BGer 1P.505/2000
 
BGer 1P.505/2000 vom 01.11.2000
[AZA 0/2]
1P.505/2000/mks
I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
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1. November 2000
Es wirken mit: Bundesrichter Aemisegger, Präsident der
I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundesrichter Nay,
Bundesrichter Féraud und Gerichtsschreiber Störi.
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In Sachen
J.S.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Christian Clopath, Bahnhofstrasse 6, Klosters,
gegen
1. P.S.________,
2. X.________, Beschwerdegegner, beide vertreten durch Rechtsanwältin Martina Gorfer, c/o Anwaltsbüro Zinsli, Via Maistra 2, St. Moritz, Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden, Kantonsgericht von Graubünden, Beschwerdekammer,
betreffend
Art. 9 BV (Strafverfahren), hat sich ergeben:
A.- J.S.________ reichte am 22. Dezember 1998 bei der Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden eine Strafanzeige gegen P.S.________ und X.________ wegen Pfändungsbetruges im Sinne von Art. 163 StGB ein. Sie machte geltend, die Beiden hätten im von ihr gegen den Ersteren eingeleiteten Pfändungsverfahren Vermögenswerte verschwiegen.
Die Staatsanwaltschaft eröffnete am 5. Januar 1999 eine Strafuntersuchung gegen P.S.________ und X.________ wegen betrügerischen Konkurses und Pfändungsbetruges. Am 10. Januar 2000 stellte sie die Strafuntersuchung ein mit der Begründung, das P.S.________ und X.________ vorgeworfene Verhalten erfülle weder den objektiven noch den subjektiven Tatbestand von Art. 163 StGB.
J.S.________ focht die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft bei der Beschwerdekammer des Kantonsgerichts Graubünden an, welche auf die Beschwerde am 22. März 2000 nicht eintrat. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen an, es sei unklar, ob J.S.________ die für die Beschwerdeführung erforderliche unmittelbare Geschädigtenstellung zukomme. Das könne indessen offen bleiben, da es ihr auf jeden Fall an der dafür nach Art. 139 Abs. 1 der Strafprozessordnung des Kantons Graubünden vom 8. Juni 1958 (StPO) ebenfalls notwendigen Beschwer fehle. Ein rechtlich geschütztes Interesse von J.S.________ an der Beschwerdeführung könne nur darin bestehen, dass festgestellt würde, es seien tatsächlich Vermögenswerte in schuldhafter Weise verheimlicht worden, was zur Folge hätte, dass sie erneut betreibungsrechtliche Schritte einleiten könnte, um ihre Ansprüche aus dem Vermögen von P.S.________ zu befriedigen. Es liege nun ein rechtskräftiges Urteil des Kantonsgerichtes Genf vom 12. Januar 1999 vor, nach welchem J.S.________ verpflichtet werde, P.S.________ Fr. 3'651'142.-- nebst Zinsen zu bezahlen. Dieser Betrag sei rund 30 Mal höher als jener, den J.S.________ in Betreibung gesetzt habe. Diese sei daher durch die angefochtene Verfahrenseinstellung nicht mehr beschwert, weil ihr Vermögen dadurch nicht vermindert werde. Auch eine Vermögensgefährdung - was für die Erfüllung des Tatbestandes von Art. 163 StGB genügen würde - falle ausser Betracht, da ihrer Forderung eine weitaus grössere von P.S.________ gegenüberstehe. Sie sei daher nicht beschwert und habe kein aktuelles, praktisches Interesse an der Anfechtung der Einstellungsverfügung, weshalb auf die Beschwerde nicht einzutreten sei.
B.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 22. August 2000 wegen Verletzung von Art. 9 BV und Rechtsverweigerung beantragt J.S.________, den Entscheid der Beschwerdekammer des Kantonsgerichts vom 22. März 2000 aufzuheben. Ausserdem ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
Zur Begründung führt sie an, der angefochtene Entscheid sei im Ergebnis völlig unhaltbar, indem er verhindere, dass sie ihre (von einem französischen Gericht festgesetzten) Alimente auf dem Betreibungsweg einfordern könne.
Das Kantonsgericht setze stillschweigend voraus, dass P.S.________ berechtigt sei, seine Forderung mit ihrer Alimentenforderung zu verrechnen. Das sei keineswegs der Fall.
Das französische Recht schliesse eine solche Verrechnung gänzlich, das schweizerische Recht insofern aus, als die Alimente für den Unterhalt unentbehrlich seien. Das sei der Fall, da sie durch das Ausbleiben der Alimente in eine Notlage gerate. Dies habe das Justiz-, Polizei- und Sanitätsdepartement des Kantons Graubünden denn auch bewogen, ihr in einem anderen Verfahren die unentgeltliche Prozessführung zu gewähren.
C.- Die Staatsanwaltschaft und das Kantonsgericht verzichten unter Hinweis auf den angefochtenen Entscheid auf Vernehmlassungen.
P.S.________ und X.________ beantragen, die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen. Sie machen u.a.
geltend, J.S.________ habe sich seit 1989 zu Lasten von P.S.________ um weit über eine Million Schweizer Franken bereichert und diesen Betrag nicht zurückbezahlt. Es sei daher keineswegs erwiesen, dass sie zur Deckung ihres Notbedarfs auf die in Betreibung gesetzten Alimentenforderungen angewiesen sei, sodass nach Schweizer Recht eine Verrechnung mit der Gegenforderung von P.S.________ zulässig sei. Eine Anrufung des französischen Verrechnungsverbotes wäre rechtsmissbräuchlich, da eine Verrechnung im Sinne von J.S.________ läge, die dann nicht mehr den gesamten Betrag der unrechtmässigen Bereicherung zurückerstatten müsste.
P.S.________ sei zudem gerade deswegen nicht im Stand gewesen, die Alimentenforderungen von J.S.________ vollumfänglich zu erfüllen, weil diese ihm die dafür notwendigen Vermögenswerte unrechtmässig entzogen habe.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Nach ständiger Praxis des Bundesgerichts ist die durch eine angeblich strafbare Handlung Geschädigte grundsätzlich nicht legitimiert, gegen die Einstellung eines Strafverfahrens staatsrechtliche Beschwerde zu erheben, weil der Strafanspruch dem Staat zusteht und die Geschädigte an der Verfolgung des Täters nur ein mittelbares oder tatsächliches, aber kein rechtliches Interesse im Sinn von Art. 88 OG hat (BGE 108 Ia 97 E. 1 mit Hinweisen). Falls ihr im kantonalen Verfahren Parteistellung zukam, kann sie jedoch unbekümmert um die fehlende Legitimation in der Sache selbst die Verletzung von Verfahrensrechten geltend machen, deren Missachtung eine formelle Rechtsverweigerung darstellt (BGE 114 Ia 307 E. 3c mit Hinweisen).
Die Beschwerdeführerin, bei der die Beschwerdekammer des Kantonsgerichts nicht abschliessend prüfte, ob sie als Geschädigte zu betrachten sei, ist zur Rüge befugt, dieses habe ihr willkürlich die prozessuale Beschwer abgesprochen.
Da die kantonale Beschwerdekammer mangels prozessualer Beschwer auf ihre Beschwerde nicht eintrat, sie also materiell nicht beurteilte, macht sie damit eine formelle Rechtsverweigerung geltend. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, sodass auf die Beschwerde einzutreten ist.
2.- a) Nach der Begründung im angefochtenen Entscheid hat die Beschwerdeführerin kein schutzwürdiges Interesse an der Anfechtung der Einstellungsverfügung, da sie keine Aussicht habe, ihren geschiedenen Mann erfolgreich weiter zu betreiben, nachdem dessen Gegenforderung weit grösser sei als die von ihr geltend gemachten Alimentenforderungen.
Diese Argumentation setzt, worin sich auch Beschwerdeführerin und Beschwerdegegner einig sind, voraus, dass die Forderungen verrechenbar sind.
Zur Frage der Verrechenbarkeit der Forderungen äussert sich die Beschwerdekammer des Kantonsgerichts im angefochtenen Entscheid nicht, sondern setzt sie stillschweigend voraus. Ob Verrechenbarkeit besteht, ist jedoch zweifelhaft und hängt von verschiedenen rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen ab, die die kantonale Instanz nicht geprüft hat. So ist beispielsweise offen, ob schweizerisches oder französisches Recht zur Anwendung gelangt, und in tatsächlicher Hinsicht fehlen Abklärungen, ob die allfällige Geltendmachung eines Verrechnungsverbotes durch die Beschwerdeführerin am Rechtsmissbrauchsverbot scheitern könnte, wie die Beschwerdegegner geltend machen.
b) Die kantonale Beschwerdekammer ist damit offensichtlich zu Unrecht auf die kantonale Beschwerde mit der Begründung nicht eingetreten, die Beschwerdeführerin könne die Alimentenforderungen gegen ihren Ehemann nicht mit Aussicht auf Erfolg weiter in Betreibung setzen, weil dieser eine weitaus höhere Gegenforderung gegen sie habe. Diese Gegenforderung lässt eine weitere Betreibung nicht als aussichtslos erscheinen, wenn sie nicht verrechenbar ist. Die Beschwerdekammer des Kantonsgerichts verfiel in Willkür, indem sie, obwohl dies offensichtlich nicht feststeht, implizit von der Verrechenbarkeit der Gegenforderung ausging, und gestützt darauf eine Aussichtslosigkeit einer weiteren Betreibung annahm sowie der Beschwerdeführerin deswegen die prozessuale Beschwer absprach. Im Ergebnis beging sie mit dem angefochtenen Nichteintretensentscheid eine formelle Rechtsverweigerung. Die Rüge ist begründet.
Die staatsrechtliche Beschwerde ist danach gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben.
3.- Bei diesem Ausgang des Verfahrens werden die Beschwerdegegner kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1 OG). Sie haben der Beschwerdeführerin ausserdem eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 159 Abs. 1 und 2 OG). Bei diesem Ausgang wird das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.- Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Entscheid der Beschwerdekammer des Kantonsgerichts Graubünden vom 22. März 2000 aufgehoben.
2.- Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird den Beschwerdegegnern unter solidarischer Haftung auferlegt.
3.- Die Beschwerdegegner haben der Beschwerdeführerin unter solidarischer Haftung eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen.
4.- Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden und dem Kantonsgericht von Graubünden, Beschwerdekammer, schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 1. November 2000
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
Der Präsident:
Der Gerichtsschreiber: