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Original
 
[AZA]
I 605/99 Vr
III. Kammer
Bundesrichter Schön, Spira und Rüedi; Gerichtsschreiber
Fessler
Urteil vom 19. Januar 2000
in Sachen
R.________, 1994, Beschwerdeführer, vertreten durch seine
Mutter A.________, und diese vertreten durch Dr. med.
G.________,
gegen
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, Zürich,
Beschwerdegegnerin,
und
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
A.- Im September 1996 ersuchten A.________ die Inva-
lidenversicherung u.a. um "Pflegebeiträge an hilflose
Minderjährige" für ihren seit seiner Geburt am 22. April
1994 an multiplen Gebrechen leidenden Sohn R.________. Nach
Einholung eines Berichts beim Hausarzt Dr. med. G.________,
Spezialarzt FMH für Kinder und Jugendliche, und nach Ab-
klärung der Verhältnisse an Ort und Stelle sprach die IV-
Stelle des Kantons Zürich mit Verfügung vom 15. Mai 1997
dem Versicherten für die Zeit ab 1. April 1996 bis längs-
tens 30. April 2012 (18. Altersjahr) einen Pflegebeitrag
für eine Hilflosigkeit mittleren Grades zu. Dieser Ver-
waltungsakt blieb unangefochten.
Mit Schreiben vom 2. September 1997 beantragte
A.________ eine höhere Entschädigung, da R.________ zwi-
schenzeitlich schwer hilfsbedürftig geworden sei. Auf Grund
der Stellungnahme des Dr. med. G.________ (Bericht vom
25. September 1997) wies die IV-Stelle das Gesuch nach
Durchführung des Vorbescheidverfahrens u.a. mit der Be-
gründung ab, der Hausarzt mache keine neuen, nicht schon
aktenkundigen Angaben (Verfügung vom 28. Oktober 1997).
B.- Die von Dr. med. G.________ namens und auftrags
der Eltern von R.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies
das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich nach
zweifachem Schriftenwechsel mit Entscheid vom 14. September
1999 ab.
C.- A.________ lässt durch Dr. med. G.________ Verwal-
tungsgerichtsbeschwerde führen und zur Hauptsache die Zu-
sprechung eines Pflegebeitrages für schwere Hilflosigkeit
spätestens ab dem Alter von drei Jahren beantragen.
Die IV-Stelle verzichtet auf eine Stellungnahme und
einen bestimmten Antrag zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Das Bundesamt für Sozialversicherung hat sich nicht ver-
nehmen lassen.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.- In formeller Hinsicht wird dem kantonalen Sozial-
versicherungsgericht eine unzulässige Rechtsverzögerung
vorgeworfen, "da dieser Fall in unverantwortlich langer
Weise dahingezogen wurde". Auf diese Rüge ist mangels eines
schutzwürdigen aktuellen und praktischen Feststellungs-
interesses nicht einzutreten (Art. 103 lit. a in Verbindung
mit Art. 132 OG; vgl. SVR 1998 UV Nr. 11 S. 32 Erw. 5a und
b mit Hinweisen auf Rechtsprechung und Lehre).
2.- Im angefochtenen Entscheid werden die Rechtsgrund-
lagen für die Beurteilung des Anspruchs Minderjähriger auf
Pflegebeiträge entsprechend dem Grad ihrer Hilflosigkeit
(Art. 20 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 42 Abs. 2 IVG
und Art. 36 IVV sowie Art. 13 Abs. 1 IVV in der bis
31. Dezember 1997 gültig gewesenen Fassung; BGE 113 V 18 f.
Erw. a und ZAK 1989 S. 171 f. Erw. 2a und b) zutreffend
dargelegt. Richtig sind auch die Ausführungen zur Revision
des Pflegebeitrages nach Massgabe der sinngemäss anwend-
baren Art. 41 IVG und Art. 87 ff. IVV (BGE 113 V 17). Da-
rauf wird verwiesen. Zu ergänzen ist, dass die gesetzliche
Ordnung und die Natur der Sache der Verwaltung bei der Wür-
digung der Umstände des Einzelfalles für die Ermittlung des
Grades der Hilflosigkeit einen weiten Ermessensspielraum
belassen, sofern der massgebende Sachverhalt rechtsgenüg-
lich abgeklärt worden ist (BGE 113 V 19 Erw. a, 98 V 25
Erw. 2 mit Hinweisen).
3.- Gemäss Bericht der Kinderklinik des Spitals
Y.________, Abteilung Wachstum und Entwicklung, vom
3. Januar 1997 besteht bei R.________ eine schwere Enzepha-
lopathie und Mikrozephalie bei zunehmender Tetraspastizität
und ausgeprägter Rumpfhypotonie sowie ein Kryptorchismus
beidseits. Im Weitern liegt ein Strabismus convergens mono-
lateralis rechts vor (Bericht Frau Dr. med. F.________,
Augenärztin FMH, vom 24. Mai 1996). Auf Grund der Erhebun-
gen ihres Abklärungsdienstes an Ort und Stelle (Berichte
vom 18. Februar und 25. April 1997) stufte die IV-Stelle
die Hilflosigkeit R.________'s als mittelschwer ein und
erliess am 15. Mai 1997 eine entsprechende Verfügung.
Es ist unbestritten und wird auch durch den Bericht
des Dr. med. G.________ vom 25. September 1997 belegt, dass
die Verhältnisse bis zu diesem Zeitpunkt keine wesentliche
Änderung erfahren hatten und insofern die Voraussetzungen
für die Anpassung (materielle Revision) des Pflegebeitrages
unter Annahme einer nunmehr schweren Hilflosigkeit bei Er-
lass der zweiten Verfügung am 28. Oktober 1997 nicht er-
füllt waren. Es bestehen im Übrigen keine Anhaltspunkte,
dass die IV-Stelle das Gesuch vom 2. September 1997, wel-
ches damit begründet wurde, R.________ sei "zwischenzeit-
lich schwer hilfsbedürftig geworden", auch unter wieder-
erwägungsrechtlichem Gesichtswinkel geprüft hat (vgl. BGE
122 V 368 Erw. 3, 117 V 8).
4.- Das kantonale Gericht hat unter materiell revi-
sionsrechtlichem Gesichtswinkel richtig auch geprüft, ob
"durch das zunehmende Alter" der Grad der Hilflosigkeit
anders als ursprünglich zu beurteilen ist. Denn nach der
Rechtsprechung ist für die Bemessung der Hilflosigkeit in
erster Linie der Mehraufwand an Hilfeleistung und persön-
licher Überwachung im Vergleich zu einem nicht invaliden
Minderjährigen gleichen Alters massgebend. Dabei ist der
Grad der Hilflosigkeit nicht nur rein quantitativ nach dem
notwendigen Zeitaufwand der Pflege und Überwachung zu er-
mitteln, sondern es sind auch die Art der Betreuung sowie
der Umfang der Mehrkosten gebührend zu würdigen (BGE 113 V
19 Erw. a und ZAK 1989 S. 172 Erw. 2b).
a) Die Vorinstanz hat den Revisionsgrund der relati-
ven, an der Entwicklung eines gleichaltrigen gesunden Kin-
des gemessenen Änderung im Sinne der Erhöhung und/oder In-
tensivierung des Pflege-, Betreuungs- und Überwachungsauf-
wandes im vorliegenden Fall verneint. Zwar mache ein sol-
ches Kind im Alter zwischen drei und dreieinhalb Jahren in
seiner Entwicklung einige massgebliche Fortschritte. Diese
seien aber nicht derart, dass es bereits in sämtlichen all-
täglichen Lebensverrichtungen nicht mehr auf regelmässige
und erhebliche Hilfe Dritter angewiesen wäre. Jedenfalls
aber benötige auch ein durchschnittlich entwickeltes gesun-
des dreieinhalbjähriges Kind noch der dauernden persönli-
chen Überwachung. Darin unterscheide es sich nicht von
einem behinderten Kind, auch wenn die Art der Überwachung
bei gesunden und bei behinderten Kindern mitunter verschie-
den ausgestattet sein möge. Allein aus diesem Grund könne
der Versicherte auch im Revisionszeitpunkt nicht als
schwergradig hilflos betrachtet werden.
b) Es kann offen gelassen werden, ob der von der IV-
Stelle ursprünglich (noch) nicht als rechtserheblich ein-
gestufte Mehraufwand in den Bereichen Körperpflege und Not-
durftverrichtung ein halbes Jahr später anders zu würdigen
ist. Dabei wird nicht verkannt, dass, wie in der Verwal-
tungsgerichtsbeschwerde insoweit richtig ausgeführt wird,
"sich die Schere zwischen einem schwerstbehinderten Kind
und einem gesunden Kind in diesem Alter jeden Monat sicht-
bar mehr öffnet". Selbst wenn R.________ (spätestens) bei
Erlass der Verfügung vom 28. Oktober 1997, mit dreieinhalb
Jahren also, in Bezug auf die erwähnten beiden alltäglichen
Lebensverrichtungen im Vergleich mit einem gleichaltrigen
gesunden Kind als invaliditätsbedingt hilflos zu betrachten
wäre, genügte dies für die Bejahung schwerer Hilflosigkeit
im Sinne von Art. 36 Abs. 1 IVV nicht. Denn entgegen der
offenbaren Auffassung des Dr. med. G.________ und auch im
Unterschied zur Rechtslage bei volljährigen Versicherten
(vgl. BGE 107 V 145 und ZAK 1990 S. 46 Erw. 2c) kommt dem
Gesichtspunkt der Überwachungsbedürftigkeit für die Bemes-
sung des Hilflosigkeitsgrades bei Minderjährigen eine grös-
sere Bedeutung zu (vgl. Erw. 4 Ingress hievor). In diesem
Sinne führte das Eidgenössische Versicherungsgericht im
Falle eines schwer gelähmten, epileptischen und erblindeten
Buben anknüpfend an die Tatsache, dass dieser "meistens
apathisch im Bett" liegt, aus (vgl. ZAK 1970 S. 490 f.
Erw. 2a) : "Daher ist ständige persönliche Überwachung des
Knaben nicht notwendig, sondern es sind periodische Kon-
trollen angezeigt. Bei dieser Bewegungsarmut und Apathie
dürfte der zur Zeit des Erlasses der angefochtenen Verfü-
gung fünfjährige Knabe die Mutter unter dem Gesichtspunkt
der blossen Überwachung weniger beanspruchen als ein gesun-
des Kind im gleichen Alter. Dagegen ist zweifellos die
Betreuung und Pflege dieses gebrechlichen Kindes hinsicht-
lich der notwendigen Lebensverrichtungen, namentlich bei
der Körperpflege, der Nahrungsaufnahme und der Besorgung
der Notdurft, bedeutend zeitraubender als bei einem gesun-
den gleichaltrigen Kind. Dabei ist besonders auch an den
Zeitaufwand für das tägliche Turnen, für die Arztbesuche
und die Pflegeberatung zu denken." Mit der weiteren Begrün-
dung, dass die Betreuungskosten nicht als ausserordentlich
hoch anzusehen seien und auch keine Aufwendungen für stän-
diges Pflegepersonal entstünden, widersprach das Eidgenös-
sische Versicherungsgericht der damaligen Vorinstanz, wel-
che eine Hilflosigkeit schweren Grades bejaht hatte, und
anerkannte, wie zuvor die Verwaltung, lediglich eine mit-
telschwere Hilflosigkeit. Hinzuweisen ist sodann auf den in
ZAK 1989 S. 170 beurteilten Fall der C.H., eines (im Verfü-
gungszeitpunkt) zweieinhalbjährigen Mädchens mit schwersten
auf eine Hirnschädigung zurückzuführenden Behinderungen
(spastische Tetraparese mit Rumpfhypotonie, psychomotori-
scher Entwicklungsrückstand und zerebrale Bewegungsstörung
sowie Epilepsie). Hier bejahte das Eidgenössische Versiche-
rungsgericht bei feststehender Hilfsbedürftigkeit in allen
sechs alltäglichen Lebensverrichtungen auch die Notwendig-
keit einer im Vergleich zu einem gleichaltrigen gesunden
Kind verstärkten Überwachung, weil sich "C.H. (...) durch
ihre starke Reflextätigkeit in eine Zwangsstellung manöv-
rieren kann, welche den Schluckvorgang blockiert, was zum
Erbrechen und damit zu einer Erstickungsgefahr führen kann"
(ZAK 1989 S. 174 Erw. 3b).
Vorliegend ist ein derartiger erhöhter Überwachungs-
aufwand nicht aktenkundig. Wenn in diesem Zusammenhang in
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde erstmals vorgebracht
wird, R.________ habe, wenn er nicht dauernd beschäftigt
werde, eine grosse Tendenz, sich in seine rechte Hand zu
beissen, was schon zu blutigen, zum Teil eitrigen Wunden
geführt habe, finden sich weder in den ärztlichen Berich-
ten, insbesondere nicht in demjenigen von Dr. med.
G.________ vom 25. September 1997, noch in den Berichten
des Abklärungsdienstes der IV-Stelle vom 18. Februar und
25. April 1997 entsprechende Hinweise. Es ist daher be-
weisrechtlich davon auszugehen, dass diese neue Tatsachen-
behauptung die Zeit nach Verfügungserlass betrifft und
somit hier nicht zu berücksichtigen ist (BGE 121 V 366
Erw. 1b mit Hinweisen).
c) Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass nicht
ein für allemal, auch nicht im Sinne einer Regel, abstrakt
gesagt werden kann, ab welchem Alter ein schwer (st) behin-
dertes Kind spätestens als in schwerem Grade hilflos zu
betrachten ist. Die gegenteilige offenbar von Dr. med.
G.________ geteilte Auffassung liefe auf eine im Gesetz
nicht vorgesehene und auch grundsätzlich unzulässige
antizipierte Festlegung des Hilflosigkeitsgrades hinaus
(vgl. BGE 119 V 471 Erw. 2b; vgl. auch ZAK 1989 S. 173
Erw. 3a). Vielmehr hat die Beurteilung der Hilflosigkeit
- im Vergleich mit einem gleichaltrigen gesunden Kind -
immer auf Grund der konkreten Umstände des Einzelfalles,
insbesondere unter Berücksichtigung des invaliditätsbe-
dingten, objektiv notwendigen Aufwands für die Überwachung
des behinderten Kindes (in diesem Sinne schon ZAK 1970
S. 286 unten und S. 490 Erw. 1c) zu erfolgen. Damit ist
schliesslich auch der auf rechtsgleiche Behandlung zielende
Einwand entkräftet, dass zwei ebenso schwer handicapierten
Kindern ein Pflegebeitrag für schwere Hilflosigkeit zuge-
sprochen worden sei.
d) Nach dem Gesagten ist der angefochtene Entscheid
rechtens.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
I.Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, so-
weit darauf einzutreten ist.
II.Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
III.Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversiche-
rungsgericht des Kantons Zürich, der Ausgleichskasse
des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialver-
sicherung zugestellt.
Luzern, 19. Januar 2000
Im Namen des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der III. Kammer:
Der Gerichtsschreiber: