Verwaltungsverfügung resp. des Einspracheentscheides seien ihm Taggelder der Arbeitslosenversicherung zuzusprechen.
Das AWA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Staatssekretariat für Wirtschaft auf eine Vernehmlassung verzichtet.
D.
Im Nachgang zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde reicht M.________ je eine Eingabe vom 22. Oktober und 14. November 2003 ein.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Das kantonale Gericht hat zu Recht festgehalten, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 nicht anwendbar ist, da in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), was hier auf das Jahr 2002 zutrifft. Daran ändert nichts, dass der - an die Stelle der Verfügung tretende (BGE 119 V 350 Erw. 1b mit Hinweisen) - Einspracheentscheid der Verwaltung in Sachen Einstellung erst im März 2003 ergangen ist. Weiter hat die Vorinstanz die für die Vermittlungsfähigkeit im Allgemeinen (Art. 8 Abs. 1 lit. f AVIG und Art. 15 Abs. 1 AVIG) und bezüglich Behinderter (vgl. dazu BGE 126 V 127 Erw. 3a sowie ARV 1999 Nr. 19 S. 106 Erw. 2) im Besonderen massgebenden Bestimmungen und Grundsätze (Art. 15 Abs. 2 AVIG Verbindung mit Art. 15 AVIV) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
2.
Streitig ist zunächst die Frage der Vermittelbarkeit. Das kantonale Gericht hat diese verneint, da die Kumulation der diversen Behinderungen des an Multipler Sklerose leidenden Versicherten "wohl faktisch zu einer Erwerbsunfähigkeit" führe. Der Beschwerdeführer weist demgegenüber darauf hin, dass er gemäss den in den Akten liegenden Arztberichten teilweise arbeitsfähig und somit nach Art. 15 Abs. 2 AVIG auch vermittelbar sei; der Grund seiner Arbeitslosigkeit liege denn auch allein in der schwierigen Lage am unausgeglichenen Arbeitsmarkt und der Tatsache, dass er nur eine Teilzeitstelle suche.
2.1 Im Bericht vom 22. April 2002 erachtet die Neurologische Klinik des Spitals A.________ den Versicherten in einer "anspruchsloseren Beschäftigung" als etwa 30% arbeitsfähig, während in der angestammten anspruchsvollen Tätigkeit im Wertschriftenhandel keine Arbeitsfähigkeit mehr bestehe. Damit liegt in leichten und anspruchslosen Büroarbeiten zwar eine Restarbeitsfähigkeit vor, jedoch weist die Konsiliarin für Neuropsychologie des Spitals A.________ in ihrem Bericht vom 26. Juli 2001 darauf hin, dass der Versicherte in solchen Tätigkeiten intellektuell unterfordert wäre, "was sich psychisch mit hoher Wahrscheinlichkeit kontraproduktiv auswirken würde." Die Frage der Arbeitsfähigkeit und damit diejenige der objektiven Vermittelbarkeit kann jedoch letztlich offen bleiben, denn es fehlt dem Beschwerdeführer an der subjektiven Vermittlungsbereitschaft, die auch bei Behinderten im Sinne des Art. 15 Abs. 3 AVIV notwendig ist (ARV 2000 Nr. 4 S. 21 Erw. 3b): Obwohl für die bisher ausgeübte anspruchsvolle Tätigkeit im Wertschriftenhandel eine volle Arbeitsunfähigkeit bestanden hat, beschränkten sich die Bewerbungen des Versicherten von Oktober bis Dezember 2002 auf drei Anfragen für qualifizierte Arbeitsstellen, welche ihm aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht mehr zumutbar gewesen sind (Art. 16 Abs. 2 lit. c AVIG). Bemühungen um - gemäss Angaben der Neurologischen Klinik des Spitals A.________ grundsätzlich mögliche - einfache Bürotätigkeiten sind dagegen weder belegt noch behauptet. Da der Beschwerdeführer nur ihm offensichtlich nicht zumutbare Arbeitsstellen gesucht hat, fehlt es - zumindest während des hier massgebenden Zeitraums bis Verfügungserlass im November 2002 - an der subjektiven Vermittlungsbereitschaft (vgl. ARV 1996/97 Nr. 19 S. 101 Erw. 3b) und in der Folge an der Vermittlungsfähigkeit (Art. 15 Abs. 1 AVIG).
2.2 Wegen der fehlenden Vermittlungsbereitschaft kann offen bleiben, ob - wie dies die Verwaltung unter Hinweis auf Ziff. B178 des Kreisschreibens des seco über die Arbeitslosenentschädigung geltend macht - der Bezug einer Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 100% die Vermittlungsfähigkeit immer ausschliesst oder ob trotz einer vollständigen Erwerbsunfähigkeit dennoch eine Vermittlungsfähigkeit im Sinn der Arbeitslosenversicherung vorliegen kann (vgl. ARV 1998 Nr. 15 S. 82 oben sowie ARV 1995 Nr. 12 S. 66) und die Weisung - entsprechend der Auffassung des Versicherten - gesetzwidrig ist.
2.3 In seiner nachträglichen Eingabe vom 14. November 2003 weist der Versicherte auf die mit der 4. IV-Revision neu eingeführte Dreiviertelrente der Invalidenversicherung hin. Diese Gesetzesnovelle ist jedoch erst auf den 1. Januar 2004 in Kraft getreten und deshalb für den vorliegenden Prozess unbeachtlich; im Weiteren ist die Anspruchsberechtigung in diesem Verfahren wegen mangelnder subjektiver Vermittlungsfähigkeit verneint worden (vgl. Erw. 2.1 hievor). Schliesslich ist der Beschwerdeführer darauf hinzuweisen, dass er bei Aufnahme einer Erwerbstätigkeit tatsächlich Beiträge an die Arbeitslosenversicherung bezahlen müsste. Entgegen seiner Annahme ist es jedoch nicht ausgeschlossen, dass er bei einer erneuten Arbeitslosigkeit Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung hätte, zumal die Frage der objektiven Vermittlungsfähigkeit offen gelassen worden ist (vgl. Erw. 2.1 hievor).
3.
Mangels Vermittlungsfähigkeit besteht kein Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung (Art. 8 Abs. 1 lit. f AVIG), so dass die Vorinstanz die Beschwerde gegen den Einspracheentscheid von März 2003 betreffend Einstellung in der Anspruchsberechtigung zu Recht als gegenstandslos abgeschrieben hat.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Öffentlichen Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau und dem Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt.
Luzern, 24. Mai 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Präsidentin der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
i.V.