BGer I 146/2000
 
BGer I 146/2000 vom 14.12.2000
[AZA 7]
I 146/00 Gb
IV. Kammer
Bundesrichter Borella, Rüedi und nebenamtlicher Richter
Bühler; Gerichtsschreiber Grünvogel
Urteil vom 14. Dezember 2000
in Sachen
R.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Christof Tschurr, Bellerivestrasse 59, Zürich,
gegen
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, Zürich, Beschwerdegegnerin,
und
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
A.- Die 1972 geborene R.________ meldete sich am 1. April 1996 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 19. August 1997 sprach ihr die IV-Stelle des Kantons Zürich mit Wirkung ab 1. Februar 1996 eine ganze einfache Invalidenrente nebst zwei ganzen Kinderrenten zu. Am 10. Oktober 1997 hob die IV-Stelle diese Verfügung wieder auf und verpflichtete die Versicherte, die im Jahre 1996 ausgerichteten Rentenbetreffnisse von Fr. 17'523.- zurückzuerstatten.
B.- Dagegen liess R.________ gleichentags Beschwerde erheben und beantragte die Aufhebung der Rückerstattungsverfügung.
Am 3. Dezember 1997 hob die IV-Stelle die angefochtene Verfügung auf, ehe sie am 18. März 1998 den Widerruf dieser Aufhebungsverfügung erklärte. Gleichzeitig schloss sie in der Vernehmlassung auf Abweisung der Beschwerde. Daraufhin führte R.________ auch gegen die Verfügung vom 18. März 1998 Beschwerde und beantragte deren Aufhebung.
Mit Entscheid vom 20. Januar 2000 wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die gegen die Verfügung vom 10. Oktober 1997 erhobene Beschwerde ab. Die Verfügung vom 18. März 1998 betrachtete es "als Rückzug des (in der Wiederwägung vom 3. Dezember 1997 sinngemäss enthaltenen) Antrags der Beschwerdegegnerin auf Gutheissung der Beschwerde", weshalb eine materielle Beurteilung der gegen diese Verfügung gerichteten Beschwerde unterbleiben könne.
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt R.________ beantragen, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei festzustellen, dass die IV-Stelle mit der Verfügung vom 3. Dezember 1997 rechtskräftig auf die Rückerstattung verzichtet habe und das Verfahren sei als gegenstandslos abzuschreiben; eventuell sei die Verfügung vom 18. März 1998 aufzuheben.
Während sich das Bundesamt für Sozialversicherung nicht vernehmen lässt, beantragt die IV-Stelle Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.- Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen ist die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts nicht auf die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt, sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG).
Unter Versicherungsleistungen im Sinne des Art. 132 OG sind Leistungen zu verstehen, über deren Rechtmässigkeit bei Eintritt des Versicherungsfalles befunden wird (BGE 122 V 136 E. 1, 120 V 448 Erw. 2a/bb). Darunter fällt nach ständiger Rechtsprechung auch die Rückforderung von Versicherungsleistungen, nicht jedoch der Erlass einer solchen Rückerstattungsschuld (BGE 112 V 100 Erw. 1b mit Hinweisen).
2.- a) Gemäss einem allgemeinen Grundsatz des Sozialversicherungsrechts kann die Verwaltung eine formell rechtskräftige Verfügung, welche nicht Gegenstand materieller richterlicher Beurteilung gebildet hat, in Wiedererwägung ziehen, wenn sie zweifellos unrichtig und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (BGE 122 V 21 Erw. 3a, 173 Erw. 4a, 271 Erw. 2, 368 Erw. 3, 121 V 4 Erw. 6, je mit Hinweisen).
b) Nach Art. 58 VwVG und der dazu ergangenen Rechtsprechung (vgl. SVR 1996 IV Nr. 93 S. 283 Erw. 4b/aa; ZAK 1992 S. 117 Erw. 5a mit Hinweisen) kann die Verwaltung bis zu ihrer Vernehmlassung an die Beschwerdeinstanz die angefochtene Verfügung in Wiedererwägung ziehen (Abs. 1). Sie eröffnet eine neue Verfügung ohne Verzug den Parteien und bringt sie der Beschwerdeinstanz zur Kenntnis (Abs. 2). Die Beschwerdeinstanz setzt die Behandlung der Beschwerde fort, soweit diese durch die neue Verfügung der Vorinstanz nicht gegenstandslos geworden ist (Abs. 3 Satz 1).
Diese Bestimmung findet nach Massgabe von Art. 1 Abs. 3 VwVG auf das Verfahren letzter kantonaler Instanzen zwar grundsätzlich keine Anwendung. Es ist indessen nicht bundesrechtswidrig, wenn die Kantone auf Grund von ausdrücklichen prozessualen Vorschriften oder einer sinngemässen Praxis ein dem Art. 58 VwVG entsprechendes Verfahren vorsehen (BGE 103 V 109 Erw. 2). Dabei haben die Kantone bei Anwendung eines solchen Verfahrens nicht nur nach Abs. 1, sondern auch in sinngemässer Anwendung der Abs. 2 und 3 von Art. 58 VwVG vorzugehen (ZAK 1992 S. 117 Erw. 5a, 1989 S. 310 Erw. 2a, 1986 S. 304 Erw. 5b mit Hinweisen).
3.- a) Obwohl die IV-Stelle zeitgleich mit der Einreichung der Vernehmlassung die angefochtene Verfügung vom 10. Oktober 1997 aufgehoben und damit den Rechtsbegehren der Beschwerdeführerin vollumfänglich entsprochen hat, sah die Vorinstanz von einer Abschreibung des Verfahrens infolge Gegenstandslosigkeit ab und fällte einen Sachentscheid in dieser Angelegenheit. Damit verkennt sie die Rechtsprechung zur Frage, wann eine das Verfahren beendende Gegenstandslosigkeit vorliege, wenn ein Kanton ein dem Art. 58 VwVG entsprechendes Verfahren anwendet, wie dies im Kanton Zürich unbestrittenermassen der Fall ist (vgl. Christian Zünd, Kommentar zum Gesetz über das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Diss. Zürich 1998, N 5 zu § 19).
Gemäss Rechtsprechung liegt nämlich dann eine verfahrensbeendende Gegenstandslosigkeit vor, wenn die lite pentente erlassene Verfügung den Anträgen der beschwerdeführenden Person entspricht, was vorliegend der Fall war. Einer materiellen Beurteilung der gegen die Verfügung vom 10. November 1997 gerichteten Beschwerde durch das kantonale Sozialversicherungsgericht war infolgedessen die (rechtliche) Grundlage entzogen. Vielmehr hätte es das Verfahren zufolge Gegenstandslosigkeit am Geschäftsprotokoll abschreiben müssen.
b) Umgekehrt bedeutet dies, dass die Vorinstanz die gegen die Verfügung vom 18. März 1998 gerichtete Beschwerde, welche den Widerruf der Aufhebungsverfügung vom 3. Dezember 1997 zum Gegenstand hatte, entgegen der von ihr vertretenen Auffassung einer materiellen Überprüfung hätte unterziehen müssen. Diese formelle Rechtsverweigerung (vgl.
BGE 124 V 133, 117 Ia 117 Erw. 3a, je mit Hinweisen) kann im Gegensatz zu einer nicht besonders schwerwiegenden Gehörsverletzung (vgl. BGE 125 V 371 Erw. 4c/aa, 124 V 392 Erw. 5 und 183 Erw. 4a, je mit Hinweisen) letztinstanzlich nicht geheilt werden. Daran ändert der Antrag des Versicherten, einen Sachentscheid in dieser Angelegenheit zu fällen, nichts (siehe auch Müller, in Kommentar aBV, N 91 zu Art. 4; Grisel, Traité de droit administratif, vol. I, S. 369). Die Vorinstanz wird das Versäumte nachzuholen haben.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne
teilweise gutgeheissen, dass der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts
des Kantons Zürich vom 20. Januar
2000 aufgehoben und festgestellt wird, dass die
am 10. November 1997 erhobene Beschwerde gegen die
gleichentags ergangene Verfügung gegenstandslos geworden
ist. Gleichzeitig wird das Sozialversicherungsgericht
des Kantons Zürich angewiesen, über die am 20. April 1998 eingereichte Beschwerde gegen die Verfügung
der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 18. März
1998 zu entscheiden.
II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
III. Die IV-Stelle des Kantons Zürich hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von
Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
IV. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 14. Dezember 2000
Im Namen des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer:
Der Gerichtsschreiber: