BGer K 106/1999
 
BGer K 106/1999 vom 29.01.2002
[AZA 7]
K 106/99 Vr
I. Kammer
Präsident Schön, Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Meyer und Frésard; Gerichtsschreiberin Kopp Käch
Urteil vom 29. Januar 2002
in Sachen
I.________, 1948, Beschwerdeführerin, vertreten durch ihren Ehemann,
gegen
Krankenkasse KPT, Tellstrasse 18, 3014 Bern, Beschwerdegegnerin,
und
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern
A.- Die 1948 geborene I.________ ist bei der Krankenkasse KPT (nachfolgend KPT) krankenversichert. Sie stellte der Krankenkasse verschiedene Zahnarztrechnungen für Behandlungen bei Dr. med. dent. M.________ im Zeitraum vom 12. Januar 1996 bis 7. April 1997 zu. Nach Konsultation ihres Vertrauenszahnarztes Dr. med. dent. W.________ hielt die KPT in ihrer Verfügung vom 22. August 1997 fest, dass an die zahnärztlichen Behandlungskosten seit 1. Januar 1996 aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung nur die Kosten der Kariesprophylaxe, der Fluorschiene und der Ernährungsberatung vergütet werden. An ihrem Standpunkt hielt sie mit Einspracheentscheid vom 27. Januar 1998 fest.
B.- Die dagegen erhobene Beschwerde, mit welcher I.________ sinngemäss die Aufhebung des Einspracheentscheids, die Einholung eines medizinischen Gutachtens und die Vergütung der Zahnarztrechnungen beantragen liess, wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern mit Urteil vom 22. April 1999 ab.
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt I.________ sinngemäss wiederum die Einholung einer medizinischen Expertise und die Übernahme der Kosten für die Zahnpflege ab Januar 1996 beantragen.
Die KPT schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.
D.- Am 28. März 2000 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht eine Expertengruppe mit der Erstellung eines zahnmedizinischen Grundsatzgutachtens im Zusammenhang mit der Leistungspflicht der Krankenkassen bei zahnärztlichen Behandlungen beauftragt. Um sicherzustellen, dass keine Widersprüche in der Rechtsprechung zu den Leistungsbestimmungen der Verordnung über Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (Krankenpflege-Leistungsverordnung [KLV]) ergehen, wurde neben anderen Beschwerdeverfahren auch das vorliegende Verfahren mit Verfügung vom 3. April 2000 sistiert. Das Grundsatzgutachten ging am 31. Oktober 2000 beim Gericht ein und wurde am 16. Februar 2001 mit den Experten erörtert. Am 21. April 2001 erstellten die Experten einen Ergänzungsbericht.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.- Nachdem das Grundsatzgutachten erstellt ist, kann die Sistierung des vorliegenden Verfahrens aufgehoben werden.
2.- a) Die Leistungen, deren Kosten von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung bei Krankheit zu übernehmen sind, werden in Art. 25 des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) in allgemeiner Weise umschrieben. Im Vordergrund stehen die Leistungen der Ärzte und Ärztinnen, dann aber auch der Chiropraktoren und Chiropraktorinnen sowie der Personen, die im Auftrag von Ärzten und Ärztinnen Leistungen erbringen.
Die Leistungen der Zahnärzte und Zahnärztinnen sind in der genannten Bestimmung nicht aufgeführt. Die Kosten dieser Leistungen sollen im Krankheitsfalle der obligatorischen Krankenpflegeversicherung nur in eingeschränktem Masse überbunden werden, nämlich wenn die zahnärztliche Behandlung durch eine schwere, nicht vermeidbare Erkrankung des Kausystems (Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG) oder durch eine schwere Allgemeinerkrankung oder ihre Folgen bedingt (Art. 31 Abs. 1 lit. b KVG) oder zur Behandlung einer schweren Allgemeinerkrankung oder ihrer Folgen notwendig ist (Art. 31 Abs. 1 lit. c KVG).
b) Gestützt auf Art. 33 Abs. 2 und 5 KVG in Verbindung mit Art. 33 lit. d der Verordnung über die Krankenversicherung (KVV) hat das Departement in der Verordnung über Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (Krankenpflege-Leistungsverordnung [KLV]) zu jedem der erwähnten Unterabsätze von Art. 31 Abs. 1 KVG einen eigenen Artikel erlassen, nämlich zu lit. a den Art. 17 KLV, zu lit. b den Art. 18 KLV und zu lit. c den Art. 19 KLV. In Art. 17 KLV werden die schweren, nicht vermeidbaren Erkrankungen des Kausystems aufgezählt, bei denen daraus resultierende zahnärztliche Behandlungen von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu übernehmen sind. In Art. 18 KLV werden die schweren Allgemeinerkrankungen und ihre Folgen aufgelistet, die zu zahnärztlicher Behandlung führen können und deren Kosten von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu tragen sind. In Art. 19 KLV schliesslich hat das Departement die schweren Allgemeinerkrankungen aufgezählt, bei denen die zahnärztliche Massnahme notwendigen Bestandteil der Behandlung darstellt.
c) In BGE 124 V 185 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht entschieden, dass die in Art. 17-19 KLV erwähnten Erkrankungen, deren zahnärztliche Behandlung von der sozialen Krankenversicherung zu übernehmen ist, abschliessend aufgezählt sind. Daran hat es in ständiger Rechtsprechung festgehalten (noch nicht in der Amtlichen Sammlung veröffentlichte Urteile M. vom 19. September 2001, K 73/98, und J. vom 28. September 2001, K 78/98).
3.- Unbestritten und aus den Akten ersichtlich ist, dass die Beschwerdeführerin an den Folgen von Speicheldrüsenresektionen, insbesondere an Xerostomie, leidet und dass daraus eine erhöhte Kariesanfälligkeit resultiert. Einig sind sich alle Beteiligten in der Qualifikation dieses Leidens als Speicheldrüsenerkrankung im Sinne von Art. 18 lit. d KLV. Streitig und zu prüfen ist, ob die Kosten für die zahnärztlichen Behandlungen in der Zeit ab 12. Januar 1996 bis 7. April 1997 von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu übernehmen sind.
4.- Gemäss Art. 31 Abs. 1 lit. b KVG in Verbindung mit Art. 18 lit. d KLV übernimmt die Versicherung die Kosten der zahnärztlichen Behandlungen, die durch eine Speicheldrüsenerkrankung oder ihre Folgen bedingt und zur Behandlung des Leidens notwendig sind.
a) Wie die Vorinstanz zutreffend dargelegt hat, löst Art. 31 Abs. 1 lit. b KVG in Verbindung mit Art. 18 KLV, obschon in diesen Bestimmungen nicht ausdrücklich erwähnt, analog zu Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG in Verbindung mit Art. 17 KLV nur bei nicht vermeidbaren Erkrankungen des Kausystems Pflichtleistungen aus. Nochmals zu betonen ist, dass vorliegend nicht die schwere Allgemeinerkrankung, sondern die Kausystemerkrankung unvermeidbar gewesen sein muss. Dies geht einerseits aus der parlamentarischen Debatte über Art. 31 KVG hervor, bei der die Mehrheit in den Räten die Auffassung vertrat, dass vermeidbare Erkrankungen des Kausystems, wie Karies, generell nicht zu den Pflichtleistungen der Krankenkassen gehören (vgl. Amtl. Bull. 1992 S 1301 f.; Amtl. Bull. 1993 N 1843 f.). Andrerseits ergeben auch Sinn und Zweck der Verordnungsbestimmung, dass der Grund für die Zuordnung zu den Pflichtleistungen darin zu sehen ist, dass die versicherte Person für die Kosten der zahnärztlichen Behandlung dann nicht soll aufkommen müssen, wenn sie an einer nicht vermeidbaren Erkrankung des Kausystems leidet, die durch eine schwere Allgemeinerkrankung oder ihre Folgen bedingt ist (vgl. Gebhard Eugster, Krankenversicherungsrechtliche Aspekte der zahnärztlichen Behandlung nach Art. 31 Abs. 1 KVG, in: LAMal - KVG, Recueil de travaux en l'honneur de la société suisse de droit des assurances, Lausanne 1997, S. 239 f.). Dieser Auslegung liegt somit der Gedanke zu Grunde, dass von einer versicherten Person eine genügende Mundhygiene erwartet wird. Diese verlangt Anstrengungen in Form täglicher Verrichtungen, namentlich die Reinigung der Zähne, die Selbstkontrolle der Zähne, soweit dem Laien möglich, in Form des Ganges zum Zahnarzt, wenn sich Auffälligkeiten am Kausystem zeigen, sowie in Form von periodischen Kontrollen und Behandlungen durch den Zahnarzt (einschliesslich einer periodischen professionellen Dentalhygiene). Sie richtet sich nach dem jeweiligen Wissensstand der Zahnheilkunde.
b) Was die Vermeidbarkeit im Sinne der obigen Ausführungen anbelangt, fällt darunter - wie die Vorinstanz ebenfalls zutreffend erwogen hat - alles, was durch eine genügende Mund- und Zahnhygiene vermieden werden könnte. Abzustellen ist dabei grundsätzlich auf eine objektive Vermeidbarkeit der Kausystemerkrankung. Massgebend ist demzufolge, ob beispielsweise Karies oder Parodontitis hätte vermieden werden können, wenn die Mund- und Zahnhygiene genügend gewesen wäre, dies ohne Rücksicht darauf, ob die versäumte Prophylaxe im Einzelfall als subjektiv entschuldbar zu betrachten ist (vgl. Gebhard Eugster, a.a.O., S. 251).
5.- a) Die Krankenkasse hat weder in der Verfügung und im Einspracheentscheid, noch in der Beschwerdeantwort und in der Duplik im Vorverfahren, noch in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde bestritten, dass die Beschwerdeführerin an Mundtrockenheit (Xerostomie) als Folge der Speicheldrüsenerkrankung leidet und dass damit eine erhöhte Kariesanfälligkeit besteht. Sie hat hingegen die Zahnschäden, für welche die Versicherte Kassenleistungen verlangt, als bei guter Mundhygiene vermeidbar bezeichnet. Ihrer Ansicht nach war die Mundhygiene der Beschwerdeführerin ungenügend, wären doch vier jährliche Kontrollen und Fluoridierungen angemessen und zumutbar gewesen. Aus den eingereichten Rechnungen für die Behandlungen ab 1. Januar 1996 (recte: 12. Januar 1996) sei jedoch ersichtlich, dass einzig am 28. März 1996 eine Fluoridierung und am 16. April 1996 eine
Schmelzätzung und Dentinvorbehandlung mit Haftvermittler als Kariesprophylaxe durchgeführt worden seien.
b) Die Beschwerdeführerin macht demgegenüber geltend, bei den Fällen von Art. 31 Abs. 1 lit. b KVG in Verbindung mit Art. 18 KLV könne Karies unvermeidbar sein. Zur sachkundigen Beantwortung der Frage der Vermeidbarkeit sei - wie bereits im kantonalen Verfahren beantragt - eine medizinische Expertise notwendig. Sie habe eine ordentliche Zahnpflege betrieben und sei stets darauf bedacht gewesen, die Mundschleimhäute nicht austrocknen zu lassen.
c) Die Vorinstanz hat sich der Auffassung der Beschwerdegegnerin, wonach die in Rechnung gestellten Zahnbehandlungen bei geeigneter Prophylaxe trotz der bestehenden Xerostomie mit Sicherheit vermeidbar gewesen wären, angeschlossen. Massgebendes Kriterium sei die objektive Unvermeidbarkeit. Die Vermeidbarkeit von Parodontitis und Karies werde damit in gewissem Sinne zu einer Vermutung. Zu einer geeigneten Prophylaxe gehöre in concreto nun aber, dass sie häufiger als nur zweimal innerhalb von 16 Monaten durchgeführt werde.
6.- Den Darlegungen und insbesondere der Schlussfolgerung von Krankenkasse und Vorinstanz kann nicht beigepflichtet werden.
a) Von einer "Vermutung" der Vermeidbarkeit von Karies kann nicht ausgegangen werden, auch nicht in "gewissem Sinne", wie das kantonale Gericht annimmt. Vielmehr gibt es Formen vermeidbarer und nicht vermeidbarer Karies. So hat der Verordnungsgeber mit der Aufnahme von Art. 18 lit. d KLV offensichtlich auch die Behandlung von Karies und andern Zahnschäden zur Pflichtleistung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung gemacht, gerade eben in der Erkenntnis, dass Speicheldrüsenerkrankungen und die daraus folgende Mundtrockenheit zu nicht vermeidbaren Zahnschäden führen können.
b) Die der Krankenkasse unterbreiteten Rechnungen weisen Zahnbehandlungen ab 12. Januar 1996 aus. Die erste der in den Rechnungen ausgewiesenen zahnärztlichen Verrichtungen ist das provisorische Zementieren einer Krone. Die von der Beschwerdegegnerin behauptete unzureichende Mundhygiene der Versicherten müsste vor diesem Zeitraum ausgewiesen sein.
c) Entscheidend kann sodann nicht sein, ob die Beschwerdeführerin eine weniger gute Mundhygiene gehabt hat, als von der Beschwerdegegnerin als nötig und zumutbar erachtet wird, sondern vielmehr, ob die Zahnbehandlungen bei der Speicheldrüsenerkrankung und der dadurch verursachten Mundtrockenheit mit erhöhter Kariesanfälligkeit durch eine genügende und zumutbare Mundhygiene hätten vermieden werden können. Ersteres würde nämlich auf eine Sanktionierung der Beschwerdeführerin hinauslaufen, indem sie wegen ungenügender Mundhygiene der Pflichtleistung selbst dann verlustig ginge, wenn die Zahnschäden trotz optimaler, d.h. genügender und zumutbarer Mundhygiene nicht vermeidbar wären.
d) Der behandelnde Zahnarzt attestiert der Versicherten eine gute Mundhygiene. Wird - wie oben dargelegt - auf eine objektive Vermeidbarkeit der Zahnschäden abgestellt, gehört dazu eine allgemein übliche genügende Mund- und Zahnhygiene (Erw. 4a). Dies will indessen nicht heissen, dass eine versicherte Person, die auf Grund ihrer Konstitution, durchgemachten Krankheiten oder durchgeführten Zahnbehandlungen eine erhöhte Anfälligkeit für Zahnerkrankungen hat, es mit der allgemein üblichen Mundhygiene bewenden lassen kann. Die Mundhygiene muss aber in jedem Fall sowohl in der täglichen Durchführung wie auch hinsichtlich des periodischen Ganges zum Zahnarzt und der Dentalhygiene in vernünftigem und zumutbarem Rahmen bleiben.
e) Ob die Schäden, für welche die Versicherte Leistungen der Krankenkasse begehrt, bei einer solchen Mundhygiene im Sinne von Erw. 6d vermeidbar gewesen wären, kann den Akten nicht entnommen werden. Da die Beantwortung der Frage Fachwissen erfordert, hat die Beschwerdegegnerin darüber unter Wahrung der Parteirechte ein Gutachten einzuholen. Dabei geht es um die Abklärung, welche direkten Zahnschäden, vor allem Karies, und welche Folgeschäden bei einer genügenden Mundhygiene im oben dargestellten Sinne vermeidbar gewesen wären.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
I.Die Sistierung wird aufgehoben.
II.Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 22. April 1999 und der Einspracheentscheid der Krankenkasse KPT vom 27. Januar 1998 aufgehoben werden und die Sache an die Krankenkasse KPT zurückgewiesen wird, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Leistungsanspruch neu verfüge.
III. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
IV.Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 29. Januar 2002
Im Namen des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der I. Kammer:
Die Gerichtsschreiberin: