BGer I 768/2001
 
BGer I 768/2001 vom 13.08.2002
[AZA 7]
I 768/01 Vr
IV. Kammer
Bundesrichter Rüedi, Ferrari und Frésard; Gerichtsschreiber
Hadorn
Urteil vom 13. August 2002
in Sachen
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
gegen
W.________, 1991, Beschwerdegegner, vertreten durch seine Eltern,
und
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern
Mit Verfügung vom 20. April 2001 lehnte die IV-Stelle Bern die Gewährung medizinischer Massnahmen für W.________ (geb. 25. Mai 1991) ab.
Die von den Eltern von W.________ hiegegen eingereichte Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 22. November 2001 gut. Es verpflichtete die IV-Stelle, medizinische Massnahmen zuzusprechen.
Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der kantonale Entscheid sei aufzuheben.
Die IV-Stelle schliesst auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während die Eltern von W.________ sich ohne konkretes Rechtsbegehren zur Sache äussern und einen Bericht der Erziehungsberatung vom 16. Januar 2002 ins Recht legen.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.- Das kantonale Verwaltungsgericht hat die gesetzlichen Voraussetzungen für den Anspruch Minderjähriger auf medizinische Massnahmen bei Geburtsgebrechen (Art. 13 Abs. 1 und 2 IVG; Art. 1 Abs. 1 und 2 GgV), namentlich bei Vorliegen eines angeborenen Psychoorganischen Syndroms (POS; Ziff. 404 GgV Anhang) sowie die dazu ergangene Rechtsprechung (BGE 122 V 113) richtig dargelegt, worauf verwiesen wird.
2.- Streitig und zu prüfen ist, ob die Voraussetzungen der Ziffer 404 GgV Anhang für die Leistungspflicht der Invalidenversicherung erfüllt sind. Während die Vorinstanz die rechtzeitige Diagnosestellung vor dem 25. Mai 2000 (an welchem Tag der Versicherte das 9. Altersjahr vollendet hat) und den rechtzeitigen Behandlungsbeginn bejaht, verneint das BSV beides.
a) Aus dem Bericht von Frau Dr. med. G.________, Kinderärztin FMH, speziell Kinderneurologie, vom 2. März 2001 ergibt sich, dass diese Ärztin die Diagnose eines POS anlässlich einer Untersuchung vom 11. Dezember 2000 gestellt und ab Januar 2001 eine Psychomotorik-Therapie veranlasst hat. Wird auf diese Angaben abgestützt, wären Diagnosestellung und Behandlungsbeginn verspätet erfolgt. Dr.
G.________ gibt indessen an, dass die Diagnose bereits im März 2000 von Frau R.________, Psychologin FSP bei der Erziehungsberatung, gestellt worden sei.
b) Diese führt im Bericht vom 26. März 2001 aus, sie habe den Versicherten anlässlich der Schulreifeabklärung im Mai 1998 kennen gelernt. Er sei schon im Kindergarten sehr stark aufgefallen. Bei der Standortbestimmung im April 1999 habe Frau R.________ die Mutter des Versicherten darauf angesprochen, dass ihr Kind deutliche Symptome eines POS zeige. Eine weitere Standortbestimmung im März 2000 habe ein unverändertes Bild gezeigt. "Für mich stellte ich hier klar die Diagnose POS", obwohl die Mutter diese Diagnose nicht habe akzeptieren können. Seit der Einschulung besuche der Versicherte zweimal in der Woche einen Spezialunterricht im heilpädagogischen Ambulatorium. Bei einem Schulbesuch im Oktober 2000 habe sich deutlich gezeigt, wie rastlos er arbeite und wie schnell seine Konzentration erschöpft sei. Nach einem nochmaligen Gespräch sei die Mutter bereit gewesen, ihren Sohn bei Frau Dr. med. G.________ anzumelden. Gemäss einem weiteren Bericht von Frau R.________ vom 16. Mai 2001 erhielt der Versicherte den erwähnten Spezialunterricht bei Frau B.________ schwerpunktmässig im psychomotorischen Bereich. Entgegen der IV-Stelle, wonach Frau B.________ nicht auf der Liste der anerkannten Psychomotorik-Therapeutinnen aufgeführt sei, verfüge diese sehr wohl über die notwendige Ausbildung.
c) Handelte es sich bei der Untersuchung 1999 erst um eine Vermutung, stand auf Grund der Untersuchung von 2000 die Diagnose POS für Frau R.________ fest. Im vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht neu eingereichten Bericht vom 26. Januar 2002 bestätigt diese den bisher dargelegten Sachverhalt. Die erst nach dem vollendeten
9. Altersjahr von Frau Dr. med. G.________ vorgenommenen Untersuchungen erhärteten die Diagnose. Gemäss der Rechtsprechung ist nicht ausgeschlossen, dass mit ergänzenden Abklärungen nach dem 9. Geburtstag nachweisbar ist, es habe bereits bei vollendetem 9. Altersjahr die komplette Symptomatik des Geburtsgebrechens Ziff. 404 GgV Anhang bestanden (BGE 122 V 123 Erw. 3c/cc). Bei den nach März 2000 durchgeführten Untersuchungen ging es somit nicht mehr darum, die Diagnose eines POS erstmals zu stellen, sondern um die beweismässige Prüfung, ob diese von Frau R.________ getroffene Diagnose auch zutraf. Indessen braucht die Frage der rechtzeitigen Diagnosestellung nicht entschieden zu werden, wie sich aus dem Folgenden ergibt.
d) Hinsichtlich der Behandlung ist dem Bericht von Frau B.________, Team SPM (Spezielle Pädagogische Massnahmen), vom 15. Mai 2001 zu entnehmen, dass der Versicherte ab September 1998 wöchentlich zwei Lektionen ausserhalb der Klasse erhalten hat. Dabei ging es um Übungen zur Förderung von Feinmotorik, Raumwahrnehmung und -orientierung, zur visuellen und taktilen Wahrnehmung, zum Erarbeiten eines Mengenbegriffes bis 10 bis 20, zur Orientierung im Zahlenraum bis 20 und zur Festigung der gelernten Buchstaben.
Ferner galt es, Möglichkeiten zu schaffen, dass der Versicherte seine Energie ausleben konnte. Diese Massnahmen erfolgten jedoch nicht als Behandlung eines POS, stand doch diese Diagnose im damaligen Zeitpunkt noch nicht fest.
Selbst Frau B.________ äusserte gemäss dem erwähnten Bericht erstmals im März 1999 einen Verdacht auf dieses Leiden. Eine eigentliche, ausdrücklich auf das POS gerichtete Behandlung ordnete trotz der vorbestehenden Behandlungsbedürftigkeit erst Frau Dr. med. G.________ ab Januar 2001 mit der Psychomotorik-Therapie an. Daher ist der Behandlungsbeginn nicht rechtzeitig erfolgt. Zwar haben die zum gegenteiligen Schluss führenden Erwägungen der Vorinstanz einiges für sich. Doch ist es aus Gründen der Rechtssicherheit nicht angezeigt, den Begriff des rechtzeitigen Behandlungsbeginns aufzuweichen.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
I.In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird
der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 22. November 2001 aufgehoben.
II.Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
III. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und der IV-Stelle Bern zugestellt.
Luzern, 13. August 2002
Im Namen des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Vorsitzende der IV. Kammer:
Der Gerichtsschreiber: